gleicher Tag (insgesamt 123 km gelaufen)
Viliamayor de Monjardín (132 Einwohner), 645 m üdM, Navarra
Herberge, 15 Euro inklusive Abendessen und Frühstück
Los Arcos muss warten! Weitere 13 Kilometer schaffe ich nicht! Ich werde jetzt das Handtuch schmeißen und versuchen, hier irgendwo zu übernachten. Ein Hotel oder eine Pension gibt es laut Wanderführer nicht. Schon nach 50 Metern finde ich auf der rechten Straßenseite eine Herberge. Ich werfe einen Blick hinein und mach mich schnell vom Acker bevor mich jemand sieht. Das scheint mir ein Drecksloch zu sein und zudem besonders klein. Die Küche ist gleichzeitig auch der Eingangsbereich. Ich kann schon von der Haustür aus auf den „Schlafstall“ blicken.
Ich schicke ein Stoßgebet nach oben, dass es noch eine andere Herberge gibt und mich vor allem mit Ruddi auch aufnimmt. Hundert Meter weiter entdecke ich - ebenfalls auf der rechten Straßenseite - einige Pilger ohne ihre Rucksäcke. Sie sitzen auf einem Mauervorsprung vor einem sehr großen, alten Haus. Da es sich nicht um eine Bar handelt, muss das auch eine Unterkunftsmöglichkeit sein. Ich krieche die Einfahrt hoch und setze mich auf einen Hocker im Eingangsbereich. Hier erfolgt auch die Anmeldung. Es wird sofort bezahlt und ein Stempel in den Pilgerausweis gesetzt. Es ist eine christliche Herberge. Ich habe Ruddi an der Leine vor meinen Füßen sitzen. Der Pilgerstrom scheint kein Ende zu nehmen. Ich warte einfach mal ab, stelle mich also nicht in die Warteschlange.
Nach ungefähr einer halben Stunde hat der unglaublich geduldige und ruhige Herbergsvater allen ein Bett zugewiesen. Achim und Oliver haben sich auch hier eingeschrieben und mir gesagt, dass ich doch zusehen soll, mit Ruddi in ihr Zimmer zu kommen. Die Frau des Hospitaleros führt die Leute durch das Haus. Beide sind sehr christlich. Alle werden von ihnen zu einer Gebetsstunde nach dem Essen eingeladen. Jetzt spreche ich ihn an: „Darf ich mit meinem Hund bei Euch übernachten? Ich kann nicht mehr weiterlaufen.“ Er antwortet mit holländischem Akzent: „Du kannst hier im Eingangsbereich übernachten. Ich lege Dir eine Matratze hin. Dein Hund darf nur hier vorne bleiben, keinesfalls in die Zimmer!“
Ich packe Ruddi’s Tasche aus und zeige ihm, dass ich sie verschließen kann, damit er nicht durch die ganze Herberge läuft. Er bleibt dabei, dass ich ausschließlich an Ort und Stelle mit ihm bleiben darf. Auch zum Essen und Frühstück ist es ihm verboten, eine Pfote in die angrenzenden Räume zu setzen. Er könnte ja Flöhe haben, die dann das ganze Haus verpesten. Ich bin zwar dankbar, aber gleichzeitig ebenso entsetzt. Ich versuche das zu unterdrücken und sage mit einem Lächeln: „Mein Hund hat keine Parasiten, das sieht man ja wohl auf den ersten Blick. Wenn es so wäre, würde er sich andauernd kratzen. Du kannst mich doch nicht draußen lassen, nur weil ich einen Hund habe!“ Er kontert: „Ich lasse Dich nicht draußen! Du darfst doch bleiben! Ich gebe Dir eine Matratze, es ist warm und trocken hier drin. Du kannst zum Essen kommen. Was ist denn noch?“ „Ich kämpfe um ein Bett!“
Unsere Verhandlungen werden von weiteren Gästen unterbrochen. Sabrina trudelt jetzt ein und meldet sich als Gast an. Sie wird gefragt, ob sie auch Abendessen und Frühstücken möchte. Sie sagt, ohne zu jammern: „Nein, danke, ich koche mir selbst was. Ich habe nicht so viel Geld.“ „Du kannst trotzdem mit uns essen, wenn Du in der Küche hilfst“, lautet das Angebot des Herbergsvaters. Begeistert stimmt sie zu. Ich finde erstaunlich, was ich gerade gehört habe. Im Grunde hat er also ein weiches Herz und lässt mich am Ende doch noch in eins der Zimmer. Zwei oder drei mir fremde Pilger haben vorhin gesagt, dass es sie nicht stören würde, wenn ich mit Ruddi bei ihnen schliefe.
