gleicher Tag (insgesamt 436,2 km gelaufen)
El Burgo Ranero (273 Einwohner), 878 m üdM, León
Herberge, Einzelzimmer, 15 Euro pro Person ohne Frühstück
Als erstes fällt mir auf, dass in diesem Ort ungewohnt viele LKW unterwegs sind. Sie biegen alle in die gleiche Straße ab. Nicht, dass Sie jetzt irgendeine spannende LKW-Geschichte erwartet - nein, es fällt mir einfach nur auf und ich will, dass Sie das wissen. Das war’s!
Gleich am Ortseingang befinden sich mehrere Pensionen, Cafés und Herbergen. Alle haben Tische und Stühle draußen stehen, sehen einladend aus und es sind mindestens eine Million Pilger im Umkreis von zweihundert Metern unterwegs. Ich bin mal wieder tief beeindruckt. Wo waren die den ganzen Tag? Der parallele Pilgerweg verläuft nicht über dieses Dörfchen. Egal jetzt! Ich freu mich! Der erste freie Tisch vor einem der Lokale ist meiner. Kaum sitze ich, weiß ich auch schon, dass das hier für heute Abend mein neues Zuhause sein soll. Ich muss nur gleich mal nachfragen, ob sie Zimmer vermieten. Zunächst bestell ich mir aber ein kühles Getränk und lasse die betriebsame Kulisse auf mich wirken.
Direkt mir gegenüber befindet sich eine Schafherde mit ganz vielen, ganz jungen Lämmchen. Ein ebenso junger Schäferhund hat gerade seine Ausbildung begonnen und sein Meister (anscheinend seine tierische Mama) zeigt ihm - wahrscheinlich zum ersten Mal - wie man seine Schäfchen zusammenhält. Der kleine Hund ist noch sehr unbeholfen und tollpatschig. Es ist eine Wonne, ihm zuzusehen. Ich will ja nix Falsches sagen, aber ich glaube, so manches Schaf macht ihm ne lange Nase und die Lämmchen versuchen sich mit ihm anzufreunden und auf ihre Seite zu ziehen, damit sie die komplette Weide samt der Straße erobern können. Der Schafhirt hat alle Hände voll zu tun. Aber er nimmt es mit spanischer Gelassenheit und fängt immer wieder laut an zu lachen. Ich liebe die Spanier jeden Tag mehr.
Fünfzig Meter weiter links befindet sich eine Herberge. Die ist mindestens voll, wenn nicht noch mehr. Es handelt sich unverkennbar um Pilger. Sie kümmern sich um ihre nasse Wäsche, schreiben ihre Tagebücher, knabbern an den Proviantresten des Tages, hängen in den Seilen, humpeln nach Pilgerart über den Rasen.
Ja, liebe Leser, auch nach 436 Kilometern hat der Pilger seinen ganz bestimmten ihm eigenen Gang. Sie sehen dem Wallfahrer an, dass er täglich neue Muskeln, Sehnen und Knochen in seinem Körper entdeckt, die ihm sagen: „Was Du hier seit Wochen treibst, sind wir nicht gewöhnt.“ Hämisch grinsend flüstern sie ihm zu: „Jaaaaa, wir wollen Dir wehtun! Wenn Du von Deinem Stuhl aufstehen willst, tun wir Dir weh. AAAAAH! Wenn Du in der Dusche stehst und verzweifelt versuchst Deine Füße zu erreichen, um sie zu waschen, dann: Aaauuuu, tun wir Dir weh! Jeder soll sehen, dass Du ein Pilger bist, egal was Du anhast, ob mit oder ohne Rucksack. Neiiiiin! Du kannst Dich nicht verstecken! Auch diese Nacht, wenn Du schlafen willst, wecken wir Dich immer wieder auf und tun Dir weh!”
Interessanterweise spürt der Wanderer tagsüber beim Laufen am wenigsten von den körpereigenen Biestern. Also sind sie in Wahrheit gar nicht so böse, insgeheim wollen sie es auch, wetten?
Es wird immer voller hier in dem Ort und es gibt keine freien Tische mehr. Vier Personen fragen, ob sie sich zu mir setzen dürfen. Ich stimme sofort freudig zu. Mal sehen, wen ich heute Abend näher kennenlernen darf. Sie erzählen mir, dass sie aus Österreich kommen. Es sind zwei Ehepaare, die sich schon viele Jahre kennen und zusammen das Abenteuer Jakobsweg bewältigen wollen. Sie sind gut drauf, haben einen ganz eigenen Humor, nehmen sich selbst auch gerne mal auf die Schippe und bringen mich so zum Lachen, dass mir die Tränen laufen. Wir steigen von Limo und Café con leche auf Wein um. Ich wette, wenn hier draußen Musik wäre, würden wir alle zum Tanzen bringen.
