Samstag, 3. Mai 2008

Villalcázar de Sirga (229 Einwohner), 809 m üdM, Palencia

19. Etappe bis Calzadilla de la Cueza, 23,2 km

Das Sandmännchen war gestern Abend nicht gesprächsbereit. Wieder hat es mich hinterrücks überfallen und seine Arbeit gemacht. Naja, dann gebe ich mich ihm eben hin.

Ich schätze, dass ich so um die vier Stunden ungestörten Schlaf hinter mir hatte, als ich durch Hundegebell geweckt wurde. Nein, nicht Ruddi! Der schlief selig in seiner Tasche am Fußende auf meinem Bett. Der Übeltäter ist ein großer Hund in der direkten Nachbarschaft. Er gab bis zum Morgengrauen keine Ruhe mehr. Im Drei-Minuten-Takt bellte er mit einem Wahnsinns-Stimmvolumen eine halbe Minute lang wieder und wieder und wieder. Zum Glück stimmten da nicht noch andere Kumpane mit ein. Schade, dass der diese Nacht keine Ruhe gefunden hat. Sie hätte außergewöhnlich erholsam sein können, denn außer seinem „Geschrei“ herrschte absolute göttliche Stille. Ich wundere mich ein bisschen, dass ich es nicht hinbekommen habe, mich mit diesem „Geräusch“ anzufreunden und einfach weiterzuschlafen. Wahrscheinlich habe ich mir Sorgen gemacht, dass Ruddi auf die Idee kommen könnte, dem anderen mal so richtig die Leviten zu lesen, dadurch Manel zu wecken und für den Rest des Pilgerwegs als der „kleine Kläffer“ verrufen zu sein, der er bei Gott nicht ist. Zum Glück sind das nur meine Hirngespinste, denn meine beiden „Männer“ interessieren sich nicht die Bohne für den mitteilungsbedürftigen Nachbarshund.

Endlich klingelt um acht Uhr der Wecker meines Pilgerfreundes. Am liebsten wäre ich schon vor zwei Stunden aufgestanden, anstatt mich von einer auf die andere Seite zu wälzen. Aber das Kommando hat in diesem Zimmer Manel. Ich bin lediglich Untermieterin und wollte seinen Schlafens-Zeitplan nicht durch mein Gewusel, das durch eine verfrühte „Abreise“ entstanden wäre, durchkreuzen.

Bereits mit dem ersten Weckruf schwingt der Señor seinen Körper aus dem Bett. Ich drehe mich mit dem Gesicht zum Fenster und stelle mich noch schlafend, damit mein Zimmergenosse sich unbeobachtet fühlen kann. Wie gestern Abend geht auch am frühen Morgen alles blitzschnell: Manel springt im wahrsten Sinne des Wortes in seine Hose, geht für ganz kurze Zeit ins Bad, nimmt seinen Rucksack, wirft den Wecker hinein und schon ist er weg. Mit so einem Tempo habe ich nicht gerechnet. Als er eben die Eingangstür aufschloss, dachte ich, er würde seine Wäsche von der Leine holen und nochmal reinschauen. Aber ich höre das große Tor, das aufs Grundstück führt, ins Schloss fallen. Ich setze mich auf, schau mich im Zimmer um und es gibt keinen Zweifel mehr, Rucksack und Manel sind spurlos verschwunden. In Gedanken erhält er mein „Gracias por todo y buen camino, hasta luego“.

Ich lasse mir Zeit, denn es gibt erst ab neun Uhr Frühstück. Ganz in Ruhe hole ich meine Wäsche rein, packe meinen Rucksack, hänge die noch feuchten Socken außen dran und knuddele noch ein bisschen mit Ruddi - erzähle ihm, wie stolz ich auf ihn bin.

Nun sitze ich also beim Frühstück und hänge meinen Gedanken nach. Soll ich den dringenden Rat verschiedener Leute annehmen und tatsächlich für den Abend ein Hotelzimmer reservieren? Ich weiß doch gar nicht, wie weit ich heute komme? Was ist denn, wenn ich das gebuchte Hotel erreiche und es mir nicht zusagt oder ich noch weiterlaufen möchte? Was soll ich bloß machen? Bis jetzt habe ich noch jeden Abend ein Bett bekommen, aber in den letzten Tagen sind besonders viele „normale Touristen“ in den Orten unterwegs und machen Kurzurlaub. Ich habe gehört, dass die Spanier Schulferien haben, da könnte es mit der Übernachtungsmöglichkeit ohne „Vorsorge“ schon außergewöhnlich knapp werden. Oder schaffe ich es trotz dieser Informationen weiterhin, immer locker zu bleiben und zu vertrauen?

