Samstag, 19.April 2008
Villava (9575 Einwohner), 430 m üdM, Navarra
5. Etappe bis Uterga, 21,4 km
Der Muskelkater ist immer noch sehr stark heute Morgen. In der Nacht wurde ich wieder bei jeder Bewegung wach. Meine neue Taktik lautet: Soweit es geht, ignorieren. Mein Gang gleicht immer mehr dem einer Ente. Ich bin unfähig, die Füße abzurollen und die Beine sind steif. Also watschele ich über mich selbst lachend zum Frühstück. Ruddi wird wieder getragen und ich überlege wie ich es am unauffälligsten bewerkstellige, ihn zuerst einmal nach draußen zu lassen. Wahrscheinlich interessiert es keinen Menschen, ob ich raus gehe oder nicht. Aber man weiß ja nie.
Ich erreiche durch das riesige Foyer den Frühstücksraum, der so um die 30 Tische bietet. Es sind nur drei besetzt - das Personal und die anderen Gäste haben also viel Raum und wenig Ablenkung von mir. Mit der Angst im Nacken mein Hund würde gleich entdeckt, gehe ich erst mal zu Hermann, der schon bei einem Café con leche sitzt und sage laut und deutlich: „Ich muss vor dem Frühstück unbedingt frische Luft schnappen. Ich geh mal um den Block.“ „Lass Dich nicht erwischen“, antwortet er leise lachend. Ich fühle mich wie ein Verbrecher - habe das Gefühl, dass alle Augen auf mich gerichtet sind. So kenne ich mich gar nicht! Ich glaube, mir liegen durch die Anstrengungen der letzten Tage und dem unruhigen Schlaf die Nerven blank.
Gegenüber vom Hotel gibt es einen Feldweg, der sich perfekt zum Gassi-Gehen eignet. Ich schau mich um und weiß, dass die Leute im Frühstücksraum mich sehen könnten. Eine andere Grünfläche ist aber nicht in Sicht und so langsam ist mir das hier auch zu blöd. Ich mach mich doch nicht zum Clown! Ich lasse lieber wie ein Zauberkünstler, der ein Häschen aus seinem Zylinder springen lässt, meinen Hund aus der Tasche hüpfen. Bestimmt applaudieren Hermann und die anderen Gäste hinter der Fensterscheibe des Frühstücksraumes. Ich verneige mich aber besser nicht, falls ich mir das nur einbilden sollte.
Glücklich und schwanzwedelnd läuft Ruddi ausgelassen über das Feld. Er ist voller Tatendrang, beschnuppert alles hoch interessiert, liest also erst mal die örtliche Hunde-Tageszeitung. Ich genieße wie immer diesen Anblick und denke, dass er es nicht verdient hat, selbst morgens noch als Schmuggelware zu gelten. Dieser kleine Hund läuft den ganzen Tag so tapfer und frohgemut den Jakobsweg - ein nervöses Frauchen braucht er als allerletztes. Mir ist seit Jahren klar, dass Gedanken Energie sind, dass das was ich denke, zu mir kommt. Ich rufe mich also zur Ordnung, beobachte ihn noch ein bisschen bei seinem fröhlichen Treiben und nach zehn Minuten finde auch ich wieder die richtige Einstellung zur Mission „Camino mit Hund“.
Was soll schon passieren, wenn das Hotel-Personal ihn jetzt entdeckt? Verhaften oder erschießen werden sie mich sicher nicht. Frühstücken könnten wir im „Ernstfall“ auch woanders. Von jetzt an soll es mir schnuppe sein. Ich muss zwar das No-perro-Schild (keine Hunde) „akzeptieren“ und ihn in die Tasche stecken, aber das soll auch genügen. Erst vor dem Eingang des Hotels lasse ich Ruddi wieder einsteigen, egal ob das hier jemand mitkriegt oder nicht. Mit einer lässigen inneren Einstellung betrete ich das Foyer. Die Empfangsdame guckt mich fragend an und ich antworte mit einem breiten Lächeln und sehr selbstbewusst, ohne die Frage abzuwarten: „Buenos días. Qué buen tiempo hace hoy. (Was haben wir heute für ein schönes Wetter). Yo war kurz draußen y freue mich jetzt auf el desayuno (das Frühstück). Da vorne rechts ist doch richtig, oder?“ Sie überlegt kurz wie sie reagieren soll - bejaht meine Frage - schaut mich immer noch an - lächelt jetzt aber auch. Und das war’s auch schon. Na also funktioniert doch! Was ich denke, ziehe ich an. Ich stelle Ruddi auf dem Stuhl neben mir ab und strahle mit Sicherheit aus, dass das alles so gebucht ist. Keiner sagt was. Und dadurch, dass ich innere Ruhe habe, liegt mein Hund ebenfalls sehr gelassen in seinem kleinen Häuschen. Jetzt kann ich mit Appetit das Frühstück genießen.
