Mittwoch, 30. April 2008
Villalbilla de Burgos (720 Einwohner), 833 m üdM, Burgos
16. Etappe bis Hontanas, 25 km
Völlig entspannt wache ich am Morgen auf und beschäftige mich als erstes mit meiner am Vorabend vernachlässigten Kleidung. Nach einer liebevollen Handreinigung dekoriere ich gekonnt meinen Rucksack mit ihr. Um Missverständnissen aus dem Weg zu gehen stecke ich meine „Pilger-Reizwäsche“ in die Seitennetztaschen. Nicht, dass mir da einer falsche Schlüsse zieht, wenn sie bei meiner Wanderung „sinnlich“, von einer leichten Brise animiert, genussvoll hin und her schwingt.
Gegen halb neun sitze ich bei einem gemütlichen Frühstück in der Hotelbar. Ruddi darf noch ein bisschen in seiner Tasche schlafen. Er soll bis zu meiner „Abreise“ unser kleines Geheimnis bleiben, schließlich wollen wir das „No-Perro-Schild“ an der Eingangstür achten. Ich schmunzele bei dem Gedanken an das weit verbreitete deutsche Vorurteil, dass die Spanier Hunde hassen. Auf dem Jakobsweg spüre ich nichts davon. Im Gegenteil: Sie widersetzen sich fast immer den ihnen, wahrscheinlich amtlich, auferlegten Vorschriften und lassen uns einkehren und übernachten. Der hiesigen Hotelbesitzerin schicke ich in Gedanken nochmal ein ganz fettes DANKE FÜR ALLES. Leider ist sie weit und breit nicht zu sehen.
Voller Erwartung machen wir uns gegen neun Uhr an die heutige Etappe. Jetzt geht es ab in die Meseta. Die knapp 180 Kilometer durch die Hochebene zwischen Burgos und León fahren viele Pilger mit dem Zug. Es heißt, es sei zu langweilig, zu heiß, zu trocken und zu einsam auf den langen Streckenabschnitten zwischen den Dörfchen.
Ich mache mir so meine Gedanken über diese Meinungen: Was meinen die denn mit „zu langweilig“? Für mich ist es spannend, in Ermangelung anderer Pilger die Einheimischen kennenzulernen oder in einer kleinen Bar zu sitzen und den Ort einfach auf mich wirken zu lassen, das außergewöhnliche, so vollkommen andere Leben und die Energie dieser Menschen hier nachzufühlen, in aller Ruhe die letzten Kilometer in all ihrer Vielseitigkeit auf mich wirken zu lassen. Ob es in der Meseta zu heiß ist, hängt ja wohl vom Wetter ab. Solange die Sonne nicht erbarmungslos knallt, halten Ruddi und ich das gerne durch. Zu trocken? Damit ist gemeint, dass es auf den langen Abschnitten zwischen den Dörfern keine Trinkwasserbrunnen geben soll. Ja und? Da nehme ich mir doch glatt ne XXL-Flasche Wasser mit. Ich durchquere ja nicht die Sahara, sondern die Meseta in Nordspanien. Tja, die Einsamkeit - sucht sie nicht der Pilger? Ach ja, jeder Wallfahrer hat ja eine andere Vorstellung von „seinem Weg“- Ich gehöre zu der Gattung, die die Einsamkeit meist sehnsüchtig erwartet und genießt. Ich habe jetzt ein gutes Drittel des Camino Francés zurückgelegt und festgestellt, dass jeder Tag ein Wechselbad der Gefühle und Erfahrungen erzeugt. In einem Moment ist man einsam und verlassen und im nächsten trifft man in einer Ortschaft, oder der darin liegenden Bar, Menschen, die einen freudig begrüßen. Seien es nun „Artgenossen“ oder die Ansässigen. Es herrschen immer Trubel und Heiterkeit.
In Rabé de las Calzadas genehmige ich mir nach sechs Kilometern einen Café con leche und kaufe die eben erwähnte Wasserflasche, denn der nächste Abschnitt erstreckt sich über acht Kilometer bis nach Hornillos del Camino. Erstaunlich fit machen wir uns daran. Der Himmel ist gnädig, er lässt seine Wolken über uns hinweg ziehen und so laufen mein kleiner schwarzer Vierbeiner und ich auf Hochtouren - im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Wege durch die Meseta liegen knapp 1000 Meter über dem Meeresspiegel.
