Gleicher Tag (insgesamt 323 km gelaufen)
Hontanas (65 Einwohner), 925 m üdM, Burgos
Herberge, Matratze im Kaminzimmer, 5 Euro ohne Frühstück
Nach einigen Minuten des Staunens betrete ich den unglaublich steilen, Weg, der hinunter in die „versunkene“ Stadt führt. Ich mache ganz kurze Schritte, damit ich nicht zu viel Fahrt aufnehme. Nach zirka hundert Metern befinde ich mich auch schon auf der „Hauptstraße“. In der City, die ich nach weiteren hundert Metern erreicht habe, pulsiert das Leben. Unzählige Pilger mit ihren Rucksäcken tummeln sich hier. Auffallend viele sind mit ihren Drahteseln auf dem Weg. Sie sitzen bei einem Bier, Wein oder Kaffee vor den Bars. Manche schreiben in ihren Tagebüchern, andere stehen in großen und kleinen Gruppen zusammen und lamentieren. Wieder stellt sich mir die Frage: „Wo kommen die bloß alle her?“ Stundenlang war ich mutterseelenalleine. Die einzigen Menschen, die ich gesehen habe, waren die Bauersleute. Es wird mir immer ein Rätsel sein.
Ich höre raus, dass es in den Herbergen keine freien Betten mehr gibt. Selbst das Hotel und die Pension sollen ausgebucht sein. Sofort begebe ich mich in das kleine Hotel. Der Eingangsbereich ist gnadenlos überfüllt. Ich höre immer wieder: „Lo siento, no habitación libre“ (tut mir leid, kein Zimmer frei). Das will ich mir nicht auch noch sagen lassen. Ich stelle mich ein bisschen abseits der Warteschlange und sperre meine Ohren auf. Vielleicht gibt es hier ja jemanden, der als Einzelperson ein Doppelzimmer gebucht hat und mich mit einziehen lässt. Nach einer halben Stunde hat sich die Rezeption geleert und ich bestelle mir an der Theke - die gleichzeitig der Empfang ist - einen Café con leche. Die Bedienung ist trotz des Stresses sehr freundlich und ruhig. Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich jemanden suche, der mit mir sein Zimmer teilen würde. Sie hat keine Idee, wer das sein könnte. Sie bestätigt mir, dass der komplette Ort Hontanas gnadenlos überfüllt sei. Auch ihr ist klar, dass jetzt am Abend niemand mehr in der Lage ist, weitere zehn Kilometer bis zum nächsten Ort zu laufen.
Ratlos, jedoch relaxed, setze ich mich auf einen Stuhl und öffne Ruddi’s Tasche. Er bleibt liegen, ist aber deutlich zu sehen. Sofort wird er von einer Pilgerin - so um die 50 Jahre alt - entdeckt. Sie ist richtig gut drauf, sehr temperamentvoll, heißt Ineke, kommt ursprünglich aus den Niederlanden und lebt heute in Bremen. Sie ist völlig hingerissen, von meinem kleinen Freund und liebkost ihn. Wir kommen ins Gespräch. Sie macht sich Sorgen um uns, weil wir noch kein Bett für die Nacht haben. Sie unterstützt mich dabei, andere Pilger auf eine freie Schlafgelegenheit in ihren Zimmern anzusprechen. So gegen 20 Uhr geben wir auf. Es hat keinen Zweck, alle Betten sind belegt. Ich möchte noch erwähnen, dass auch die Hotelbesitzer sehr freundlich zu meinem Hund sind und ihn gleich mal mit Leckerchen willkommen heißen. Wäre noch ein Zimmer frei, dürfte er hier ohne Probleme mit übernachten.
Ich vertraue dem Universum. Wenn ich gelassen bleibe, wird sich schon alles fügen! Ich erhalte den Impuls, die übernächste Herberge zu besuchen. Mit Ruddi an der Leine betrete ich dieses uralte, sehr anheimelnde Gebäude. Mir ist bewusst, dass meine Chancen auf ein Lager in einer Herberge in Begleitung eines Hundes klein sind. Da ich bereits weiß, dass alle „normalen“ Betten belegt sind, spezialisiere ich mich auf das Außergewöhnliche. Ich habe ja schon die Bekanntschaft mit Kaminzimmern gemacht. Und die werden nun mal vorzugsweise in Herbergen an Hunde, die mit ihrem Menschen unterwegs sind, vermietet. Ich setze also auf die Barmherzigkeit der Hospitaleros und zeige gleich offen was ich so alles dabei habe. „Alle Betten sind belegt“, lautet die traurige Nachricht. Ich mache deutlich, dass ich 25 Kilometer gelaufen bin und auf der Straße nächtigen müsse, wenn ich hier kein Eckchen zum Schlafen bekäme. Traurig schüttelt die freundliche Señora den Kopf. Ich zeige auf Ruddi, der mitspielt, unaufgefordert brav „Sitz“ macht und sie von da unten mit seinem treuesten Hundeblick, den er draufhat, anschaut. Jetzt hat sie die Idee, auf die ich gehofft habe. Sie bietet mir das „Einzelzimmer für Hunde mit ihrem Besitzer“ an. Es ist ein riesiges, wunderschönes, gepflegtes, abseits von den anderen Schlafstätten liegendes Kaminzimmer, keine stinkigen Pilgerstiefel, kein Durchgang für andere.