Hermann und ich laufen auch heute wieder zusammen weiter. Der Weg führt uns fast fünf Kilometer weit durch mehrere Vorstädte nach Pamplona. Diese Stadt hat über 180.000 Einwohner - Villava nur 9.500. Wie konnte ich gestern denken, dass wir in Pamplona sind, als wir Villava erreichten? Ich kann es mir nur so erklären: Seit Saint Jean Pied de Port sind wir nur durch sehr kleine Dörfchen gekommen. Zubiri war der größte Ort mit 402 Einwohnern. Kein Wunder, dass Villava mir vorkam, wie eine Großstadt.
Pamplona selbst ist sehr schön und gemütlich in der Bauweise, aber es ist eben eine große Stadt. Hier ist meiner Meinung nach viel zu viel Lärm: Autoverkehr, Busse auf mehrspurigen Straßen, Radfahrer, Ampeln, viele Menschen, die in Eile sind, große Gruppen ausgelassener Kindergarten- und Schulkinder, die heute anscheinend ein Fest feiern. Sie haben alle selbst gebastelte Masken oder bunt bemalte Schilder dabei. Sogar die Sonne wirft ab und zu mal ein Auge auf uns. Eigentlich ein friedvoller, lebendiger Anblick. Aber wenn man aus der Abgeschiedenheit kommend auf das pralle Leben einer Stadt trifft haut es einen erst mal um. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich auch im „normalen“ Leben die Dörfer den Städten vorziehe.
Wir finden auf Anhieb die Herberge in der Hermanns Rucksack seit gestern schon auf ihn wartet. Dann der Schreck: Die Tür ist verschlossen! Erst in einer halben Stunde wird wieder geöffnet. So ein Mist! Jetzt müssen wir hier rumsitzen, statt weiter unseren Weg zu gehen. Es ist doch schon Mittag. Ich lege mein Gepäck ab und entsorge den Müll aus meinen Taschen in die bereit stehenden Container. Ruddi wird mit Wasser und Leckerchen belohnt und ich biete ihm seine Decke an, falls er sich ausruhen möchte. Wir lassen uns auf einer Bank vor der Herberge nieder - machen eben das Beste aus dieser Situation. Seit eineinhalb Stunden sind wir unterwegs und erst fünf Kilometer gelaufen. Bis Uterga, unserem heutigen Etappenziel, sind es noch ungefähr 17 Kilometer. Wann sollen wir denn da ankommen? Wir haben Glück, der Herbergsvater kommt schon nach 15 Minuten, begrüßt uns herzlich und gibt Hermann seinen Rucksack mit den Worten: „Ich habe gestern sehr lange auf Sie gewartet und Ihnen ein Bett freigehalten. Das war nicht so einfach, wir waren voll belegt. Viele Pilger mussten weiterlaufen. Sie hätten anrufen müssen, um mir zu sagen, dass Sie nicht mehr kommen. Dann hätte ich einen anderen Pilger aufnehmen können und mich auch nicht so sehr um Sie gesorgt.“ Hermann entschuldigt sich dafür: „Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass Sie auf mich warten könnten. Ich bin noch unerfahren als Pilger und habe keine Ahnung von den Abläufen in den Herbergen. Es tut mir sehr leid.“ Der Mann verzeiht ihm, und der Vorfall ist vergessen.