Ich kann es kaum fassen, aber ich bin in den letzten 16 Tagen fast 300 Kilometer gelaufen. Ruddi spielt bestens mit, mein Rucksack beinhaltet alles, was ich brauche und ich selbst habe die eine oder andere körperliche Grenze überschritten. Achim und Oliver sind schon wieder in Deutschland im Alltagstrott unterwegs, Sören und Pia sind durch ihre Bahnfahrt weit voraus irgendwo hinter León, aber wo stecken wohl Sabrina, Edit, Ina und Hermann. Ob ich sie nochmal treffe? Das Pilgern fühlt sich auf einmal ganz anders an. Bis vor ein paar Tagen sind wir immer wieder aufeinander getroffen und fühlten uns sehr eng verbunden. Ich vermisse sie. Andererseits bin ich nun ohne die durchaus willkommene Ablenkung meiner Pilgerfreunde, deutlich näher bei mir selbst. Ich nehme andere Menschen, die Landschaft und mich noch intensiver, eben auf eine ganz andere Art wahr. Hinzu kommt, dass der Jakobsweg - zumindest jetzt gerade - sich in der Meseta von seiner angenehmen, einfachen Seite zeigt. Der Camino präsentiert sich leicht und ohne gefährliche Stolperfallen. Nur ab und zu gilt es, kurze, steile Wege zu bewältigen. Meine Augen genießen den endlosen Horizont und das saftige Grün der Felder.
Gegen 14 Uhr erreichen wir Hornillos del Camino. Die erste Bar gehört uns. Ruddi stellt sich sofort neben meinen Rucksack und gibt mir mit seinem durchdringenden Hundeblick deutlich zu verstehen, dass ich gefälligst sofort seine Decke herausnehmen und schön ordentlich hinlegen soll, damit er es sich so richtig gemütlich machen kann. Natürlich erledige ich das prompt, diesen Service hat er sich redlich verdient.
Erst beim Ablegen meines Rucksacks werde ich an die Klamotten erinnert, die die ganze Zeit fröhlich im Wind wehten. Also erledige ich meine - zurzeit einzige - hausfrauliche Arbeit: Die Wäsche ist tatsächlich trocken. Hochkonzentriert „hänge ich sie ab“, lege sie akkurat zusammen und räume sie in die jeweiligen Beutel, die ich aus meinem Rucksack gekramt habe. Was für ein Akt, mitten in einer Bar: Rucksack auf, Beutel raus, Beutel auf, Wäsche rein, Beutel zu, anderes Zeug aus Rucksack raus, Beutel rein, anderes Zeug rein, Rucksack zu - das erinnert mich an meine allererste Nacht in St Jean Pied de Port mit den Münchner Mädels. Jetzt bin ich diejenige, die auffällt. Als ich mit hochrotem Kopf (ich hatte schließlich Waschtag) aus der gebückten Haltung wieder hochkomme, auf meinem Stuhl Platz nehme und meinen Blick schweifen lasse, stelle ich fest, dass fast alle Augen auf mich gerichtet sind. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten mir applaudiert.
Es sind die Einheimischen, die mich beobachtet haben und ihren Spaß hatten. Wohlwollend lächeln sie mir zu und einer von ihnen bringt mir sogar den bestellten Café con leche an den Tisch. In dem Moment, in dem er die Tasse vor mir abstellt, atme ich tief durch und lasse die Flügel hängen. Ich bin halt fix und fertig. Um mich zu bedanken, sehe ich ihn an. Mein Blick muss wohl ziemlich verzweifelt dumm sein, seiner hingegen ist bewundernd amüsiert, angesichts der Anstrengungen, die Pilger so zu bewältigen haben. Mir wird bewusst, wie komisch diese Situation auf die Leute wirken muss. Wir prusten ungeniert los und dann kann und will niemand mehr die Contenance wahren. Das Lokal bebt von dem lauten Gelächter. Wir unterhalten uns noch eine Weile „ganz entspannt“ mit Händen, Füßen und viel sagenden Grimassen.
