Freitag, 9. Mai 2008

Hospital de Órbigo (1119 Einwohner), 819 m üdM, Provinz León

25. Etappe bis Santa Catalina de Somoza, 25,8 km

Gegen halb zehn mache ich mich nach einer ruhigen Nacht frohen Mutes auf den Weg nach Santa Catalina de Somoza. Ich muss zunächst den einen Kilometer zurück ins Ortsinnere von Hospital de Órbigo, um ordnungsgemäß auf dem Camino Francés weiterlaufen zu können. Ich zwinge mich dazu, nicht über den zusätzlichen Kilometer nachzudenken. Wenn ich mir überlege, mit welchen Schmerzen ich gestern Abend diese Straße entlang gekrochen bin, darf ich mehr als zufrieden damit sein, heute überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Meine Schienbeine melden sich zwar, aber sie spielen im Großen und Ganzen mit.

Ein weiteres Mal gibt es zwei Routen, die nach San Justo de la Vega fuhren. Entschlossen wähle ich diesmal die etwas längere und zeige somit der N-120 die lange Nase. Ich will sie heute nicht sehen. Die kastilischen Ebenen liegen nun hinter mir. Die Landschaft ist wieder lebendiger und abwechslungsreicher. Ich bin gespannt, was der Tag so bringt. Es ist nicht mehr ganz so heiß. Die Sonne versteckt sich die meiste Zeit hinter den Wolken.

Der Camino Francés führt mich heute von Anfang an auf einem befestigten Weg durch die Felder. Ich erfreue mich an dem Anblick einiger Bauern, die ganz gemütlich ihre Äcker abgehen, hier mal etwas aus der Erde rupfen und da mal einen Pfahl in den Boden schlagen. Gut gelaunt winke ich ihnen zu. Sie erwidern meinen Gruß mit einem temperamentvollen und fröhlichem „Buen Camino!” Sie geben mir das Gefühl dazuzugehören. Es ist fast so, als winkte ich einem alten Bekannten zu. Das hat nichts mehr mit der Anonymität der großen Städte zu tun. Genau das hat mir die letzten Tage gefehlt - das Gefühl in einem anderen Jahrtausend unterwegs zu sein. Deshalb liebe ich die Dörfchen so sehr und genau davon bekomme ich die nächsten Etappen eine hohe Dosis.

Bis zum nächsten Ort sind es nur schlappe zwei Kilometer. Ein Café con leche kann nie schaden und ich genehmige mir einen. In der Bar komme ich mit einem Pilger ins Gespräch. Es ist Rainer aus der Nähe von Stuttgart. Er erzählt mir, dass er seit 2000 jedes Jahr für zwei Wochen auf dem Jakobsweg unterwegs ist. Vor acht Jahren startete er vor seiner Tür in Esslingen. Er läuft vierzehn Tage und fährt dann wieder nach Hause. Im nächsten Jahr geht es genau an der Stelle weiter, wo er im letzten aufgehört hat. Und nun ist er schon knappe 300 Kilometer vor Santiago - nach insgesamt 16 Wochen Laufzeit. Ich bin beeindruckt. Er kennt zwischen seinem Zuhause in Deutschland und Villares de Órbigo in Spanien jeden einzelnen Meter. Das ist schon bei mittlerweile guten 500 Kilometer von Saint Jean Pied de Port in Frankreich ein Gefühl, dass sich mit nichts vergleichen lässt.

Ist es nicht erstaunlich, wie unterschiedlich ein jeder diesen Pilgerweg macht und sein ganz persönliches Glück dabei findet? Die wenigsten gehen übrigens heute noch aus religiösen Gründen zu Fuß nach Santiago de Compostela. Es gibt mindestens 1001 andere Ambitionen, sich auf den Weg zu machen und jeder einzelne persönliche Grund dafür ist anderen oft suspekt. Doch hier gibt es kein „Ja-Aber...!” Ich habe bis heute noch keinen Pilger kennengelernt, der wirklich an der Motivation eines anderen zweifelt oder sie ernsthaft in Frage stellt.

Viele Hügel gilt es zu überqueren. Ständig geht es bergauf und bergab in dieser reizvollen Landschaft. Jedes Mal, wenn ich oben auf einem der Hügel angekommen bin, verweile ich einige Minuten und lasse zufrieden meinen Blick schweifen. Die Pinien-, Pappel- und Eichenwälder verströmen einen wunderbaren Duft.