Dann kann Hermann sich ja wieder an seinen Rucksack gewöhnen! Er wird es genießen, dass der nach dem Ausmisten in Zubiri deutlich leichter ist. Wir bahnen uns den Weg durch die Stadt, der kein Ende zu nehmen scheint. In der Altstadt mit ihren tausend Geschäften, halte ich Ausschau nach einem „Fressnapf4 oder ähnlichem. Ich muss Ruddi eine neue Tasche kaufen, die alte löst sich gnadenlos auf. Weitere fünf Wochen hält die nicht durch. Ich bin enttäuscht und ein bisschen unruhig, als wir die City verlassen und keine Aussicht auf Kauf besteht. Zwei oder drei Passanten habe ich gefragt, wo es ein Geschäft für Tierbedarf gibt, aber sie konnten mir keine positive Auskunft geben. Ich denke: „Wenn ich so einen Laden noch nicht mal in Pamplona finde, wo dann?“ Meine innere Stimme beruhigt mich kurz und knapp: „Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Vertrau mir einfach und halte Dich bereit.“ Also bleibe ich letzten Endes doch ruhig, lasse den Dingen ihren Lauf und höre auf zu suchen.
Hoffentlich sind wir hier bald durch. Ich will wieder meine Ruhe und vor allem abgasfreie Luft haben. Pamplona ist ja so groß. Wir durchlaufen mehrere Stadtteile auf einer langen vierspurigen, sehr befahrenen Straße. Ich erlebe das Laufen in diesem Großstadtlärm als sehr stressig. In Gedanken bin ich bereits wieder auf dem Lande. Mir fällt auf, dass der Mensch meist das haben möchte, was er gerade nicht hat. In den Bergen wünschte ich mir sehnlichst einen zivilisierten Bürgersteig herbei. Jetzt habe ich ihn und will nur schnellstens weg. Da stimmt doch was nicht! Mir wird erneut klar, dass ich hier auf dem Camino alles bewusst wahrnehmen sollte, denn ich komme nicht wieder zurück, wie es in einem „normalen“ Urlaub der Fall wäre. Was ich jetzt nicht verinnerliche, habe ich sozusagen verpasst. „Lebe im Hier und Jetzt! Denke nicht an das, was eben war und nachher passieren könnte. Du übersiehst sonst die Geschenke des Lebens.“ erinnert mich meine innere Stimme. Sofort denke ich um und mache meine Augen und Ohren auf.
Ich nehme es nur aus den Augenwinkeln wahr, bin schon daran vorbeigelaufen, aber war das nicht...? Ich rufe Hermann zu mir, gehe drei Schritte zurück und sehe im Schaufenster eines „Ein-Euro- Ladens“ verschiedene Artikel für Tiere stehen. Das gibt es doch gar nicht! Fast hätte ich es verpasst - das, was das Leben im richtigen Moment für mich bereithält. Wir gehen in den Laden und finden auf Anhieb Ruddi’s „neues Zuhause“. Die Tasche ist ein bisschen größer als die alte - außerdem ist sie stabiler. Sie hat zwar keine Rucksack- Riemen, aber einen Schultergurt und der Preis ist okay. Ich lege seine Decke hinein, gucke meinen Hund fragend an und er springt in diese Tasche, legt sich hin und gibt mir zu verstehen, dass er ab sofort darin wohnen möchte. Na, das ging ja schnell!
Auf dem Weg zur Kasse entdecke ich Regenmäntel für Hunde. Soll ich ihm doch einen kaufen? Wenn ich alleine unterwegs bin und es den ganzen Tag regnen sollte, muss ich Ruddi tragen. Er wiegt zwar nur fünf Kilo, aber die werden auf die Dauer ganz schön schwer. Meine Füße würden es mir bestimmt danken. Aber braucht Ruddi so was wirklich? Ich würde mein Versprechen brechen, ihm niemals etwas anzuziehen. Ich lass es.
An der Kasse angekommen, ändere ich meine Meinung, drücke Hermann die Leine in die Hand, laufe durch den ganzen Laden bis in die hinterste Ecke und komme mit einem knallroten Regenmantel für Hunde zurück. Mein Schnurzel hat es sich wieder in seinem neuen „Zuhause“ bequem gemacht und Hermann hat sich neben ihm auf einem Stuhl niedergelassen. Als ich zielstrebig auf meinen Vierbeiner zugehe, ahnt er bereits Böses. Von diesem Moment an ist er so steif wie eine Holzfigur. Ich hebe ihn aus der Tasche, setze ihn auf Hermanns Schoß und versuche, ihm die Regenjacke anzuziehen. Weit aufgerissene, kugelrunde, dunkle, feuchte Hundeaugen blicken starr zur Decke. Perrito geht gerade durch die Hölle. Mit viel Geduld und Spucke schaffe ich es. Die Anstrengung war umsonst - das Teil ist zu groß. Triumphierend wirft er mir einen kurzen Blick zu und will nur noch raus aus diesem Laden. Um uns herum hat sich inzwischen eine Menschentraube gebildet. Ruddi bahnt sich mit eingeklemmter Rute einen Weg zum Ausgang. Die Leute wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen - haben ihren Spaß und bedauern gleichzeitig das zitternde Etwas am Ausgang des Geschäftes. Ich fange Ruddi wieder ein, spreche mit Engelszungen zu ihm, lege ihn wieder bei meinem Pilgerfreund ab und laufe, mittlerweile in Schweiß gebadet, nochmal in die weit entfernte Abteilung.