Nach geraumer Zeit fragen mich meine neuen Pilgerfreunde, wo ich denn übernachten würde. Ach du Schreck! Da weiß ich keine Antwort drauf. Es ist schon ziemlich spät geworden. Hab vor lauter Spaß ganz vergessen, ein Zimmer zu belegen. Na dann: Prost erst mal! Als die nette Bedienung uns das nächste Getränk bringt, frage ich, ob sie mir einen Übernachtungstipp geben kann. Sie lacht und zeigt auf ihr Haus. „Sí, sí, señora, aquí!“ Ich staune darüber, dass es hier überhaupt Zimmer gibt. Und dann ist auch noch eins frei! Ich zeige auf Ruddi und sehe sie fragend an. „Qué bonito, no problema. Ven conmigo! (Wie süß, kein Problem. Komm mit mir)!“ Die Österreicher sind begeistert: „Wir haben uns auch bei ihr eingemietet. Dann sehen wir uns später bestimmt noch.“
Schnell folge ich der freundlichen Spanierin die Treppe hinauf. Sie zeigt mir ein Zimmer unterm Dach. Ganz klein, ganz einfach: ein schmales Bett, ein Hocker, ein kleiner Schrank, ein Waschbecken (direkt am Fußende des Bettes), wenig Fußboden. Das hat den Vorteil, dass man - egal wie viel Wein man auch getrunken haben mag - nicht umkippen kann. Ich frage irritiert nach dem Bad. Sie legt verbindlich ihren Arm um meine Schulter und führt mich den Flur hinunter. Hinter der dritten Tür befinden sich eine Toilette und Badewanne in einem grau-schwarz gefliesten engen Raum - Punkt, nicht viel Schnickschnack - hält nur den Staub fest. Diese antike sanitäre Anlage wird von den Bewohnern dreier Zimmer gemeinsam benutzt. Jetzt weiß ich, warum ich im Arm gehalten werde. Damit ich mich von den Gegebenheiten nicht abschrecken lasse, sondern die gute Energie spüre, die zweifelsfrei vorhanden ist. „15 Euro. Okay?“ Ich höre mich sagen: „Sí, señora, okay!“
Diese Frau macht so einen mütterlichen Eindruck auf mich und plötzlich kommt mir eine super Idee in den Sinn. Und die soll man ja bekanntlich sofort umsetzen, bevor man den Glauben an das Gelingen verliert. Ganz ohne Umschweife frage ich mit Händen und Füßen danach, ob es eine Waschmaschine gibt. Ich habe heute keine Lust mehr auf der Hand zu waschen. Ich hab Hunger wie ein Bär. Das muss jetzt hier schnell gehen. Zu meiner Überraschung, nickt sie ganz aufgeregt und zeigt auf meinen Rucksack und meine Kleider, die ich noch am Leib trage. Am liebsten nähme sie sofort meine komplette Garderobe mit. Bevor sie sich doch noch anders entscheidet, springe ich hinter meine Zimmertür, reiß mir die Klamotten vom Leib, rupfe noch ein paar aus meinem Rucksack und schon sind meine Sachen mit der Frau verschwunden. Ich zieh mir schnell das T-Shirt über, das ich gleich nach dem Duschen tragen werde, lass Ruddi in sein Hundebett springen und geh lieber sofort ins Bad, bevor ich mir das noch anders überlege und das Duschen ausfallen lasse. Das sollte ich mir gerade heute nicht erlauben. Es war sehr, sehr heiß und ich habe sympathische, unterhaltsame Leute kennengelernt, die ich hoffentlich in den nächsten Tagen noch öfter treffen werde. Da darf ich keinen schlechten Eindruck machen.
So stehe ich nun, nur mit meinen Badelatschen bekleidet, in dieser Badewanne für Ich-weiß-nicht-wie-viele-Personen und bin mental so weit, dass ich mich auf das warme Wasser freue. Lauwarm soll es sein, damit mein Kopf wieder ein bisschen klarer wird und meine Körpertemperatur auf Normal herunterfahren kann. Ich nehme den Duschkopf in die Hand und drehe ein bisschen am rechten Knopf und ein bisschen am linken Knopf. Normalerweise sollte das Wasser nach einigen Sekunden wohl temperiert sein. Hier tut sich aber nichts. Ich drehe noch ein bisschen am roten Knopf, halte meine Hand unter den eiskalten Wasserstrahl und warte - und drehe - und warte - und drehe. Meine linke Hand hat gleich Gefrierbrand vom vielen Wasser. Nach ungefähr fünf Minuten muss ich akzeptieren, dass ich heute nur eiskalt duschen kann oder gar nicht.