Als er auch die anderen Neuankömmlinge abgefertigt hat, fragt er wie ich mich entschieden hätte. Ich antworte: „Ich bleibe. Ich kann nicht mehr laufen. Ich habe allerdings nur einen sehr dünnen Schlafsack. Wenn ich im Eingangsbereich schlafe, friere ich bestimmt die ganze Nacht. Es sind drei oder vier Pilger hier, die mich und meinen Hund gut kennen, darf ich mit ihnen vielleicht doch ein Zimmer teilen? Sie wären damit einverstanden.“ Er erwidert: „Nein, es tut mir leid, das geht auf keinen Fall. Dein Schlafsack ist auch kein Problem, wir geben Dir eine dicke Decke.“ Tja, kein weiches Hunde- Herz! Dann muss ich mich wohl beugen. Ich lasse mich einschreiben, meinen Pilgerpass stempeln und zum Abendessen und Frühstück vormerken.
Der Eingangsbereich hat zwar einen Kamin, aber der brennt ja nicht bis morgen durch. Die uralte dicke Holz-Eingangstür ist fünf Zentimeter zu kurz geraten. Da kommt bestimmt nicht nur die Kälte durch! Wer weiß, welches Getier sich so in mein „Zimmer“ schleicht wenn es dunkel ist. Ich kriege hysterische Anfalle, wenn eine Spinne oder ähnliches hier rumkrabbeln. Zu allem Überfluss ziehen sämtliche Pilger ihre nassgeschwitzten Wanderschuhe aus, bevor sie die heiligen Räume betreten und stellen sie in das Regal neben dem Kamin. Die Luft ist also auch nicht die allerbeste.
Bereits ein paar Minuten später liegen sogar zwei Matratzen übereinander unter dem Fenster neben dem Kamin für mich auf dem Boden des Eingangsbereichs. Sie sind sehr verdreckt. Hoffentlich krabbelt da nichts drin oder drauf rum. Flöhe können es immerhin nicht sein, da kein Hund je eine Pfote in diese heilige Herberge gesetzt hat. Fein! Ich könnte heulen, aber was nützt es. Ich habe keine andere Möglichkeit und tröste mich damit, dass der Schlafsack mich von dem Schmutz fernhält. Muss ich wirklich dankbar sein für dieses Nachtlager? Ich bezahle genauso viel, wie alle anderen. Mir wird noch nicht einmal das Bad gezeigt.
Wo ist eigentlich Hermann? Wenn ich ihn brauche, ist er nicht da? Er könnte mich mit Sicherheit aufmuntern oder würde den Laden hier aufmischen. Ich muss zugeben, dass ich ihn wirklich vermisse - das habe ich nicht vermutet. Wir sind uns den ganzen Tag nicht begegnet.
Ich begebe mich nach draußen und treffe dort mein Pilgertrio. Sie sind wie immer gut drauf, aber als sie mich ansehen, wechseln sie die Farbe und fragen mich was passiert ist, warum ich so verzweifelt drein schaue. Ich liefere meine Geschichte ab und sie sind entsetzt, dass der kleine Ruddi, der keiner Fliege was zu leide tut, die Räume nicht betreten darf. Sie versuchen mich zu beruhigen. Lachend und scherzend raten sie mir, ich sollte das mal positiv sehen, ich hätte immerhin ein Zimmer für mich ganz alleine. Außerdem müsse ich das Schnarchen, Pupsen und Rumoren der anderen nicht ertragen. Achim ist es, der mir zeigt, wo das Badezimmer und die Toiletten sind. Er ist erstaunt, dass das die Herbergsleute nicht gemacht haben. Es gibt zwei Duschen, eine Toilette und ein Waschbecken in dem winzigen Raum. Die meisten Leute haben bereits geduscht. Die Luft hier drin nimmt mir den Atem. Es ist feucht und unangenehm warm. Ich komme mir vor, wie in einer Sauna. Die abgetrennte Toilette ist so eng, dass man einen Plan braucht, wenn man sie - ohne sich zu stoßen - benutzen möchte. In diesem Kabuff gibt es noch nicht einmal Licht, auch kein Fenster. Es geht hier zu, wie in der City zur Hauptverkehrszeit.