Außer Atem komme ich mit einem kleineren Cape zurück. Hermann gegenüber habe ich ein schlechtes Gewissen, weil das hier nun doch so lange dauert. Die Zeit läuft! Wir müssen heute immerhin noch über den Alto del Perdón. Er jedoch sitzt seelenruhig da und bringt Ruddi in die richtige Position für die nächste Anprobe. Das gestaltet sich noch schwieriger, als beim ersten Mal, denn die relativ langen Hundebeine lassen sich nun wirklich keinen Millimeter mehr einknicken. Mein Hund dreht sich immer wieder von mir weg und findet das alles total doof. Die „Zuschauer“ möchten am liebsten applaudieren, als ich es - mit einem Kopf, der vor lauter Anstrengung so rot wie das Cape ist - geschafft habe, meinen Hund anzuziehen. Hermann stellt das „Modell“ ganz vorsichtig auf dem Boden ab. Ruddi droht umzukippen, denn in einem Regenmantel kann er sich beim besten Willen nicht bewegen. Irgendwie sieht er aus wie eine Wurst mit Pelle. Der Wetterschutz ist viel zu eng. Ein Blick in seine tränennassen Augen sagen mir: „Dass Du mir das antust, hätte ich niemals gedacht!“ So schnell es geht, ziehe ich dem Häufchen Elend das gehasste Teufelsding wieder aus. Er schüttelt sich, bis ihm schwindelig wird, läuft hocherhobenen Hauptes erneut durch das Publikum zur Tür und wartet in Siegerpose in sicherer Entfernung darauf, die Bühne endlich verlassen zu dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass wir „standing ovations“ bekämen, wenn die Leute sicher wären, den Hund dadurch nicht noch mehr in Panik zu versetzen. Ohne Verbeugung verlassen auch Hermann und ich ohne Hundemantel die Szene. Draußen angekommen tut mein Hund so, als wäre überhaupt nichts geschehen. Hermann und ich verkneifen uns einen Lachanfall, um meinen kleinen treuen Freund nicht in Verlegenheit zu bringen.
Ich bin beruhigt, dass ich eine neue Tasche für Ruddi habe. Er ist beruhigt, weil die blöden Regenjacken nicht gepasst haben. Die neue Errungenschaft wird hinten an meinen Rucksack gehängt und wir spazieren weiter durch Pamplona dem Stadtrand entgegen.
In einer Seitenstraße suchen wir eine Bäckerei auf, um einen Café con leche zu trinken. Wir haben ja so viel Zeit! Da sich hier schon der Hund der Besitzerin befindet, ignoriere ich das No-perro-Schild an der Tür und stolziere mit meinem hinein. Dann mach ich den fatalen Fehler, der Form halber danach zu fragen, ob das mit Ruddi okay ist Die Antwort lautet definitiv und unwiderruflich NEIN. Hätte ich die Klappe gehalten, wären die fünf Kilo niemandem aufgefallen. Hermann hat keine Lust auf Diskussion, nimmt meine Tasse von der Theke und zieht mich nach draußen. Na super, jetzt kann ich mich nicht mal hinsetzen! Dabei hätte ich das dringend nötig. Da auch diese Straße sehr befahren ist, trinken wir zügig den Kaffee aus und ziehen weiter. Am Stadtausgang, in einem schön angelegten Park, setzen wir uns auf eine Bank und machen ein kleines Picknick. Im Moment scheint die Sonne. Ruddi liegt lang ausgestreckt auf dem gepflegten Rasen. Wir haben uns eben in einer Bäckerei ein paar Croissants gekauft. Das tut gut... Und diesmal steht die Bank tatsächlich auf dem Camino Francés. Wir haben uns heute noch nicht verlaufen.
