Sonntag, 4. Mai 2008
Calzadilla de la Cueza (66 Einwohner), 858 m üdM, Palencia
20. Etappe bis Sahagún, 23 km
Noch vor Lédigos überschreite ich die 400-gelaufene-Kilometer- Marke. Ist das zu fassen? Bin das wirklich ich, die das - für mich - Unfassbare tut? Und das, ohne vor Antritt der Pilgerei zu trainieren!
Naja, stimmt auch nicht so ganz: Ich habe immerhin vorher ein intensives wochenlanges „Rucksack-Pack-Training“ absolviert.
Wie so oft drehe ich mich andächtig im Kreis. Ich stehe hier mitten in Nordspanien mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Fünf-Kilo-Hund zu meinen Füßen und tue seit über 2 ½ Wochen nichts anderes, als Laufen, Laufen, Laufen. Okay, die allabendliche Handwäsche ist Pflicht, aber ansonsten darf ich mich zum ersten Mal in meinem bereits über 51 Jahre andauerndem Leben ausschließlich mit mir selbst beschäftigen. So langsam komme ich dahinter wer ich wirklich bin. Es fällt mir nur noch schwer, es in Worte zu fassen. Fest steht, dass ich dieses Wanderleben zu 98 Prozent genieße. Ich liebe es, im Hier und Jetzt zu sein. Was gestern war, ist auf dem Jakobsweg völlig uninteressant. Was Morgen passiert, kann und muss ich nicht wirklich planen, außer momentan vielleicht mal ein Zimmer zu reservieren, gibt es nichts, für das ich vorsorgen kann oder muss. Ich erinnere mich nochmal daran, dass das mit der Reservierung ja reine Einstellungssache ist - also änderbar! Ich genieße jeden Moment, jeden Menschen, jede Situation und die Landschaft JETZT.
Noch nie im Leben war ich mir all dieser Dinge, die mir begegnen so voll bewusst. Das Loslassen gefällt mir von Tag zu Tag besser: Erleben - genießen - loslassen. Ich käme nie an meinem Ziel Santiago de Compostela an, wenn ich die tollen Menschen, die beeindruckende Landschaft und die schönen Erfahrungen zum Beispiel in Itero de la Vega heute wiedersehen oder erleben wollte. Ich habe gelernt, dass nach dem mentalen Loslassen, zwar ganz andere, aber deswegen nicht minder wertvolle Leute und Situationen auf mich warten. Ich habe gelernt, den Dingen nicht hinterher zu trauern, sondern JETZT die Augen, Ohren und vor allem mein Herz offen zu halten. Ruddi hatte bereits am zweiten Tag gecheckt, dass es auf dem Jakobsweg niemals etwas als mein-Revier-zu-markieren gibt.
Der Weg führt mich direkt neben der Nationalstraße N-120 entlang. Ich versuche, die vorbeidonnernden LKW und vorbeizischenden PKW zu ignorieren. Die Wegbeschaffenheit lässt es zu, abzuschalten und meinen Gedanken nachzuhängen. Ruddi läuft fröhlich vor mir her. Es ist zwar wieder sehr warm, aber dank der dünnen Wolkendecke, brennt die Sonne nicht.
Mit jedem Schritt komme ich nicht nur Santiago, sondern auch meiner grundsätzlich positiven Einstellung näher. Noch nie war mir so bewusst, wie tiefgreifend gute Gefühle, Gedanken, Taten und Worte tatsächlich sind. Ich erschaffe meine Realität Augenblick um Augenblick selbst. Gestern habe ich mir ja wieder ein bisschen Abwechslung in meinem Leben gegönnt und bewiesen, dass das auch im negativen Sinne funktioniert. Es bleibt dabei: Es gilt, meine Gefühle und Gedanken zu disziplinieren, wenn ich angenehmen Menschen oder glücklichen Gegebenheiten und Situationen begegnen will. Es ist meine Aufgabe, zu versuchen, Schritt für Schritt den nächst besseren Gedanken zu suchen, wenn ich mich mal so richtig mies fühle. Finde ich den ersten guten Gedanken, bringt mir das Gesetz der Anziehung den nächsten und wieder den nächsten - es ist, als klettere ich die Leiter der Emotionen hinauf. Ich kann nicht von der untersten Sprosse direkt auf die oberste springen, aber Stufe für Stufe, ganz behutsam, komme ich mit Sicherheit und himmlisch guter Laune ganz oben an, wenn ich mir dessen bewusst bin und nicht durch unkontrolliertes Fühlen oder Massendenken ins Stolpern gerate und mich - einige Sprossen tiefer gefallen - verkrampft an die Leiter klammere. So kann man nämlich auch mir nichts, dir nichts in der Gefühls-Hölle landen. Das ist ebenfalls das Gesetz der Anziehung. Im Alltagsstress findet man sich nur allzu schnell im Untergeschoss wieder, weil man sich einfach treiben lässt. Dann hat man ja keine „Zeit“ sich mit sich selbst zu beschäftigen und unterliegt dem Massendenken oder -fühlen.