Die Antwort auf diese Fragen kommt in Gestalt von Pilgerin Anita. Ich habe sie schon einige Male gesehen, aber nun kommt sie direkt auf mich zu und spricht mich an: „Ich sehe, dass Du Deine noch nassen Klamotten mit Wäscheklammern am Rucksack befestigt hast. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Finde ich toll! Nachher in Carrión werde ich mir auch ein paar Klammern kaufen. Darf ich mich ein bisschen zu Dir setzen?“ „Na klar!“ Ich räume sofort meine Sachen vom Tisch, um ihr Platz zu machen. Sie macht einen ausgeglichenen, herzlichen Eindruck auf mich. Anita kommt aus Erlangen, ist Krankenschwester, so um die Vierzig und strahlt sehr viel Ruhe und Warmherzigkeit aus. Ich gebe ihr sofort einige Wäscheklammern, damit sie sich kein ganzes Paket kaufen muss. Im normalen Leben kann man sich gar kein Bild davon machen, wie groß die Freude ihrerseits über diese kleinen Dinger war. Sie fällt mir um den Hals und versichert sich, dass mir die Teile auch wirklich nicht fehlen werden.

Anita übernachtet immer in den Herbergen und klagt ihr Leid darüber, wie schwierig es in den letzten Tagen doch gewesen sei, unterzukommen. Wann immer es möglich ist, reserviert sie ihr Lager im Voraus. So auch für heute Abend. Sie hat das gleiche Etappenziel wie ich: Calzadilla de la Cueza. Es war ein harter Kampf, dort noch ein freies Bett in einer Herberge ausfindig zu machen. Da! Schon wieder der Hinweis, reservieren zu müssen! Ich kann das jetzt nicht mehr länger ignorieren und will etwas unternehmen. Gerade heute wird die Etappe aller Voraussicht nach hart, denn es steht der absolut längste, kärgste und schattenloseste Abschnitt des gesamten Camino Francés ohne Ortschaften und Versorgungsmöglichkeiten bevor. 17 Kilometer die das Durchhaltevermögen des Pilgers auf die Probe stellen. Diesen Abschnitt gehen selbst viele der ohnehin wenigen „Meseta-Pilger“ nicht.

Nach einer knappen halben Stunde macht sich Anita auf den Weg. Wir hoffen beide, dass wir uns mal wieder begegnen. Durch das Fenster schaue ich ihr nachdenklich hinterher, bis sie um die Ecke gebogen ist. „Niemand und keine Situation passiert Dir einfach so. Jeder Mensch bringt Dir irgendeine Botschaft, die für Dich wichtig ist. Du musst nur genau zuhören, sie erkennen und dann umsetzen“, höre ich meine innere Stimme ungewöhnlich laut und deutlich sagen.

Wild entschlossen begebe ich mich an die Theke und bitte den Besitzer dieses Casa Rural, für mich in dem Hotel in Calzadilla de la Cueza anzurufen und ein Zimmer zu reservieren. Ich überlasse es ihm, Ruddi zu erwähnen oder nicht. Sofort telefoniert er und überbringt mir gute Nachrichten. Wie er sagt, habe ich Glück gehabt, es war das letzte freie Zimmer. Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll: Es ist genau das passiert, was ich nicht wollte. Ich bin auf meinem ureigensten Pilgerweg und sehe mich gezwungen, zu planen. Wer zwingt mich denn? Na, ich selbst! Kein anderer tut das! Ich habe heute diese angstvollen, negativen Gedanken. Bis hierher war das anders. Wobei mir gerade nochmal bewusst wird, dass andere Leute mir von Anfang an Buchungen aufzwingen wollten. Das ging in Saint Jean Pied de Port schon los. Was hat mir denn meine Zuversicht geraubt? Fest steht, dass ich, bis ich sie wieder gefunden habe, Vorsorge treffen muss oder damit zu rechnen habe, im Freien zu übernachten.