Sie legt mir sofort eine Matratze hinein und macht mir klar, dass ich mich hier frei bewegen darf. Es ist eiskalt hier drin. Die alten Mauern sind bestimmt einen halben Meter dick. Mein Schlafsack ist zu dünn, um mich die ganze Nacht warm zu halten. Ich frage nach einer Wolldecke und bekomme zur Antwort, dass sie keine einzige Decke mehr haben. Hilfe suchend zeige ich ihr meinen Schlafsack und reibe fröstelnd über meine Arme. Ich höre regelrecht, wie die Maschinen in ihrem Kopf arbeiten und nach einer Lösung für meine Misere suchen. Sie läuft durch das ganze Haus und sucht nach einer Decke für mich.
Nach einigen Minuten sehe ich, wie sie das Gebäude verlässt. Na ja, dann wird Ruddi eben heute Nacht mit mir im Schlafsack liegen und seine eingebaute Heizung aufdrehen. Gerade als ich mich damit angefreundet habe, erscheint die Señora mit einem Strahlen in ihren braunen Augen und einer dicken Rolle unter dem Arm. Ich glaub es kaum, aber sie hat tatsächlich eine ihrer privaten Wolldecken von zu Hause geholt. Wenn das keine Aufopferung und Nächstenliebe ist, dann weiß ich es auch nicht. Ich kann nicht anders, als sie zu umarmen.
Als ich alleine bin, überlege ich, wie ich mich wohl am besten bette. Die Matratze liegt auf dem Boden. An den Wänden stehen lange Holzbänke ohne Lehnen. Kurzerhand schiebe ich die Bänke zusammen und lege die Matratze darauf. Das ist mit Sicherheit wesentlich wärmer, als auf dem Boden. Ich habe sogar ein Bettlaken und Kopfkissen bekommen. Mein Schlafsack und die Wolldecke aus privatem Bestand schmiegen sich an die saubere Unterlage und laden regelrecht zum Hinlegen und Schlafen ein.
Mit der Gewissheit, diese Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben, mache ich mich zum Essen auf den Weg in das Hotel. Da muss ich Ruddi nicht verstecken, die kennen uns ja schon. Ich muss ein bisschen an der Bar warten, bis ein Tisch beziehungsweise ein Platz im Comedor frei wird. Natürlich macht es sich auch jetzt zum Abendessen bemerkbar, dass Hontanas voll mit Pilgern ist. Ich gestehe: Wenn ich nicht bald was zu essen bekomme, garantiere ich für nichts mehr! Dann muss ich auf die Jagd gehen!
Ungefähr 20 Minuten später ist es endlich soweit. Ich werde in den Speiseraum und an den einzigen freien Stuhl an einem Dreiertisch geleitet. Und wieder führt das Leben zusammen, was zusammen gehört. Da sitzen doch tatsächlich Ineke und eine junge Frau. Sie trinken Wein und haben unübersehbar jede Menge Spaß. Das ist doch genau das, was ich auch brauche. Ineke erkennt mich sofort, freut sich uns wiederzusehen und ist erleichtert - vielleicht auch ein bisschen neidisch - dass ich eine so großartige Übernachtungsmöglichkeit gefunden habe. Sie stellt mir Jacqueline vor. Sie ist 26 Jahre alt und kommt aus Leipzig. Und jetzt Achtung! Sie ist mit ihrem Hund unterwegs. Na endlich, ein weiterer Pilger-Perro! Ich dachte schon, ich sei die einzige auf diesem so langen Weg. Jacquelines Vierbeiner ist relativ groß - zu groß zum Schmuggeln. Ihr treuer Gefährte hat aber, im Gegensatz zu Ruddi, langes dickes, wärmendes Fell, so dass es ihm nichts ausmacht, draußen vor der Herberge zu schlafen. Frauchen stellt ihm über Nacht ihren Rucksack zur Seite, damit er was zu bewachen hat. Das ist seine unsichtbare Leine. Er bewegt sich keinen Millimeter von der Stelle, streunt nicht durch die Nacht. Er bewacht - komme was da wolle - ihr Hab und Gut. Das nenn ich Pflichtbewusstsein. Wir drei Frauen verbringen bei „einem Gläschen“ Rotwein und vorzüglichem Essen einen sehr lebhaften und fröhlichen Abend miteinander. Wir verabschieden uns in der Hoffnung, uns mal wieder über den Weg zu laufen.
Es ist schon nach 23 Uhr als ich endlich in meinem Gemach zur Ruhe komme. Ausgestreckt liege ich mit Ruddi in meinen Schlafsack und die Wolldecke gemummelt auf dem Rücken. Meine Beine und Füße sagen ganz laut „gracias“, als sie keinerlei Gewicht mehr zu tragen haben. Ich atme tief durch. Was für ein Tagesabschluss! Grandios! Es ist mal wieder alles perfekt. Wer hätte das beim Einzug in dieses so stark frequentierte Örtchen mit seinen 65 Einwohnern gedacht? Es ist so einfach: Immer locker bleiben und vom Besten ausgehen. Buenas noches y gracias por todo.