Zwischen Santibáñez de Valdeiglesias und San Justo de la Vega komme ich an einem Pilger-Denkmal vorbei. Wie viele haben hier schon ihr ganz persönliches Zeichen hinterlassen? Ich sehe mir das aus der Nähe an und entdecke auf einem Tisch aus Beton, wie ich ihn von unseren Autobahnrastplätzen kenne, hunderte, meist flache, Steine auf denen etwas geschrieben steht. Die Bank vor dem Tisch lädt zum gemütlichen Stöbern ein. Die Inschriften sind ganz unterschiedlich. Mal haben sie mit Liebe zu tun, mal mit Erkenntnissen. Auf anderen werden Erinnerungen oder Erlebnisse mit Buchstaben, Zahlen oder Zeichnungen zum Ausdruck gebracht.

Ich weiß nicht wie viele dieser „in Stein gemeisselten” Nachrichten vorsichtig und respektvoll durch meine Hände gegangen sind, als ich plötzlich eine Gänsehaut bekomme. „Ich grüße alle, die mich kennen. Susanne aus Leipzig, 9.5.2008”, lese ich und fühle mich angesprochen. Das ist ja ein Ding: Susanne war schon an diesem Platz und hat es sich nicht nehmen lassen, sich zu verewigen. Es ist, als wäre sie auch jetzt noch persönlich anwesend und ich erwische mich dabei, Ausschau nach ihr zu halten. Ich bin echt gerührt, dass sie an dieser Stelle saß und an mich gedacht hat. Ja, ich weiß! Nicht nur an mich! Aber ich fühle mich persönlich gegrüßt.

Ich habe keine Ahnung, warum ich das nicht auch mal mache. Irgendetwas hält mich davon ab. Ich kam schon an so vielen Stellen vorbei, wo zig-tausende Pilger Steine übereinander geschichtet haben. Jedes Mal sah ich mir diese Gebilde tief berührt an, aber ich selbst habe das noch kein einziges Mal getan. Ich habe auch - im Gegensatz zu so vielen anderen - nichts von zuhause dabei, dass ich an einem bestimmten Ort auf dem Camino ablegen will. Vor Antritt dieser Reise, war ich noch der Meinung: „Das ist nur unnötiger Ballast.” So langsam bereue ich das. Das wird es sein: Wenn ich was ablege, dann muss es etwas Mitgebrachtes, Persönliches sein. Tja, da muss ich wohl demnächst noch einmal losziehen, um das nachzuholen.

Ein paar hundert Meter später öffnet der Himmel seine Schleusen und macht uns nass. Der Wind bläst aus Leibeskräften und kühlt die Luft empfindlich ab. Wenn ich nach oben gucke, habe ich nicht viel Hoffnung auf Wetterbesserung. Ruddi’s, noch jungfräuliches, Regencape fällt mir ein. Soll ich es ihm anziehen? Er läuft fröhlich und unbeschwert vor mir her und tut so, als bemerke er den Regen gar nicht. Ich bringe es noch nicht fertig, ihn mit meiner Idee vertraut zu machen. Ich krame aber meinen roten Poncho aus dem unteren Fach des Rucksacks und werfe ihn mir über.

Der Regen wird immer stärker, der Wind artet so langsam in Sturm aus und die Wolken am Himmel sind bedrohlich schwarz, groß und zum Greifen nah. Es wird immer kälter. Perrito findet das allmählich ziemlich doof und versucht, wo es auch eben geht, im Unterholz vor dem Wasser zu flüchten. Ich kann mir das nicht mehr länger mit ansehen und fasse den für ihn unglaublichen Entschluss. Von mir persönlich, liebevoll abgetrocknet, zwänge ich ihn mit guten und entschuldigenden Worten in das so gehasste Regencape. Er bleibt wie angewurzelt stehen. Ich setze entschlossen meinen Weg fort - kenne ihn doch! Wenn ich einen gewissen Abstand zu ihm habe, dann kommt er von ganz alleine hinterher.