Kaum haben wir die Stadt hinter uns gelassen, fängt es an zu regnen. Das ist ja wirklich nichts Außergewöhnliches in den letzten Tagen und es macht mir nichts mehr aus, habe es ganz im Gegenteil voll akzeptiert. Ich packe die neue Tasche in den Rucksack und ziehe meinen Poncho über. Ruddi läuft weiter auf seinen eigenen Pfoten, denn es besteht die Hoffnung, dass es nur ein Schauer ist. Ich lasse meinen Blick in die Ferne schweifen und entdecke weit, sehr weit von uns weg einige schneeweiße Windräder auf einem Berg. Ich sage zu Hermann: „Da oben müssen wir rauf.“ Er fragt entsetzt: „Bist Du Dir sicher? Das ist viel zu weit! Es ist doch schon Nachmittag. Da kommen wir heute gar nicht mehr hin!“ Obwohl ich mir sicher bin und sogar weiß, dass es noch gute neun Kilometer bis oben sind - danach natürlich X-Kilometer wieder runter - antworte ich: „Vielleicht vertue ich mich ja auch! Wir werden sehen, wohin der Weg uns führt.“ Ich will ihm die gute Laune so lange wie möglich erhalten.
Wir gehen nun über einen Forstweg durch kurze Waldstücke und Felder. Bei Sonnenschein könnte man dieses Stück Weg mit Sicherheit sehr genießen. Durch den ständigen Regen in den letzten Tagen allerdings ist er unbegehbar. Wir entscheiden uns, am Feldrand entlang zu gehen. Wir bemerken nicht, dass irgendwann ein Graben das Feld vom Weg trennt. Durch diesen Graben fließt ein Bach, der zu tief ist, um durchzulaufen. Rüber springen geht auch nicht, mit dem Rucksack auf dem Rücken. Wie Tiere in der Falle laufen wir mit kurzen Schritten hin und her und weigern uns, den hart erkämpften Weg durch das nasse Feld wieder zurückzugehen. Wir sind doch beide froh, ohne auf die Nase zu fallen, so weit gekommen zu sein.
Dann entdecke ich einen riesigen Ast, den jemand als Steg über diesen Graben gelegt hat und traue mich nach kurzer Überlegung, darüber zu gehen. Wäre der Ast gebrochen, hätte ich das sicher überlebt, aber ich hätte mir bestimmt „den Poncho versaut“. Hermann und Ruddi gucken mich an wie das Christkind, als sie mich auf der anderen Seite des Grabens entlang gehen sehen. „Das kommt davon, wenn ihr nicht auf mein Rufen reagiert. Schwimm doch!“ Wir müssen lachen, bei der Vorstellung mit einem Rucksack auf dem Rücken durch einen „Fluss“ zu schwimmen. Ich bin ja gar nicht so und zeige den beiden, wie ich an das rettende Ufer gelangt bin. Ruddi muss lange überlegen, ob er wirklich auf dem Ast balancieren möchte und kann. Aber nach mehreren Versuchen und Rückziehern wagt er es im Eiltempo und kommt stolz auf meiner Seite an. Dafür gibt es ein „fettes“ Leckerchen. Hermann macht es dem Hund nach - obwohl er keine Belohnung erwarten kann. Er tritt mehrmals skeptisch auf dem Ast rum bevor er es wirklich wagt, ihm sein ganzes Gewicht anzuvertrauen. Ich mache mir Sorgen, dass die handgearbeitete Brücke seinem Misstrauen nicht gewachsen ist und feure ihn an: „Ich rette Dich, wenn Du abstürzt! Komm schon! Trau Dich!“ Nach einer Weile bewältigt er den „gefährlichen Abgrund“ mit einem oder zwei beherzten Schritten. Wir sind eben die Helden des Caminos Francés.
Einige hundert Meter weiter stehen am Wegesrand niedrige Bäume und Sträucher. Hermann geht vor mir, und ich nehme die alte Hunde- Tasche mit dem blauen Müllsack-Regenschutz wahr, die er über die Schulter gehängt hat. Plötzlich kommt mir die Idee, die Tasche hier an einen Baum zu hängen. Ich brauche sie sowieso nie mehr. Ich habe jetzt eine viel schönere und bequemere für mein Hundekind. Ich stelle mir vor wie hier irgendwann mal ein verzweifelter Pilger mit einem kleinen Hund vorbeikommt und diese fast wasserdichte Hundehütte dringend braucht. Dieser Gedanke macht mich richtig zufrieden, und so trenne ich mich leichten Herzens von dem heruntergekommenen, aber sehr nützlichen Ding.