Ich habe einen echten Tiefpunkt erreicht. Würde in diesem Moment ein Taxi vorfahren und mich zum Flughafen bringen wollen, stiege ich sofort und ohne weiter darüber nachzudenken ein und flöge nach Hause. Ich habe gerade mal die Schnauze gestrichen voll. Dabei hat doch bis jetzt immer alles wunderbar gepasst. Es wurde sogar immer besser, ich sage nur: Manel!

Ist das ein Pilgerkoller? Tja, ich muss zusehen, dass ich aus meinem Tief wieder rauskomme. Wie geht das noch? Ach ja, die Stimmung und die Gefühle, die man gerade hat, annehmen - nicht verurteilen. Denn verurteilen bedeutet Kampf. Und Kampf erzeugt Kampf. Genau das ist heute Morgen mit mir passiert. Innerlich habe ich gegen die Botschaft von Anita angekämpft und so ist das Problem durch meine persönliche Einstellung immer größer geworden. Ich bin entsetzt: Ich würde sogar nach Hause fliegen! Ich tue alles dafür, mich auch in dieser Stimmung zu mögen, mache mir klar, dass das Zweifeln, die Erschöpfung und die daraus resultierenden miesen Emotionen auch zum Camino und Pilgerleben dazugehören.

Ach, driss-egal, warum ich jetzt so drauf bin! Wer nach dem Warum fragt, sucht nur nach einer Entschuldigung und das bedeutet, dass man immer noch kämpft. Okay, es soll so sein, irgendwas habe ich draus zu lernen.

Ich verabschiede mich von den Besitzern des Hauses, die mich gestern gerettet haben und beginne die heutige Etappe. Nach den ersten geschätzten fünfhundert Metern komme ich an einem kleinen Geschäft vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen zwei kleine Gartentische, mit jeweils einem Stuhl davor, auf einem schmalen Bürgersteig. Da ich jetzt schon das Gefühl habe, bereits mehrere Kilometer gelaufen zu sein, entschließe ich mich kurzerhand eine Pause einzulegen. Geht nicht? Klar geht das! Ich plane doch nichts, ich kann doch tun was und wann ich will, oder?

Der Tienda-Besitzer will gerade seinen Laden abschließen. Wild entschlossen spreche ich ihn an und bettele um eine Limonade. Die bekomme ich auch großzügig in einem Glas in die Hand gedrückt. Er will jetzt Siesta machen. Was? Am Vormittag? „Ja, die Sonne scheint und ich mache Siesta wann ich will. Egal wieviel Uhr es gerade ist“, macht er mir lachend klar. Zack! Schickt mir das Universum ein lebendes Beispiel für persönliche Freiheit und das daraus resultierende Glück. Das leere Glas soll ich nachher einfach auf seiner Fensterbank abstellen. „Adiós y buen camino!“ winkt er mir noch fröhlich zu und ist verschwunden.

Ich lasse meinen geplagten Pilgerkörper in einen der altersschwachen Stühle fallen und habe richtig Schwein gehabt, mit diesem Möbel nicht zusammenzukrachen. Die Beine dieses Plastikstuhls geben bedrohlich nach. Vorsichtig, mit ausgestrecktem Hintern und steifen Beinen, versuche ich heil aus dieser Situation wieder raus zu kommen. Das ist so grade nochmal gut gegangen. Umsichtig stelle ich den Stuhl ordentlich wieder an den Tisch und ziehe es vor, mich - vor Schmerzen leise stöhnend - auf der Bordsteinkante niederzulassen.

Ruddi setzt sich vor mich und zwinkert mir schelmisch zu, als wenn er sagen wollte: „Du hast das Problem sehr elegant gelöst. Dein Bewegungsablauf war zwar ein bisschen aufreizend, aber mir hat es gefallen. Bleibst Du noch lange hier sitzen? Dann geh ich schon mal vor! Oder kommst Du vielleicht gar nicht mehr vom Bordstein hoch? Ich kann auch Hilfe holen.“ Gesagt, getan! Er dreht sich auf den vier Pfoten um und rennt die Straße runter. Ich muss laut lachen, als er zusammen mit einem Hund in seiner Größe wieder zurückkommt. Wo hat er den denn aufgetrieben und wo ist der Kran, mit dem sie mich hochziehen wollen?