Nach ungefähr 100 Metern drehe ich mich um. Ich traue meinen Augen nicht. Wie ein vergessenes Stofftier, sitzt er noch immer in derselben Position auf dem Weg. Grinsend und siegessicher mache ich mir mal eine Zigarette an, bereite mich darauf vor, mich nur ein wenig in Geduld üben zu müssen, bis der Herr sich bequemt. Ab und zu rufe ich ihn, tue so, als ob nichts wäre. Seine einzige Reaktion ist ein klägliches und sehr lautes Heulen. Ein Radpilger kommt näher, passiert erst das heulende Steiff-Tier und macht mich dann entrüstet an: „Der Kleine ist bestimmt zu müde, siehst Du denn nicht, dass er nicht mehr kann?“ Ich habe keine Chance, eine Antwort zu geben. Er ist bereits kopfschüttelnd weitergeradelt. Ich weiß, dass ich bei meinem Hund verloren habe, wenn ich jetzt zu ihm zurückgehe. Nach sage und schreibe fast einer Viertelstunde schaffe ich es, Ruddi mit verlockenden Zauberworten und Rascheln der Leckerchen-Tüte aus seiner Starre zu holen: „Koooomm... Ruddi... kooooomm... hiiiier... Leckercheeeen... hmmm... lecker... Ruuuddiii... was hab ich denn hier?... ooooh, schau mal...!“

Und dann, zuerst gaaaaanz langsam, aber dann im zweiten, dritten und vierten Gang kommt er zu mir gelaufen, um sich sein Leckerchen abzuholen. Die rote Kapuze seines Capes wippt aufgeregt auf und ab. Erst als er sich vor mir aufrichtet, klappt sie nach hinten auf seine Schultern und gibt Ruhe. Ich lobe ihn gerührt über so viel Mut, streichle ihn, gebe ihm ein Extra-Lecker und alles ist wieder gut.

Pustekuchen! Er hat sich entschieden: „Mit Regencape bin ich bewegungsunfähig. Ich bleibe. Mach, was Du willst.“ Ich habe mich ebenfalls entschieden und nehme ihn an die Leine. Ganz langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und ziehe schweren Herzens meinen Hund hinter mir her. Ich appelliere an seinen Verstand: „Es muss sein, sorry. Aber Du darfst nicht krank werden. Es sind noch so viele Stunden zu laufen und wenn Du nass bist und die ganze Zeit der kalte Wind durch Dein Fell geht, holst Du Dir was weg. Ein warmes Wohnzimmer habe ich nicht im Rucksack. Komm, stell Dich nicht so an. Bitte!“

Er bewegt zwar seine Pfoten, aber er schleppt sich nur so dahin. Ein weiterer Fahrradpilger macht mir Vorwürfe: „Wie kann man so herzlos sein?“ Sowas lässt sich kein Hundebesitzer gerne sagen. Ich rufe ihm verzweifelt hinterher: „Es liegt am Regencape!“ Aber der hört das nicht mehr, der radelt den Berg runter und ist schon weit weg. Ich ziehe das Ding mit der Leine durch. Er wird sich schon besinnen. Ich gebe aber gerne zu, dass mir diese Aktion nicht nur die letzten Nerven raubt, sondern auch sehr anstrengend ist. Letztendlich laufe ich auch lieber lockerleicht im T-Shirt ohne einen Regen-Poncho, der mir um die Beine weht, einer Leine, die am Hüft-Gurt des Rucksacks festgemacht ist, damit ich beide Hände für meine Wanderstöcke frei habe und zu allem Übel mit der Gewissheit, dass es meinem Hund gerade ziemlich schlecht geht.

Vier Kilometer vor Astorga, in San Justo de la Vega machen wir endlich eine Pause in einer gemütlichen kleinen Bar. Zu allererst wird Ruddi aus seiner Zwangsjacke befreit. Beleidigt und fix und fertig liegt er auf seiner Decke. Wenigstens ist er trocken. Der kriegt sich schon wieder ein. Würde mich freuen, wenn er mich auch mal ansehen würde, um mitzukriegen, dass ich ebenfalls beleidigt bin. Aber das tun Hunde nicht, wenn sie so richtig sauer sind. Gott sei Dank, dauert so ein Zustand nur kurz an. Auch das ist hundetypisch: Nachtragend sind sie nicht wirklich.

Irgendwann gebe ich die Hoffnung auf, dass der Regen nachlässt. Wir haben noch zwölf Kilometer vor uns. Irgendwie muss es weiter gehen. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen, außer, dass jetzt wieder - völlig bedröppelt - eine Frau und ein kleiner schwarzer Hund mit knallroten Capes bekleidet im Regen unterwegs sind. Das ist kein normaler Regentag. Es artet so langsam in ein Unwetter aus. Der Wind bläst uns ins Gesicht. Lieber wäre mir, die Naturgewalten kämen von hinten und würden uns ein wenig anschieben.