Im Grunde ist es ganz einfach, es ist nur ein anderer Weg. Es ist der schönere, liebevollere, romantischere Weg, den es zu gehen gilt. Es geht darum, die alten Denkgewohnheiten hinter sich zu lassen und statt die vielleicht trostlose Realität zu beachten, sich seiner wirklichen Wünsche bewusst zu werden und möglichst oft nachzuempfinden, wie es wäre, wenn das Ersehnte real wird. Niemand kann an seine Herzenswünsche denken und sich gleichzeitig schlecht fühlen. Es sei denn, er glaubt nicht daran, dass er sie selbst verwirklichen kann.
Hier auf dem Pilgerweg erlebe ich täglich, dass meine Gefühle meine Realität bestimmen. Also lautet das Motto: „Wäre es nicht schön, wenn...? Ich freue mich schon auf...! Allein diese einleitenden Worte der beiden Sätze lassen mein Herz hüpfen und mir fallen tausend Dinge dazu ein. Als erstes wünsche ich mir mal, dass ich mir dieser wichtigen Tatsache so oft wie möglich bewusst bin.
In der Mittagszeit erreiche ich Terradillos de los Templarios und freue mich schon auf die nächste Pause in der ich wieder einen Café con leche genießen werde. Terradillos hat knappe 100 Einwohner und tatsächlich eine „Bar“.
Bin schon fast dran vorbeigelaufen, als ein Mädchen die drei Eingangsstufen herunterspringt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich um ein Lokal handeln könnte: Keine Werbung, kein Schild, kein Tisch oder Stuhl vor der Tür, der auf Gäste wartet. Aber das Mädchen hat meine Aufmerksamkeit geweckt und ich werfe vorsichtig einen Blick in das uralte Häuschen mit seiner über die vielen Jahre hochstrapazierten Eingangstür. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ein Stück einer Theke zu erkennen. Ich müsste jetzt allerdings ein oder zwei Schritte ins Haus gehen und um die Ecke gucken, um Gewissheit zu haben, dass hier offiziell Café con leche an Fremde ausgeschenkt wird. Ich trau mich nicht so richtig, denn es könnte auch einfach ein privates Haus sein. Die Spanier lassen ja gerne mal ihre Haustüren offen stehen.
Im nächsten Moment springt an mir vorbei ein junger Mann die besagten Stufen hoch und verschwindet genau in dem Raum, in dem ich die Theke vermute. Dann höre ich, wie er sich mit jemandem unterhält und eine Flasche geöffnet und hingestellt wird. Na, dann fass ich mir mal ein Herz und geh ihm hinterher, was soll schon passieren? Auf diese Weise habe ich vor einiger Zeit im Casa Rural ein Bett für die Nacht gefunden.
Ich werde, wie schon so oft, mit spanischem Temperament begrüßt. Der Raum ist sehr karg eingerichtet. Die Theke, Tische und Stühle sind mit Sicherheit noch aus der Nachkriegszeit. Ich glaube, dass sich hier kaum jemand hin verirrt. Vermutlich ist das eine Insider-Bar - nur für die Ureinwohner des Ortes. Es sind jedenfalls keine anderen Gäste in Sicht. Die beiden Männer scheinen mich gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie haben sich anscheinend sehr wichtige Dinge zu erzählen.
