gleicher Tag (insgesamt 481,6 km gelaufen)
Virgen del Camino (2676 Einwohner), 906 m üdM, Provinz León
Hotel, Doppelzimmer, 40 Euro ohne Frühstück
Geschafft! Ich bin nach 20 Kilometern, aus denen ich schätzungsweise 23 gemacht habe, weil ich mich in der City andauernd verlaufen habe, endlich an meinem Etappenziel Virgen del Camino angekommen. Dieser Ort ist relativ groß, da finde ich bestimmt schnell eine Unterkunft. Ich bleibe einfach auf der Hauptstraße, die auch der offizielle Camino ist. Es dauert eine Weile, aber kurz vor dem Ortsausgang finde ich ein Hotel. Mal sehen, ob sie noch ein Zimmer frei haben.
Ich betrete eine vornehme, moderne Eingangshalle. Es gibt tatsächlich eine richtige Rezeption. Das ist ein großes, sehr gutes Hotel. Ich blicke auf mindestens sechzig Gästepostfächer und es steht sogar ein Computer bereit, in den die Personalien eingegeben werden. Wow! Dafür, dass ein Pilger normalerweise in einer Herberge nächtigt, ist das ganz schön überkandidelt. Wird ein bisschen teurer, aber das habe ich mir heute verdient. Egal jetzt!
Die Señorita begrüßt mich außerordentlich freundlich, sie spricht sogar ein wenig Deutsch. Der Tresen ist sehr hoch, ich kann mit meinem Metersechzig so gerade darüber sehen. Hat natürlich den Vorteil, dass sie meine Pilgerklamotten, - von der Hitze der Großstadt ziemlich mitgenommen - meinen Rucksack und vor allem Ruddi nicht sehen kann.
Bereitwillig nimmt sie meinen Ausweis entgegen und weist mir ein Zimmer zu. Sie nennt mir den Preis und überlässt es mir, sofort oder morgen zu bezahlen. Ich zahle sofort, dann hab ich das aus den Füßen und muss morgenfrüh hier nicht Schlange stehen. Wer weiß, wie viele Gäste sich gerade in diesem Haus aufhalten.
Als sie um den Tresen herumkommt, um mich persönlich auf mein Zimmer zu begleiten, wird sie sich des Ausmaßes ihres Tuns erst bewusst. Der Moment ist gekommen, in dem sie meinen Hund entdeckt. Sie bleibt entsetzt stehen und macht mir klar, dass sie das leider nicht zulassen kann. „No perro. Lo siento (keine Hunde, tut mir leid)“, sagt sie freundlich, aber bestimmt. Ich will aber hierbleiben! Also starte ich eine Bettelaktion: „Señora, ich habe ein eigenes Hundebett dabei.“ Sofort fange ich an, meinen Rucksack auszupacken, um es ihr zu zeigen. Sie will mich stoppen und schüttelt verneinend den Kopf.
Ich ignoriere sie, hole entschlossen das Hundebett raus und lasse Ruddi hineinspringen. Sofort legt er sich hin. Ich ziehe den Reißverschluss zu und sage: „Selbst wenn er wollte, könnte er nicht aus dieser Tasche raus.“ Sie schüttelt verneinend den Kopf: „Lo siento, señora!“ „Aber sehen Sie sich das doch mal an: Er schläft doch schon! Wir beide sind heute Morgen in Puente de Villarente gestartet und völlig am Ende. Sie können uns doch nicht wegschicken. Sie haben bereits so viel Arbeit mit den Personalien gehabt und ich hab doch auch schon bezahlt. Bitte!“ „Wenn das jemand merkt, bin ich meinen Job los.“ „Ihn wird niemand bemerken, er ist viel zu müde. Er will jetzt nur noch liegen. Bellen ist ihm auch zu anstrengend. Sie können mir vertrauen. Ich mache das jetzt schon seit guten drei Wochen und er war noch nie ein Problem.“ Ein bisschen Schwindeln ist erlaubt, oder? Ich erzähle ihr lieber nicht, dass ich ihn ab und zu Schmuggel. Nicht, dass sie all ihre Hotelkollegen bis Santiago de Compostela vorwarnt.
Anscheinend habe ich die richtigen Worte gefunden. Sie fasst sich ein Herz und bringt uns schnell aufs Zimmer. Ich bin begeistert. Mein Reich für eine Nacht ist genauso vornehm wie die Rezeption es verspricht. Alles blitzt und blinkt. Das Interieur wurde liebevoll und erst vor kurzem ausgesucht. Das Bett ist superbequem und groß. Das Bad ist ein Traum und lädt zum Entspannen ein. Es gibt keinen plumpen Lichtschalter - nein! Es gibt einen Schlitz in der Wand, in den man seine Karte stecken muss, damit es hell im Zimmer wird. Das Kämpfen hat sich gelohnt. Als meine Gönnerin Ruddi schlafend in der hingestellten Tasche und das Leuchten in meinen Augen sieht, ist ihr endlich klar, dass sie alles richtig gemacht hat. Zufrieden gibt sie den Raum endgültig frei.
Nach dem Duschen und Wäschewaschen geht es mir deutlich besser, als den ganzen Tag über. Vor dem Essen muss ich einige Blocks weiterlaufen, um Ruddi nochmal Pinkeln zu lassen. Ich will natürlich nicht, dass ihn vom Hotel aus irgendjemand sehen kann. Ich weiß ja nicht, wer da der Chef ist und der freundlichen Rezeptionistin doch noch Ärger macht.
Plötzlich habe ich das Bedürfnis, mich bei meinen Eltern zu melden und rufe sie an. Die Freude ist groß und sie wollen ganz viel wissen. Ich erzähl ihnen das Aktuellste, heißt, wie ich heute durch León gelaufen, an mein Zimmer gekommen bin und wie schön es ist. Von den Qualen, die mir eine Großstadt bereiten, habe ich aber nichts gesagt. Das hat ja noch Zeit. Außerdem muss ich das nicht nochmal durchleben - und das würde ich zweifelsfrei, wenn ich darüber spreche. Dieses kurze, knackige Telefonat hat mir richtig gut getan und Kraft gegeben.
Mit Ruddi in meiner „großen Handtasche“ gehe ich ins Hotel zurück. In dem piekfeinen Comedor sind nur zwei Tische belegt. Ich wähle einen, der etwas abgelegen ist und setze mich auf den Stuhl an der Wand, damit möglichst keiner aus Versehen vor Ruddi’s Bett tritt. Das Essen ist ebenfalls ein Traum. Ich trinke zwei, drei Gläser Rotwein und genieße den Abend in vollen Zügen ganz alleine.
Fast zwei Stunden später liege ich zufrieden im Bett, mache noch ein paar Notizen in meinem Reiseführer, schau mir beeindruckt die Fotos der letzten Tage an und falle dann in einen tiefen Schlaf, ohne auch nur noch einen einzigen Gedanken fassen zu können.