Um Astorga zu erreichen, muss ich ganz schön kraxeln. Ein steiler Weg führt am Stadtrand hinauf zu einer Herberge. Ich lasse mir hier einen Pilgerstempel geben. Im 3. Jahrhundert war diese Stadt ein bedeutendes Handelszentrum. Im Mittelalter gab es mindestens zwanzig Pilgerhospitäler. Astorga hat heute 12.250 Einwohner und ist Hauptstadt des Bezirks der Maragatería. Bei strömendem Regen überquere ich die Plaza Mayor mit ihrem wunderschönen Rathaus aus dem 17. Jahrhundert. Ich kann mir gut vorstellen, wie traumhaft es hier bei Sonnenschein ist. Dann stehen bestimmt jede Menge Tische und Stühle vor den Cafés, auf denen man es sich bei einem kleinen Snack gemütlich machen und die Atmosphäre dieses Platzes genießen könnte. Bei diesem Regen allerdings muss ich mit dem Innern einer Bar vorlieb nehmen. Da noch fast zehn Kilometer vor mir liegen und es bereits fast 17 Uhr ist, trinke ich nur auf die Schnelle einen wärmenden Café con leche.

Viel zu viele Menschen werfen mir böse Blicke zu, weil Schnurzel sich immer noch nicht freiwillig an der Leine bewegt. Das macht mich fertig. Ich will nicht, dass die so von mir denken. Mein Hund hat es doch immer gut bei mir! Am liebsten würde ich mir eine Tafel mit aufgeklebten Beweisfotos umhängen. Am Ortsausgang von Astorga setze ich mich auf eine Bank und nehme Ruddi auf den Schoß. Wir gucken uns lange tief in die Augen und kommen zu keinem befriedigenden Ergebnis. Wohl oder übel? Was ist jetzt wohl und was ist übel? Tja, es ist wohl übel, dass er sich das Cape nicht selber ausziehen kann. Sturzbäche laufen durch die Regenrinnen, die Gullis schaffen die Wassermassen kaum. Ich kann ihm nicht helfen. Er wird sich auch ohne Regencape nicht gut fühlen, denn er hasst Wasser fast genauso wie Kleidungsstücke.

Trotz Poncho gibt es an mir nicht mehr viel, das noch trocken ist: Ungefähr vom Hals abwärts bis zur Mitte der Oberschenkel - der Rest ist triefendnass. Wir müssen jetzt die A6 über eine sehr steile Brücke überqueren. Mit dem „Gegensturm“, dem Wasser, das mein Gesicht herunterläuft und Ruddi im Schlepptau ist das fast nicht zu schaffen. „Mach ganz kleine Schritte“, sage ich mir immer wieder. Aber auch das wird von uns bewältigt und schon bald dürfen wir genauso steil die Brücke abwärts laufen. Dann führt der Camino ein bisschen hügelig an einer sehr ruhigen Landstraße entlang. Im Sonnenschein wäre das bestimmt ein Genuss.

In dem Moment, wo auch noch Blitz und Donner genau über uns einsetzten, hat Ruddi seine kleine Schnauze gestrichen voll. Er bleibt plötzlich stehen. Wild entschlossen, das erste Mal auf „seinem Jakobsweg“, streikt er und ist unter keinen Umständen mehr bereit, seine Pfoten auch nur einen Millimeter weiter durch die Sturzbäche zu setzen. Von diesem Moment an, müsste ich ihn auf seinem Hintern über den matschigen Boden ziehen. Ich vergieße vor Verzweiflung ein paar Tränchen und hocke mich neben ihn. Ich glaube er weint auch.

Nach einem Blick in seine dunklen, verzweifelten Augen habe ich unglaubliches Mitleid mit dem Häufchen Elend. So geht es nicht weiter! Auch wenn ich selbst am Ende bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn zu tragen. Ich befestige das Notfallnetz unter meinem Poncho vorne am Rucksack und setze ihn hinein. Er macht sich so leicht, wie es eben geht und lässt einen tiefer Seufzer los, den ich trotz des platschenden Regens und tobenden Sturms hören kann. Ist er letztendlich doch der Sieger? Ich glaube, er kann einfach nicht mehr. Das ist zu viel für seine kleine Hundeseele. Durch so ein bedrohliches Unwetter musste er noch nie.

Nach guten drei Kilometern erreichen wir Murías de Rechivaldo. Der Ort hat knappe 100 Einwohner und neben einer Herberge eine Bar. Bevor ich diese betrete schüttele ich soviel Wasser wie eben möglich vom Poncho ab, damit ich drinnen keine Seenplatten hinterlasse. Erleichtert, endlich im Trockenen zu sein, hänge ich mein Cape an den Garderobenständer und schau mich um.