Wo ich schon mal drinstehe und das Wasser läuft, komm ich mir noch dreckiger vor, als ich sowieso schon bin. Ich muss dadurch. Manche von Ihnen sagen jetzt bestimmt: „Na und? Kalt duschen ist ja wohl kein Problem. Mach ich jeden zweiten Tag!“ Ja, Sie vielleicht. Ich aber niemals! Das ist für mich ein absolutes No-Go. Ich habe das Gefühl, dass das Wasser direkt aus der Quelle eines sehr hohen schneebedeckten Berges kommt. Ich sehe den Wasserstrahl strafend an, in der Hoffnung, dass er sich doch noch meiner erbarmt. Oh, liebe Mitbewohner, die ihr auf euren Zimmern seid, haltet euch die Ohren zu! Ich tu’s jetzt! Beherzt - nach vielen Minuten - bringe ich mit eisernem Griff den Duschkopf in meine Richtung. Als der Wasserstrahl auf meinen überhitzten Körper trifft, fange ich sofort an, in allen Tonlagen zu jaulen, zu stöhnen und zu jauchzen. Wer das hört, glaubt in 100 Jahren nicht, dass ich hier alleine drin bin und mich lediglich waschen will. Mit vielen stoßweise hervor gepressten „ah, oh, Mama! Uh, neee, oh Gott! Woaa!“ und ähnlichen Lauten überstehe ich auch das.
Abgetrocknet, frisch angezogen und mit roten Bäckchen stehe ich nun am noch verschlossenen Ausgang dieser Folterkammer und trau mich gar nicht raus. Was, wenn ich öffne und ganz viele Leute applaudieren, angesichts so viel Theater hinter verschlossenen Bad-Türen? Ich schaue mich um und aus dem Dachfenster, überlege, ob ich wohl hinten rum abhauen kann. So’n Quatsch! Ich stelle mich jetzt der Öffentlichkeit und verneige mich einfach so tief, dass mich keiner erkennt. Natürlich steht niemand auf dem Korridor als ich ihn betrete. Vielleicht hat mich ja jemand gehört, aber höchstwahrscheinlich hat er das gleiche Dilemma erlebt und sich ins Fäustchen gelacht - was ich jetzt im Nachhinein auch tun würde, wenn komische Geräusche aus dem Bad zu hören wären.
Einige Minuten später gehe ich zum Essen runter. Der Wirtsraum platzt aus allen Nähten. Dieses Haus ist voll belegt - das steht fest. Die Österreicher, die übrigens Luigi, Heinz, Karoline und Monika heißen, haben mir tatsächlich einen Platz an ihrem Tisch reserviert und halten schon Ausschau nach mir. Fröhlich winkend rufen sie mich heran. „Wo bleibst Du denn? Wir haben schon gedacht, Du wärst gleich schlafen gegangen!“ Ich antworte mit einem - mittlerweile gespieltem - leicht gequälten Gesichtsausdruck: „Na ja, ich brauchte einen Moment, bis ich mich an das eiskalte Wasser in der Dusche gewöhnt hatte. Aber ihr wisst ja wovon ich rede!“ „Gehst Du immer kalt duschen?“ Und die beiden Frauen direkt und wie aus einem Munde: „Respekt, das könnte ich nicht. Warum machst du so was?“ „Hattet Ihr etwa heißes Wasser?“ Vorsichtig kommt die Antwort: „Joooh...“ Nur Heinz hält sich etwas zurück und meint: „Da waren bestimmt zu viele hintereinander duschen, bei mir war es schon nur noch lauwarm.“ Was soll ich dazu noch sagen? Wer zu spät kommt, den erwischt es eben zuweilen eiskalt!
Wir haben an diesem Abend noch eine Menge Spaß und finden den Absprung viel zu spät. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns bald wieder über den Weg laufen, denn so eine unschuldige Gaudi muss man einfach so oft erleben wie es eben geht. Da mein Zimmer sehr übersichtlich ist, finde ich ruckzuck ins Bett und in den Dämmerzustand. Ruddi ist froh, als endlich Ruhe herrscht. Ich höre noch kurz in mich hinein und vernehme deutlich die Worte: Genieße - lass los - freu Dich - geh weiter - sei glücklich - bleib offen... Mehr krieg ich nicht mehr mit, bin im „Weingebiet“ der Träume angekommen.