Mir kommen Zweifel, ob ich mich hier wirklich aufhalten will, aber die nächste Bar ist wahrscheinlich mindestens sechs Kilometer entfernt und diese alten Stühle sind so nah! Ich will jetzt nach knappen zehn Kilometern endlich sitzen. So stehe ich da - mitten in diesem verlassenen Raum und weiß nicht, ob das alles so richtig ist. Der magnetische Blick meines Vierbeiners zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Er sieht mir fest und entschlossen in die Augen und schon ist alles klar: Wir bleiben! Basta!
Ich schnalle meinen Rucksack ab, rupfe Ruddi’s Kuscheldecke heraus und lege sie ihm schön drapiert hin. Er lässt sich sogleich darauf plumpsen und kringelt sich gemütlich ein. Ich stelle sein Tupperware-Wasser-Schüsselchen daneben und lege meinen Wanderführer auf den Tisch. Jetzt wo ich mich häuslich niedergelassen habe, fühle ich mich gar nicht mehr so verloren hier drin. Ist doch ganz kuschlig soweit.
Mir fällt auf, dass es mucksmäuschenstill im Raum geworden ist. Als ich aufschaue, stelle ich amüsiert fest, dass die beiden Männer mich und mein Tun wohlwollend beobachtet haben. Der „Wirt“ lächelt mich an und zwinkert mir mit einem Blick auf meinen Schwarzen-Kringel-in-Decke zu. Wir sind also willkommen. Ich überlege kurz, ob ich hier wirklich einen Milchkaffee bestellen soll... nicht, dass die Milch so alt ist wie das Lokal! Entscheidungshilfe ist dann letztendlich eine junge Frau, die, mit einer sauberen Schürze bekleidet und mit einem frischen Handtuch bewaffnet, hinter die Theke schwebt, um die Gläser zu spülen, die in den Regalen stehen. Ich traue mich also und werde mit einem besonders guten Kaffee für meinen Mut belohnt. Die Señores sind sehr an uns - der „buena compañía“ - interessiert. Wie schon so oft, tauschen wir uns unter dem Einsatz der Körpersprache aus und haben irren Spaß daran.
Nach einer guten halben Stunde mach ich mich bestens gelaunt wieder auf den Weg. Dreizehn, vierzehn Kilometer liegen noch vor uns, wenn wir das geplante Etappenziel in Sahagún erreichen wollen. Und ob wir wollen! Ich will heute in einem guten Hotel übernachten. Sahagún hat fast 3000 Einwohner. Da ist die Chance auf Luxusprogramm relativ hoch.
Jetzt muss ich zuerst einmal eine Entscheidung treffen: Zwei gekennzeichnete Wege führen nach San Nicolás. Einer verläuft über einen Fußgängerweg direkt neben der Nationalstraße, der andere fern vom Autoverkehr durch die Natur. Eigentlich bevorzuge ich den ruhigeren Weg, er ist aber deutlich länger als der erstgenannte. In Anbetracht der erwähnten vierzehn Kilometer, wähle ich den weniger romantischen Streckenabschnitt. Der Verkehr wird schon nicht so stark sein, denn mein Reiseführer verrät mir, dass die meisten Autofahrer die neue Schnellstraße benutzen.
So laufen Ruddi und ich gleichmäßigen Schrittes gemütlich aber bestimmt über einen „Feldweg“ neben der grauen N-120, der sich ganz gut mit unseren Füßen verträgt. Die Sonne lässt sich immer öfter blicken. Es wird lecker warm. Nach ein paar Kilometern lasse ich mich auf dem Weg nieder und Ruddi ein bisschen in meinem Schatten liegen. Bei einer kurzen Wellness-Massage, die ich ihm gönne, fällt mir auf, dass mein kleiner Vierbeiner „blinde Passagiere“ an Bord hat. Ich bin völlig aus dem Häuschen und ekel mich entsetzlich. Das kenne ich noch nicht. Ich muss mich überwinden und die unerwünschten „Viecher“ (es sind keine typischen Zecken, sondern kleine, hässliche, schwarze, vielfüßige, platte Käfer) mit der Pinzette entfernen. Sieben oder acht Stück hole ich aus seinem Fell. Er lässt es sich auch gerne gefallen. Ein bisschen Mühe kostet es mich schon, dieses Erlebnis wegzupacken. Ich werde in Sahagún ein Mittel dagegen besorgen.