Nein, das ist nichts für mich! Ich meine: Jeder soll tun und lassen, Was er will. Die Mehrzahl der Pilger will in einer Herberge übernachten, es gehört für sie dazu - ich akzeptiere das. Aber ich persönlich brauche nach den Strapazen des Tages abends meine Intimsphäre, eine Dusche, die ich genießen kann, solange ich will, saubere bereitgelegte Handtücher, ein frisch bezogenes Bett und Ruhe, damit ich mich in der Nacht wirklich erholen kann. Das ist meine Belohnung, mein Luxus, den ich mir verdient habe.
Als wir wieder draußen sind, gesellen sich noch eine Frau namens Pia und Sören aus Dänemark zu uns und sind aufrichtig an meinem Schicksal interessiert. Sie geben alles, um mich aufzuheitern. Ich tu so, als hätten sie Erfolg. Sicher ist, dass sie mir alle gut tun und ich mich glücklich schätzen darf, sie um mich zu haben. Ich bin nicht alleine auf diesem Weg und erinnere mich daran, dass ich nicht rumheulen wollte - egal, was passiert. Und dann erscheint auch noch Edit aus Ungarn. Sie freut sich sehr, mich hier anzutreffen. Nachdem auch sie Bescheid weiß, nimmt sie mich tröstend in den Arm.
Wir beide besuchen die benachbarte Bar. Edit ist anders als alle anderen. Sie will meine Stimmung nicht ändern, sondern leidet von Herzen mit mir. Sie streichelt meine Hand, sieht mir in die Augen und sagt auf Englisch so etwas wie: „Nimm es, wie es ist. Es ist immer ein Geschenk, auch wenn es im Augenblick noch nicht so scheint. Ich kann Deine Enttäuschung darüber, dass Dein Hund abgelehnt wird, nachvollziehen. Das tut im Herzen weh. Ich weiß das.“ Auch diese verständnisvollen Worte beruhigen mich nicht.
Ich muss weg! An der Bar frage ich nach einem Taxi. Das können sie mir bestellen, dauert aber eine Weile und kostet bis Los Arcos so um die 20 Euro. Da ich morgen auch wieder hierher zurück fahren müsste - ich will ja schließlich jeden Meter des gesamten Jakobswegs selbst laufen - wären das dann 40 Euro. Das ist auf jeden Fall zu viel. Vor allem weiß ich nicht, was mich dort erwartet.