Diese Bar erinnert mich an eine Siebziger-Jahre-Kellerbar in einem Einfamilienhaus. Der Raum ist mit ausrangierten Möbeln ausgestattet - ganz einfach gehalten, aber trotzdem irgendwie gemütlich. Hinter den zwei Metern Theke steht lächelnd eine junge Frau mit einem zufriedenen Baby auf dem Arm. Es gibt hier genau drei Tische. An einem sitzt der Rest der Familie bei einem Kartenspiel und an dem anderen vier Personen, die mich laut lachend begrüßen: „Hast Du dein Boot vor der Tür festgemacht? Hast Du die Paddel gesichert?“ Ich traue meinen Augen kaum, aber sie sind es wirklich: meine vier Klagenfurter. Wir fallen uns in die Arme und ich habe mal wieder das Gefühl, zuhause angekommen zu sein. Unsere Worte überschneiden sich, wir haben uns soviel zu erzählen.

Die Wirtin macht mir einen heißen Tee, den ich dankbar annehme und genüsslich, mit kleinen Schlucken in meinen durchgefrorenen Körper laufen lasse. Erst als ich unbewusst über das Netz vor meiner Brust streichle, fällt ihr auf, dass da ein Hund drin sitzt. Sie ist entzückt, ruft ihre Familie zusammen, damit sie sich das alle mal anschauen. Das haben sie noch nie gesehen. Ruddi presst sein nasses Köpfchen ganz fest an mich. Ich lasse ihn da sitzen, bring es nicht übers Herz, ihn auf den kalten Boden zu legen. Nach ein paar Minuten ist er in einen tiefen Schlaf gefallen. Am liebsten würde ich es ihm nachmachen. Mein Körper wundert sich schon sehr darüber, plötzlich fünf Kilo mehr schleppen zu müssen.

Es dauert ungefähr zehn Minuten bis ich merke, dass mir das Wasser aus den Haaren das Genick und Gesicht herunterläuft. Auch untenrum ist was nicht in Ordnung. Meine Hose klebt an den Beinen und gibt ebenfalls Wasser frei, das sich blöderweise in meine Schuhe verirrt. Schade, denn von außen sind die absolut dicht.

Meine Pilgerfreunde übernachten in der Herberge auf der anderen Straßenseite und sind zu einem kleinen Umtrunk hierhergekommen. Sie wollen mich überreden auch zu bleiben. Sie sind davon überzeugt, dass die Herbergsleute bei dem Wetter und in Anbetracht dessen, dass es mittlerweile schon nach 19 Uhr ist, eine Ausnahme machen und mich mit Hund nehmen würden. Ich lehne das ab. Ich will die letzten 4,8 Kilometer auch noch bestreiten. Ich lasse mich doch nicht von so einem bisschen Regen abhalten. Das wäre doch gelacht.

Sie flehen mich an, wenigsten mit dem Taxi zu fahren. Die Wirtin hat den Telefonhörer schon in der Hand, um eins aus Astorga kommen zu lassen. Für einen Moment finde ich die Idee sehr verführerisch, mich einfach in ein Auto zu setzen. Aber schon im nächsten wird mir ganz anders. „Also, Leute, bitte!!! Und wenn die Welt untergeht... ich laufe! Da ist nix zu machen. Das lass ich mir nicht nehmen. Meine Füße lassen keinen einzigen Meter bis Santiago aus, komme was da wolle!“ Sie merken, wie ernst mir das ist und fangen so langsam an, das zu akzeptieren. In Frieden lassen sie mich eine knappe halbe Stunde später weiterziehen und verabschieden mich mit einem gut gelaunten: „Ahoi, Seemann!“

Natürlich sind diese letzten Kilometer superanstrengend. Mit Ruddi vor der Brust komme ich nur langsam voran. Am Anfang habe ich mich noch einige Male umgedreht und zum Ort zurückgeschaut. „Soll ich doch hier übernachten? Was mach ich denn da wieder für einen Blödsinn. Muss mal wieder meinen Dickkopf durchsetzen. Das ist so typisch für mich!“ Ich nehme mir vor, nur noch nach vorne zu schauen und mein Ding durchzuziehen. Was soll schon passieren? Noch nasser kann ich nicht werden, absaufen tu ich bestimmt nicht - kann nämlich gut schwimmen und fünf Kilometer sind schließlich auch keine Weltreise. Für irgendwas wird das wieder gut sein. Wir werden sehen. Schnurzel ruht zufrieden an meiner Brust und lässt sich durch die Lande und den Regen schaukeln.

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