Gegen 14 Uhr kommen wir in San Nicolás an. Wir suchen natürlich die erste Bar auf. Hier treffe ich endlich auch mal wieder auf andere Pilger. Es tut gut, sich ein bisschen auszutauschen. Ich höre von einer Familie, die mit zwei kleinen Kindern und zwei Eseln auf dem camino unterwegs ist. Das ist ja ein Ding! Die würde ich gerne mal interviewen. Zwei Esel kann man ja wohl kaum „schmuggeln“ und die müssen doch auch fressen und saufen und überhaupt!!! Und Kinder? Gibt es Kinder, die bereit und willig sind, jeden Tag große Strecken zu laufen? Bisher habe ich noch kein einziges Pilgerkind gesehn.
Eine weitere Nachricht der anderen Peregrinos ist, dass die Herbergen in Sahagún voll sind und es gar nicht so viele Pensionen gib, wie Pilger unterwegs sind. Was? Ich will Luxus! Ich fackel nicht lange und bitte die Wirtin, für mich in Sahagún in einem guten Hotel ein Zimmer zu reservieren. Sie ist sehr freundlich und erledigt das sofort erfolgreich für mich. Sie schreibt mir die Adresse auf und wünscht mir eine erholsame Nacht.
Kurz vor dem Ortsausgang treffe ich doch tatsächlich auf Die-mit- den-Eseln-pilgern. Sie machen gerade Siesta auf dem menschenleeren „Marktplatz“ des 60-Einwohner-Dörfchens. Sie haben es sich auf einer überdachten „Pilger-Raststätte“ bequem gemacht. Die komplette Situation ist unwirklich. Zum ersten Mal sehe ich auf dem Camino so eine große, gepflegte, überdachte und gepflasterte Stelle, auf der sich auch noch drei lange saubere Bänke befinden. Ja - und dann stehen da zwei vollbepackte, an einer Holzsäule festgemachte, Esel drunter. Zwei Kinder, schätzungsweise vier oder fünf Jahre alt, knien auf einer der Bänke und knabbern gut gelaunt an ihrer Vesper.
Die Familie kommt aus Frankreich. Sie sprechen kein einziges Wort Deutsch und ich so gut wie kein Französisch. Das „Interview“ ist also sehr bewegungsintensiv. Mit Händen und Füßen erklären sie mir, wie es dazu kam, den Camino Francés auf diese Art zu gehen. Die beiden Kinder, die noch nicht zur Schule gehen, sollten unbedingt mit auf diese Reise. Da musste zum einen eine Möglichkeit her, das ganze Gepäck zu transportieren. Zum anderen war ihnen klar, dass sie die Kinder, wenn sie nicht mehr weiterlaufen wollen, nicht selbst tragen können und folglich täglich nur ganz wenige Kilometer pilgern könnten. Und so sind sie auf die Esel gekommen, die bereitwillig die Sprösslinge auf ihren Rücken durch die Lande schaukeln. Es gibt kaum Schwierigkeiten mit den Übernachtungen. Sie sprechen die Bauern an, ob sie gegen ein geringes Entgelt ihre Esel über Nacht auf einer ihrer Wiesen lassen dürfen. Das klappt fast immer. Die ganze Familie ist glücklich und zufrieden. Sie haben für sich eine Möglichkeit gefunden, alle zusammen diese Erfahrung zu machen. Ich bin tief beeindruckt und begeistert von dem Frohsinn, dem Mut und der Herzenswärme, die von dieser Familie ausgehen.
Sieben Kilometer gilt es noch bis Sahagún zu bewältigen. Gegen 15 Uhr machen mein Hund und ich uns auf den Weg. Wir gehen weiter neben der Nationalstraße entlang. Die Sonne versteckt sich hinter den Wolken und ich bin dankbar dafür. Irgendwo zwischen San Nicolás und Sahagún verlassen wir Palencia und kommen in die Provinz León. Mein Etappenziel ist schon lange am Horizont zu sehen, aber es kommt nur langsam näher. Ich kann es kaum erwarten, mein Hotelzimmer zu beziehen, zu duschen und dann irgendwo lecker zu essen. Ob ich wohl heute wieder den ein oder anderen mir bekannten Pilger treffe? Das wäre toll!