Plötzlich umarmt mich jemand von hinten und sagt: „Ich habe gehört, was passiert ist. Darf ich mich zu Euch setzen?“ Ich staune nicht schlecht, als ich Ina erkenne. Nun sind fast alle da, die ich näher kennen gelernt habe auf dem Jakobsweg. Das beeindruckt mich sehr. Sie wiederum stellt eine ganz andere Frage: „Was ist es denn genau, das Dich so mitnimmt?“ Tja, jetzt muss ich wohl mal ans Eingemachte gehen: „Ich liebe Ruddi sehr und verstehe nicht, dass sie ihn ausschließen. Das ist schlimmer, als wenn es mich betreffen würde. Ich habe außerdem eine Spinnenphobie und muss noch dankbar dafür sein, dass ich auf diesen dreckigen Matratzen schlafen darf. Ich möchte es mir abends nach den Strapazen des Tages in einer Pension gut gehen lassen und das geht heute nicht. Ich will duschen und kann das hier nicht tun, weil ich nicht so freizügig bin, vor fremden Menschen nackt hin und her zu springen. Zu allem Überfluss und für mich vollkommen unerwartet, vermisse ich Hermann. Ich will eigentlich nur weg hier!“ Ich fange tatsächlich in dieser voll besetzten Bar an zu heulen - ich kriege mich gar nicht wieder ein. Dicke Tränen fließen über mein Gesicht, ich schluchze sogar. Mir gehen die Nerven durch. Ich schäme mich. Edit weint mit mir und nimmt mich wieder in den Arm. Ina sagt: „Es ist in Ordnung, dass Du Deine Gefühle raus lässt. Wir wissen doch alle, dass jeder mindestens einmal während dieser Pilgerreise weint. Der eine früher und der andere später. Bei Dir ist eben heute so.“
Nach fast einer Stunde gehen wir wieder zur Herberge zurück. Auf meinen Matratzen liegt immer noch keine Decke. Dafür haben sich einige Pilger um den Kamin versammelt, in dem jetzt ein Feuer brennt. Ist denen eigentlich klar, dass sie in meinem Zimmer sitzen? Meine Freunde sind zum Duschen gegangen und so setze ich mich mit in die Runde. Ich sehe mit Sicherheit total verheult aus. Es ist mir aber zu meiner Verwunderung ziemlich egal. Sören lässt sich neben mir nieder und sieht mich genau an. Er weiß, dass meine Nerven blank Hegen. Ich sage, wieder mit Tränen in den Augen: „Ich will weg.“ Ich kenne diesen Menschen erst eine Stunde, aber seine Umarmung und sein Lächeln beruhigen mich, bringen mich sogar zur Vernunft. Wie kann es sein, dass man sich auf dem Camino nach so kurzer Zeit so vertraut ist?
Wir werden zum Abendessen gerufen. Es ist für mich keine Frage, dass ich Ruddi in seine Tasche packe und mitnehme. Sollen sie mich doch rausschmeißen! Ich lasse es gerne darauf ankommen. Wenn ich ihn hier unten alleine lassen würde, könnten wir ihn mit Sicherheit im Speiseraum heulen hören - dann müsste ich auch gehen. Mit einem aufgesetzten Lächeln betrete ich also mit einer übergroßen „Handtasche“ das Esszimmer und suche mir den hintersten Platz auf einer der langen Holzbänke aus. Achim erkennt meine Not, nimmt mir die Tasche ab, stellt Ruddi neben sich auf dem Boden ab und meint: „Jetzt soll mal einer was sagen!“
Nach dem Tischgebet - habe ich als Kind mit meiner Oma das letzte Mal gemacht - wird das Essen serviert. Es gibt Reis mit einer Fleisch-Gemüse-Soße beziehungsweise für Vegetarier auch ohne Fleisch. Das Essen schmeckt viel besser als ich erwartet habe. Ich nehme sogar Nachschlag. Sabrina hilft fleißig und gut gelaunt in der Küche. Aber allzu lange lassen sie sie nicht schuften. Da nach dem Essen die Gebetsstunde stattfindet, wird die Tischrunde relativ bald aufgelöst. Ich schätze, dass die Hälfte der Leute bleibt - Edit übrigens auch. Sie ist sehr gläubig und besucht jeden Abend eine Messe. Die anderen verteilen sich im Ort. Ina hat beim Essen neben mir gesessen. Wir beide verlassen sehr körpernah - damit die Hundetasche nicht auffällt - hintereinander den Raum.
Als ich meine Jacke aus dem Rucksack holen will, fällt mir auf, dass ich immer noch nicht die versprochene Decke bekommen habe. Ich reklamiere das und der Herbergsvater überlegt, wo er die herholen kann. Dann geht er in den Aufenthaltsraum, in den ich vorhin einen Blick geworfen habe und entsetzt darüber war, wie schmutzig es dort ist. Eine uralte Couch wurde mit einer Wolldecke „dekoriert“. Das heißt, dass sich hier die Pilger - bestimmt auch vor dem Duschen - rumlümmeln und die geschundenen Füße hochlegen. Diesen Lumpen nimmt er, schüttelt ihn aus und will ihn mir auf die Matratzen legen. Das geht gar nicht! Ich werfe ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und sage: „Das ist nicht Dein Ernst! Die nehme ich nicht! Hast Du keine saubere Decke für mich?“ Es ist ihm sichtlich peinlich und er besorgt schleunigst eine andere. Diese ist wesentlich frischer. Ich bin dankbar, dass ich mitbekommen habe, was er mir da aufs Bett legen wollte.