Dann beginnt der Anstieg zum Alto del Perdón. Die Beschaffenheit des Wegs ist sehr angenehm, breit und trocken. Es regnet jetzt nicht mehr, dafür hat der Wind Orkanstärke. Ich habe Angst, dass Ruddi fliegen geht und leine ihn an. Das ist ganz schön anstrengend, bergauf und gleichzeitig gegen einen Orkan anzulaufen. Wir treffen ein Pärchen und wechseln ein paar Worte mit ihnen. Es sind keine Pilger, sondern Einheimische. Sie warnen uns: „Nach ungefähr sechs Kilometern wird der Aufstieg heftig, steil, steinig und schmal. Das ist kein Spaziergang!“ Es ist bereits 17 Uhr und wir haben nach dem Aufstieg noch vier Kilometer Abstieg vor uns, der so steil ist, dass im Wanderführer davor gewarnt wird. Immer locker bleiben, lautet die Devise.
Ich wünsche mir eine Bar herbei, um ein bisschen auszuruhen. Die gibt es aber erst wieder in Uterga, am Etappenziel. Zu unserer Freude steht eine Bank am Wegesrand. Trotz des Orkans lassen wir uns häuslich nieder und Hermann zaubert wieder Brot und Wurst aus seinem Rucksack. Jetzt merke ich erst, wie fertig ich wirklich bin. Nach kurzer Zeit machen wir uns an den Aufstieg. Das ist wirklich heftig. Hermann muss alle paar Meter stoppen, um Luft zu holen. Ich habe auf dem Camino gelernt, dass das Bergaufgehen viel leichter funktioniert, wenn ich betont langsam ganz kleine Schritte mache. Mein Begleiter tut das wahrscheinlich nicht. Denn ich bleibe nicht stehen, gehe meinen Rhythmus und trotzdem holt er mich immer wieder ein.
Wir konzentrieren uns bei jedem Schritt. Es ist ein sehr schmaler Weg und es liegen große, lose Steine in Massen rum. Dazu kommt der Sturm, der einen auch schon mal ein Stückchen zur Seite schubst. In dieser wilden Szenerie kommt uns ein Jogger entgegen. Er läuft und springt diesen Berg hinunter. Ich frage mich, wie der das macht und wünsche ihm, dass er heil unten ankommt. Das muss ein Hochleistungssportler gewesen sein. Kein normaler Mensch kann hier so runter laufen.
Die Aussicht ist spektakulär. Man schaut auf weite hügelige Felder, die durch den starken Wind aussehen, als ob sie Wellen schlagen. In der Ferne erkennt man noch Pamplona und etwas näher kleine Dörfchen. Der Jakobsweg, der hier schneeweiß ist, schlängelt sich durch diese saftig grüne Landschaft. Wolkengebilde, wie ich sie vorher noch nicht gesehen habe, lassen diesen Schauplatz dramatisch erscheinen.
An der Fuente de Reniega (Quelle des Ableugnens) machen wir noch eine kurze Pause. Wir sind stolz darauf, das uns selbst Auferlegte so tapfer durchzuziehen. Es ist gleich 19 Uhr. Wir sind sehr gespannt wann - und vor allem wie - wir in Uterga ankommen werden. Wir haben übrigens wieder keine anderen Pilger in Sichtweite.
Gerade als wir denken wir kämen nie da oben an, haben wir den Gipfel des 735 Meter hohen Alto del Perdón erreicht. Hier steht ein Denkmal, das einen Pilgerzug darstellt. Ich kenne es aus dem Fernsehen und werde ganz andächtig, weil ich jetzt selbst hier oben stehe. Es ist viel weniger Platz auf diesem Bergkamm als ich dachte.