Ich sitze da, mittlerweile an die Mauer angelehnt und lach mich dank meines Kopfkinos kaputt. Der Besitzer des fremden Hundes kommt näher und wird immer schneller. Er bleibt vor mir stehen, sieht mich besorgt an und will mir helfen. Er ist verunsichert, weil mir Tränen über die Wangen laufen. Als er sich sicher ist, dass das vom Lachen kommt, reicht er mir, mittlerweile ebenfalls belustigt, seine Hand und zieht mich wieder in die Aufrechte. Er streicht mir sichtlich und akustisch deutlich amüsiert mit beiden Händen meine Klamotten wieder in Form, zieht hier ein bisschen und rupft dort ein paar Krümel weg: „Todo bien? (Alles klar?)“ Ich ringe um Fassung: „Sí, sí señor, gracias por el Rettung from the street.“

Bevor sie mich hier in einer Zwangsjacke abführen, schnalle ich meinen Rucksack wieder auf und verlasse erhobenen Hauptes Villalcázar de Sirga. Brav gehe ich weiter auf dem Fußweg neben derselben Landstraße wie gestern. Heute ist es sehr heiß, dabei haben wir noch nicht einmal zehn Uhr. Ich konzentriere mich momentan einfach nur aufs Laufen und mit jedem Schritt verliere ich die miesen Gedanken. Plötzlich springt direkt neben mir ein Radfahrer ab und begrüßt mich gut gelaunt. Das ist doch tatsächlich der holländische Herbergsvater, bei dem ich mich noch nicht für seine tatkräftige Unterstützung bedanken konnte. Ich freue mich so sehr ihn zu sehen, dass ich wild entschlossen meine Arme ausbreite und er sich auch von mir „nehmen lässt“. Er hat beobachtet, dass ich aus dem Ort gehe, flugs sein Rad geholt, um mich einzuholen und sich nach meinem Befinden zu erkundigen: „Wie war Deine Nacht mit dem spanischen Pilger? War alles in Ordnung? Hast Du gut geschlafen?“ Ich erzähle ihm gerne die ganze Geschichte, inklusive meines Durchhängers und der Idee, die Reise abzubrechen. Er hört mir genau zu, während wir uns zusammen Richtung Carrión bewegen. Ich darf mir also meinen Frust und meine Zweifel ungezwungen von der Seele reden. Als Hospitalero kennt er solche Pilgerprobleme wahrscheinlich nur zu gut. Er nimmt mich ernst, hört nur zu, redet nicht, ist mir die ganze Zeit zugewandt. Er gibt mir zum Abschied eine Umarmung und die folgenden Worte mit auf den Weg: „Du musst das Leben einfach nehmen, wie es kommt.“

Am Mittag erreiche ich Carrión de los Condes und hole mir - entgegen meiner Gewohnheit - im Kloster Santa Clara einen Pilgerstempel ab. Bevor ich anfange zu überlegen, was mich in dieses Kloster getrieben haben könnte, kenne ich die Antwort schon: Anita! Sie hatte die gleiche Idee und so treffen wir uns viel schneller wieder, als wir beide gedacht haben. Wir gehen zusammen durch die Stadt.

Mitten in der City fällt mir auf, dass mein rechter Fuß unter der Sohle unangenehm schmerzt. Das tut zwar schon seit einer Woche weh, aber heute fange ich sogar an zu humpeln. Anita, als Krankenschwester besteht darauf, dass ich meinen Schuh ausziehe, damit sie sich das mal ansehen kann. Es handelt sich um eine sehr große pralle Blase. Ohne lang zu fackeln, sticht sie sie mit einer Nadel auf und klebt ein Gel gepolstertes Riesenblasenpflaster darauf. Zum Glück hatte ich keine Zeit zum Nachdenken, sonst hätte ich mich sicher dagegen gewehrt und geheult wie ein Baby. Aber nach den ersten vorsichtigen Schritten merke ich, dass das die einzig wahre Lösung war.

So, dann habe ich also jetzt nach der Hälfte des Wegs auch endlich meine wohlverdiente Pilgerfußblase. Jeder sollte eine haben... Ich kann doch nicht nach 800 gelaufenen Kilometern nach Hause kommen und noch nicht einmal sichtbar kaputte Füße vorweisen. Das geht nun wirklich nicht...!