Ina und ich besuchen wieder die Bar nebenan. Es ist ein kleines Lokal, aber es passen erstaunlich viele Leute rein. Es ist ein munteres Publikum bestehend aus Einheimischen und Pilgern. Ich habe mich wieder gefangen und ergebe mich meinem Schicksal. Während des Essens fasste ich den Entschluss, Edit's Rat anzunehmen und somit also diese Situation als Geschenk. Ich werde ab sofort den Abend ganz bewusst wahrnehmen und bin gespannt, was er für mich bereithält.
Nachdem ich „weich“ geworden bin, kann ich endlich wieder fröhlich sein. Ina und ich lassen das Erlebte noch einmal Revue passieren, aber von der humoristischen Seite. Mir laufen wieder die Tränen - diesmal vor Lachen. Die gute Laune an unserm Tisch zieht auch noch andere an und so sind wir beide nicht lange alleine. Da klingelt doch tatsächlich mein Handy. Es dauert ein bisschen, bis ich das realisiert habe. Wer kann das denn sein? Gespannt melde ich mich und glaube, ich träume: Das ist Hermann! Ich hatte ihm in den ersten Tagen meine Nummer gegeben, bis jetzt hat er noch nie angerufen. Nun erzählt er mir: „Ich war heute so gut unterwegs, dass ich gleich durchgelaufen bin, bis nach Los Arcos. Ich bin hier in einer tollen Herberge und ich fände es schön wenn Du auch hier wärst. Wo bist Du denn?“ Ich bin froh, dass ich mittlerweile locker antworten kann: „In der Herberge von Villamayor de Monjardín. Ich habe eine Menge zu erzählen, wenn wir uns wieder mal sehen. Du bist über 30 Kilometer gelaufen? Ich glaub es ja nicht! Wahnsinn! Wie fühlt sich das an?“ „Mir geht es richtig gut! Kommst Du? Bestell Dir ein Taxi, ich warte auf Dich!“ Da hat er doch tatsächlich das böse Wort gesagt. Taxi?! Einen Moment überlege ich, doch noch hier abzuhauen, aber ich lass es. Das passt nicht zu meinem Entschluss. Mein Pilgerfreund ist zwar traurig, quengelt auch noch ein bisschen. Aber letztendlich akzeptiert er meinen Entschluss.
Ich bin richtig glücklich darüber, dass er an mich denkt und meine Gesellschaft wünscht. So eine Situation hat sich in den letzten Jahren nicht für mich ergeben. Zuhause habe ich meine Familie und einige Bekannte, mit denen ich mich ziemlich regelmäßig treffe. Aber das ist was anderes. Ich habe seit langer Zeit keine neuen Menschen kennengelernt, keine Ahnung mehr davon, ob sie mich um sich haben wollen würden. Das ist ein schönes Gefühl und tolles Geschenk. Es hat mich gestärkt. Ina freut sich mit mir.
Nach ungefähr einer Stunde beschließen Ina und ich, schlafen zu gehen. Wir werden morgen zusammen starten. Mal sehen ob wir vielleicht doch das gleiche Tempo haben. Auf dem Nach-Hause-Weg begegnen uns Sören, Pia, Edit, Sabrina, Oliver, Achim und Phil, der Praktikant der Herberge. „Wo geht Ihr hin?“ fragen sie. „Schlafen!“ antworten wir. „Nein, ihr kommt mit in die Bar!“ Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und drehen uns auf dem Absatz um. Nun kommen wir das dritte Mal zur Tür herein. Die Wirtin muss lachen. Wir setzen uns alle zusammen an den größten Tisch. Oliver nimmt sich Ruddi auf den Schoß und krault ihn ein bisschen hinter den Ohren. Das lässt er sich gerne gefallen und verdreht die Augen. Übrigens ist hier drinnen jeder - ohne Ausnahme! - von meinem Schnurzel angetan. Er kann sich frei bewegen. An jedem Tisch und sogar an der Bar gibt es für ihn kleine Leckereien. Wir haben einen richtig tollen Abend. Es wird getrunken und rumgealbert. Wir finden kein Ende. Meine Verzweiflung von heute Nachmittag ist wie weggeblasen. Das ist also das nächste Geschenk für mich.