Da noch fast elf Kilometer bis zum Etappenziel vor uns liegen, machen wir uns schon bald wieder auf den Weg. Hontanas ist ein kleiner Ort mit nur 65 Einwohnern. Laut meinem Reiseführer gibt es dort zwar Herbergen, Hotels und Pensionen, aber ich will nicht das Risiko eingehen, durch zu spätes Erscheinen, kein freies Bett mehr zu bekommen. Der nächste Ort ist nämlich schlappe zehn Kilometer weiter. Soweit reicht mein „Sprit“ nicht!
Die heutige Etappe ist 25 Kilometer lang. Die letzten fünf kommen mir doppelt so weit vor, wie die 20 vorherigen. Nimmt das heute wirklich noch ein Ende? Ich entdecke jedenfalls, so weit meine Augen gucken können, keine Ortschaft. Bis zum Horizont sehe ich nichts als Wiesen, Felder und Hügel. Das kann doch gar nicht sein! Ich bin doch immer schön gelaufen, Ruddi ist ebenfalls fit, also so weit ist Hontanas auf keinen Fall mehr weg. Hab ich mich etwa verlaufen? Es ist lange her, dass ich einen gelben Pfeil gesehen habe. Wegweiser braucht es in der Meseta natürlich auch nicht so viele, weil es ja immer nur geradeaus geht. Ich gehe in Gedanken nochmal den Weg aus Hornillos del Camino und sehe klar und deutlich die gelben Pfeile an den Hauswänden und auf der Straße, denen ich immer brav gefolgt bin. Also kann ich mich nicht verlaufen haben. Sollte ich mich denn so verschätzen? Wenn ich noch so weit laufen muss, wie mein Auge reicht, dann wird es eng heute mit meiner Energie, Kraft und Zeit.
Was nützt all die Aufregung? Nicht mehr denken, einfach Laufen und sehen was passiert. Ich beruhige mich wieder, schaffe es, die negativen Gedanken mit den Wolken ziehen zu lassen. Nach drei, vier Kilometern überhole ich ein altes spanisches Ehepaar, das um seine Felder spaziert. Ich spreche die beiden an, wie weit es wohl noch bis Hontanas sei. Sie zeigen westwärts und sprechen beruhigend auf mich ein. Ich entnehme ihrem Verhalten, dass ich wohl gleich da sein müsste. Sie gehen sogar ein Stück mit mir zusammen. Als ich wieder alleine bin, frage ich mich immer noch, wo denn dieses Hontanas sein soll. Nichts versperrt hier die Sicht in die Ferne. Bin ich denn nicht bei mir? Ich sehe keine Ortschaft, nicht einmal eine Hütte. Ich sehe nur Landschaft. Aber irgendwo muss ja auch das alte Ehepaar hergekommen sein. Irritiert setze ich einen Fuß vor den anderen, Meter für Meter. So laufe ich sicher noch einen ganzen Kilometer, ohne neue Entdeckungen zu machen. Ich drehe mich um und stelle fest, dass das freundliche Pärchen zwar weit entfernt ist, aber auch in diese Richtung geht.
Kurz vor dem Durchdrehen, liegt Hontanas plötzlich und längst nicht mehr erwartet vor mir in einer tiefen Kuhle. Dieser Ort versteckt sich also vor dem Pilger in einem Erdloch. Andächtig bleibe ich stehen und schau mir das Unglaubliche genauer an. Hontanas ist kreisförmig angelegt und hat höchstens einen Durchmesser von drei-, vierhundert Metern. So um die 20 oder 30 Häuser liegen eng beieinander und mittendrin befindet sich die Kirche. Na, die hätte ich aber doch früher entdecken müssen, oder?! Vielleicht kann die sich ja unsichtbar machen!? Ich glaub, ich spinn! Wenn Sie, liebe(r) Leser(in) irgendwann auch mal den Camino Francés gehen sollten, werden Sie sich an diese Worte erinnern.