In der nächsten Apotheke will ich Anita das Pflaster ersetzen. Das lehnt sie entschieden ab: „Ich habe noch ganz viele davon, das musst Du nicht tun. Ich finde es toll, dass Wäscheklammern und Pflaster einfach mal den Besitzer gewechselt haben und uns beide glücklich gemacht haben.“

Bevor wir die Stadt verlassen und uns auf die insgesamt 17 Kilometer lange einsame Strecke wagen, besuchen wir noch ein Café. Wir nehmen draußen auf der überdachten Terrasse Platz und erzählen uns gegenseitig einige Anekdoten unserer bisherigen Pilgererfahrungen. Anita hat übrigens auch schon in so mancher Bar von mir - „der Frau, die mit dem kleinen schwarzen Hund unterwegs ist“ - gehört und freut sich, dass wir uns nun persönlich kennen und sie Zeugin für das Wohlbefinden meines treuen Begleiters sein darf.

Wow! Ich glaube, ich bin berühmt! Zumindest hier auf dem Camino Francés!

Plötzlich und unerwartet springt meine neue Begleiterin mit leuchtenden Augen auf, kramt ihr Portemonnaie aus dem Rucksack und rennt los mit den Worten: „Ich bin gleich wieder da. Wartest Du bitte auf mich? Ich habe da was gesehen!“ Selbst wenn ich hinterher rennen wollte, könnte ich doch niemals ihren Rucksack ganz alleine lassen. Nach für mich spannenden zehn Minuten der Ungewissheit darüber, warum sie wohl so abrupt ihren gemütlichen Platz verlassen haben könnte, ist sie zurück und kaum wiederzuerkennen. Sie hat sich einen Hut mit einer breiten Krempe gekauft und sieht entzückend damit aus. Sie erklärt mir, dass eine Kopfbedeckung dafür sorgt, dass man nicht so schwitzt, wenn die Sonne den Schädel küsst. Sie wünscht sich inbrünstig, dass ich mich auch „wohlbehütet“ auf den bevorstehenden Weg mache. Grundsätzlich wollte ich schon immer mal einen Hut haben, aber ich bin davon überzeugt, dass er mir beim Pilgern nur lästig wäre. Ich habe so einen dünnen „Röhrenschal“, der, komplett über den Kopf gezogen, als Rollkragen dient, wenn es kühl ist, als Stirnband und Ohrenschutz wenn es stürmt, oder eben auch - doppelt gemoppelt - als Mütze getragen werden kann. Den habe ich seit den Pyrenäen und dem Orkan auf dem Alto del Perdón mehr oder weniger im Rucksack verschimmeln lassen. Ich werde das „Anti- Schwitz-Programm“ bei nächster Gelegenheit ausprobieren.

Erheitert und gespannt auf die anstehenden Kilometer verlassen wir die Stadt und gehen dann wieder getrennt voneinander weiter. Anita ist mit ihren deutlich längeren Beinen viel schneller unterwegs als ich. Wir sind gespannt, ob wir uns heute Abend in Calzadilla de la Cueza treffen.

Die nächsten fünf Kilometer verlaufen über eine wenig befahrene Landstraße. Dann betrete ich die zwölf Kilometer lange „Via Trajana“. Sie war früher eine wichtige Römerstraße. Es ist ein breiter unbefestigter Weg. Das grobe rötlich-gelbe Schottergestein macht das Gehen wirklich mühsam. Jeder Schritt will wohl überlegt sein. Meine Schuhsohlen sind nicht dick genug. Ich spüre jeden Stein deutlich unter meinen Füßen. Und ich kann auch nicht ausweichen. Links und rechts am Wegesrand befindet sich hohes Gras, durch das gerne mal das eine oder andere Reptil läuft. Die Bekanntschaft mit einem Salamander habe ich soeben gemacht, als ich mich kurz auf dem Weg ausruhen wollte. Erstaunlich wie elastisch plötzlich mein Körper war, als dieses quirlige Etwas völlig unerwartet neben mir im Zick-Zack-Kurs aus dem Gras geschossen kam. Ich war einem Herzkasper nahe. Aber das Tierchen bestimmt auch, nachdem ich einen spitzen Schrei von mir gegeben habe.