Um 22 Uhr wird die Herberge abgeschlossen. Dann müssen wir wohl bald gehen, sonst schlafen wir doch noch auf der Straße, denke ich. Falsch gedacht! Wir haben den Praktikanten - und der hat einen Schlüssel. Also bleiben wir und machen zusammen mit den Wirtsleuten um Mitternacht das Licht aus. Wir sind sehr ausgelassen. Hoffentlich haben wir keinen geweckt. Der ein oder andere Hund hat bereits Alarm ausgelöst. Wir versuchen, uns gegenseitig zur Ordnung zu rufen. Aber es bleibt bei dem Versuch. Phil spaziert mit uns im Mondlicht noch ein bisschen durch das Dorf und rund um das riesige Anwesen der Herberge. Er kommt auf die Idee, in einer Scheune noch eine Flasche Wein zu trinken. Es ist Vollmond - eine schöne Nacht, aber eiskalt. Edit und ich ziehen es vor, uns ins „warme Bett“ zu „kuscheln“.
Edit kann aber nicht ins Bett, weil der Treppenaufgang abgeschlossen ist. Wir machen es uns gezwungener Maßen in „meinem Kaminzimmer“ gemütlich. Die Glut gibt noch ein bisschen Wärme ab. „Solange werden die anderen nicht draußen bleiben. Es ist viel zu kalt“, überlegen wir. Nach einer halben Stunde ist der „Ofen aus“ und Edit sitzt immer noch bei mir. Sie war zwischenzeitlich vergeblich auf der Suche nach den Weintrinkern. Ich biete ihr wiederholt eine meiner Matratzen an, aber sie lehnt - verständlicherweise - dankend ab. Immer wieder versucht sie, die Tür zur Treppe zu öffnen. „Die kann doch nicht abgeschlossen sein. Was, wenn es mal brennt? Und wenn ich nachts mal muss?“ Wir malen uns amüsiert die tollsten Situationen aus, die so eine verschlossene Tür hergibt. Soviel Fantasie gemischt mit Alkohol und Müdigkeit ist wohl für Außenstehende unerträglich. Wir beide haben jedenfalls unseren Spaß.
Nach einer ganzen Stunde kommen die anderen endlich „nach Hause“, Edit darf in ihr Bett und Achim, Sabrina und Oliver gesellen sich noch ein bisschen zu mir. Sie setzen sich auf die Hocker, die vor dem Kamin stehen und unterhalten sich ganz leise. Ich habe mich mittlerweile auf meinem Lager niedergelassen und halte die Klappe. Das leise Reden lässt mich zur Ruhe kommen. Ich sehe es als die große Chance, überhaupt einschlafen zu können.
Sabrina sieht zu mir rüber. Sie denkt, dass ich bereits schlafe und sagt zu den Jungs: „Ich glaube, wir müssen ins Bett gehen. Birgit wird sonst wieder wach.“ Ich murmele aus dem Schlafsack: „Nein, bitte bleibt noch und erzählt weiter. Das beruhigt mich. Ich genieße es, wie ein kleines Kind ein Märchen.“ Sie schmunzeln. Sabrina erkundigt sich noch bei mir, ob jetzt alles in Ordnung sei. Ich antworte nur knapp: „Ja, geht schon. Siehst Du irgendwo eine Spinne oder so?“ Sie kommt zu mir, schenkt mir eine Umarmung, wie ich sie in diesem Moment von meiner Tochter bekommen hätte, drückt mir ein Küsschen auf die Wange und sagt schlicht und ergreifend: „Alles ist gut. Schlaf schön.“ Ich weiß jetzt wieder, wie sich ein ängstliches Baby fühlt, wenn die Mutter es beruhigt. Das war das schönste Geschenk heute.
Ruddi liegt am Fußende leise schnarchend in seinem Hunde-Bett, das mit Sicherheit jeden Abend dasselbe ist.