Kaum am Denkmal vorbeigegangen, überqueren wir eine Landstraße und dann geht es auch schon wieder bergab. Der Pilger wird sogar durch Schilder vor dem steilen Abstieg gewarnt. Vor ein paar Minuten hat mir noch ein Spanier gesagt, ich solle diesen Abwärtsweg unbedingt sehr langsam gehen. In dem Moment, in dem wir losgehen wollen, fängt es wieder heftig an zu regnen. An dieser Stelle treffen wir zur Abwechslung auch mal ein paar andere Pilger. Die müssen aber die Landstraße gegangen sein. Beim Aufstieg waren wir alleine. Vielleicht sind sie per Bus oder Taxi hochgekommen. Soll uns aber egal sein. Sie interessieren sich dafür wie es ist, mit Hund in Spanien unterwegs zu sein und ich gebe bereitwillig Auskunft. Sie staunen nicht schlecht über die Kondition eines so kleinen Kerlchens.
Als ich Ruddi unter meinem Poncho in sein Netz setze, damit der Arme nicht noch fünf Kilometer vor dem Etappenziel nass wird, amüsieren sich die Leute und finden die Lösungsidee spitze. Es ist kalt und immer noch stürmisch. Bei jedem Schritt sprechen meine Beine mit mir: „Geh bloß nicht schneller, sonst können wir Dich nicht halten.“ Es ist deutlich mehr als spannend, hier herabzusteigen. Ich rede Ruddi und mir selbst beruhigend zu: „Hab keine Angst. Ich bin ganz vorsichtig, egal wie lange es dauert. Ich verspreche Dir, jeden Schritt abzusichern. Wir schaffen das!“ Allmählich mäßigt sich der Weg, es geht etwas sanfter auf Feldwegen weiter bergab bis auf 490 Meter über dem Meeresspiegel. Das sind immerhin 245 Höhenmeter auf 3,6 Kilometern. Die ziehen sich allerdings wie Kaugummi. Wir haben mal wieder das Gefühl diese Etappe nähme kein Ende. Seit Stunden schon muss ich Pippi. Aber ich bin von Hause aus kein „Naturbursche“, der sich einfach mal mitten in die Pampa setzt - bei Orkan schon dreimal nicht.
Wie immer werden wir albern, wenn das Ziel näher kommt. Ich kann leider nicht mehr herzhaft lachen, wenn Hermann wieder einen seiner Sprüche reißt. Das würde gnadenlos in die Hose gehen. Er weiß nichts von meinem Toiletten-Problem und macht sich bestimmt Gedanken darüber, wo ich meinen Humor verloren haben könnte. Ich mag nicht drüber sprechen. Das ist mir peinlich. Ich konzentriere mich und schaffe das schon bis Uterga.
Eine halbe Stunde später schleppen wir uns nur noch so den Feldweg entlang. Es regnet zwar immer noch, aber nicht mehr so heftig. Hermann bleibt ab und zu stehen, um die Landschaft zu bewundern. Kann ich gut nachvollziehen. Es lohnt sich wirklich in die Ferne zu schauen, aber meine Blase ist mittlerweile so überfüllt, dass ich in Bewegung bleiben muss.
Ich gehe einfach an ihm vorbei und sage: „Guck Du nur die Landschaft an. Ich geh schon mal langsam vor. Du holst mich eh wieder ein.“ Er geht mit mir und fragt nach, was ich denn bloß hätte, welche Laus mir über die Leber gelaufen sei. Ich sage, dass mir die Laus über die Blase läuft und ich nur hoffen kann, dass wir bald da sind. Dieses Dilemma schaut er sich noch ungefähr zwanzig Minuten mit an, dann bleibt er auf einer kleinen Brücke mitten in den Feldern stehen, setzt sich auf das kniehohe Geländer aus Stein, nimmt mir den Rucksack vom Rücken und schickt mich in die Büsche: „Ich kann das nicht mehr mit ansehen. Lass gehen! Ich warte hier auf Dich.“ Ich überlege nicht mehr lange und tu wie mir befohlen. Keine Ahnung, warum ich so lange damit gewartet habe — wahrscheinlich, weil ich mit einem Mann unterwegs bin. „So was macht eine Dame nicht!
Glücklich und erleichtert komme ich aus dem Busch gekrabbelt. Mit dem Muskelkater und den inzwischen fast 20 Kilometern in den Beinen, war das eine richtige Aktion, bei der jede Bewegung wohl durchdacht sein musste - bei Unachtsamkeit hätte ich mich womöglich in den Dreck gelegt und diesmal nicht den Poncho, sondern den nackten Hintern versaut.