Wenige sehr junge und somit klitzekleine Bäume stehen anfangs noch vereinzelt am Wegesrand. Schatten? Was ist das? Die Sonne ist unerbittlich. Es weht kein Lüftchen. Schon nach den ersten zwei, drei Kilometern wird mir klar, dass das kein Zuckerschlecken wird. Die Füße werden durch die Steine aufgeheizt. Bäumchen gibt es jetzt auch nicht mehr. Hoffentlich hält Ruddi das durch. Er wechselt ständig vom heißen, grobsteinigen Schotterweg, der für seine kleinen Pfötchen nun gar nicht geeignet ist, ins hohe Gras. Das ist zwar kühler, aber genauso hoch, wie er groß ist. Da macht das Laufen ihm anscheinend auch zu schaffen. Ich darf nicht zu schnell gehen. Ich muss unsere Kräfte einteilen. Diese alte Römerstraße ist schnurgerade. Bis zum Horizont sehe ich nichts als diesen Weg, die Steine und nichts als Felder, soweit das Auge reicht. Kein Anzeichen für Zivilisation. Nichts! Nun bin ich doch noch in der Wüste gelandet. Das erste Mal habe ich Angst, dass die Wasservorräte zur Neige gehen könnten und wir jämmerlich verdurstet am Wegesrand in der Sonne verbrennen. Ich ziehe mich an der Hoffnung hoch, dass der hiesige „Fremdenverkehrsverein“ vor kurzem vielleicht doch den einen oder anderen Rastplatz für Pilger errichtet hat.

Nach langer, langer Zeit erreicht mich ein Pilger aus Michigan. Wir gehen ungefähr zwei Kilometer zusammen. Ihm fliegt ein Käfer ins Ohr und will sich da häuslich niederlassen. Er gerät in Panik, haut sich immer wieder vor den Kopf, schüttelt denselben so fest, dass ich Angst habe, er könnte aus den Latschen kippen. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel: „Bringt sofort diesen kleinen Käfer zur Vernunft und zeigt ihm den Weg aus dem Ohr meines Pilgerkollegen!“ Nach ein oder zwei Minuten ist der Spuk endlich vorbei und der junge Mann wieder „normal“. Ohne viel zu reden gehen wir nebeneinander her und genießen die Gesellschaft des anderen. Wir sind im Moment eben nicht alleine auf diesem Weg, der vielleicht in die Hölle führt. Als wir uns beide wieder ein bisschen gestärkt fühlen, verabschieden wir uns, denn unser Lauftempo passt nicht zusammen. Schnell wird der Abstand zwischen uns größer.

Ungefähr nach sieben oder acht Kilometern gibt Ruddi mir durch Hecheln und Jaulen zu verstehen, dass er nicht mehr weiter kann und will. Reptilien hin oder her, ich setze mich mitten auf den Weg in die pralle Sonne, nehme ihn auf den Schoß und lasse ihn in meinem Schatten liegen, während ich die heilende Reiki-Energie wirken lasse. Schätzungsweise zehn Minuten später setzen wir unseren Weg erstaunlich viel kräftiger als zuvor fort. Dieser Römerpfad ist zwar immer noch ganz gerade, aber jetzt ist die Landschaft ein bisschen hügelig. So keimt vor jeder kleinen Anhöhe die Hoffnung in mir auf, dass sich dahinter das heiß ersehnte Calzadilla de la Cueza, mein Etappenziel, befindet - oder zumindest zu erkennen ist. So überqueren wir Hügel um Hügel, aber die Aussicht bleibt trostlos. Warum gehe ich nochmal den Jakobsweg? Um meine Grenzen kennenzulernen? Meine Füße zeigen mir seit Stunden ihre Grenzen auf. Die Schmerzen sind langsam unerträglich. Mein unglaublich willensstarker kleiner „großer Ruddi“ und ich gehen Schritt für Schritt wie in Trance.

„Immer wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt am Horizont ein Dörfchen her.“ Plötzlich liegt es da, hinter einem Hügel in einer Senke. Calzadilla de la Cueza!!! Nach fünf Kilometern Landstraße und zwölf Kilometern Römerstraße kann ich nun nicht mehr. Ganz zu schweigen von den sechs Kilometern Landstraße vor Carrión de los Condes. Somit komme ich auf gute 23 gelaufene Kilometer mit Weltuntergangsstimmung und außergewöhnlich hohen Temperaturen. Da hat auch die Kopfbedeckung nicht mehr viel machen können, oder? Wäre es ohne sie vielleicht gar nicht gegangen? Wie auch immer: „In wenigen hundert Metern haben Sie das Ziel erreicht“, sagt mein inneres Navigationssystem. Ich freue mich wie noch nie auf mein „zum Glück“ gebuchtes Hotelzimmer. Ich muss gestehen: Ich wäre jetzt nicht mehr in der Lage, auf die Suche zu gehen, Hunde zu schmuggeln oder mir Geschichten auszudenken.

5 1/2 Wochen
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