Gleicher Tag (insgesamt 395,2 gelaufen)
Calzadilla de la Cueza (66 Einwohner), 858 m üdM, Palencia
Pension, Doppelzimmer, 30 Euro pro Person ohne Frühstück
Torkelnd und ganz langsam - von Haltung keine Spur - ziehen wir in das kleine Dorf ein. Direkt am Ortsrand steht die Herberge, in der sich Anita befinden muss. Ich halte Ausschau nach ihr, will wissen wie es ihr geht. Sie ist aber nicht zu sehen. Fremde Pilger empfangen Ruddi und mich dafür mit Applaus. Ja, tatsächlich: Sie applaudieren. Ich erfahre, dass die meisten diesen Höllentrip nicht gemacht haben. Sie haben aber ehrliche Bewunderung und Hochachtung für jeden, der das gewagt und geschafft hat. Na, dann müssen die auch Anita empfangen haben. „Ja, sie ist hier, hat sich hingelegt. Es geht ihr gut.“ berichten sie mir.
Hundert Meter weiter links befindet sich mein Hotel. Ich werde bereits erwartet und die Hotelbesitzer freuen sich, dass ich heil angekommen bin. Hier werde ich gleich in den Arm genommen und mehrmals auf die Stirn geküsst. Ist wieder eine neue Variante, tut aber auch mal gut. Ruddi wird liebevoll begrüßt und mit frischem Wasser versorgt. In diesem wunderbar kühlen Wirtshaus verschlinge ich ein Croissant, lasse ein erfrischendes Bitter-Lemon in meinen ausgetrockneten Körper laufen und im Anschluss genieße ich meinen wohlverdienten Café con leche bei einer Zigarette.
So um die 20 Minuten später geleitet mich der Herr des Hauses zu meiner Unterkunft. Ich wehre mich nicht, als er meinen Rucksack die Treppe hinauf trägt. Ich habe genug mit mir selbst zu tun und schleppe mich mit letzter Kraft die Stufen hinauf. Ruddi ist bereits wieder topfit und als erster oben. Der freundliche Señor legt seinen Arm um meine Schulter und führt mich den Flur entlang. Im Zimmer angekommen, stellt er mein Gepäck ab und sich vor mich. Schon wieder küsst er mich auf die Stirn. Dass der sich nicht ekelt, so wie ich heute geschwitzt habe. Scheint ihm egal zu sein. Er umarmt mich, küsst wieder und wieder mein salziges Antlitz. Jetzt schaut er mir auch noch tief in die Augen... Was will der von mir?
Als ich endlich zu mir komme, stoße ich ihn mit einem entsetzten und zugleich wütenden Blick zurück und zeige wild entschlossen Richtung Tür: „Adiós, señor!“ Er lässt es sich nicht nehmen, mir nochmal beschwichtigend über das Haar zu streicheln, dreht dann aber zügig, mit einem letzten bewundernden Männerblick ab und verlässt enttäuscht den Raum. Ich „stürze“ - so schnell es eben nach so einer Wanderung geht - an die Tür und drehe den Schlüssel gleich zweimal rum. Was war das denn? Ob der gedacht hat, ich bekäme gar nichts mehr mit? Getreu dem Motto: „Man kann es ja mal versuchen.“ Was soll’s? So schnell wie der „oben“ war, ist er ja auch wieder „runtergekommen“. Also: Schwamm drüber.
Ruddi fällt in sein Bettchen und genießt die Waagerechte. Ich stelle mich unter die Dusche und genieße das lauwarme Wasser, das den Staub und Schweiß der verflixten letzten Etappe von meinem erschöpften Körper spült. Ich bleibe so lange unter dem Wasserstrahl stehen, bis ich das Gefühl habe, dass auch meine heutigen negativen Gedanken im Abfluss verschwunden sind.
Als ich frisch und „munter“ den gut besetzten Comedor betrete, entdecke ich sofort Anita, die schon auf mich wartet. Ihr war klar, dass ich irgendwann auftauchen würde. So viele Hotels gibt es hier ja nicht. Wir bestellen uns ein „halbes Schwein auf Toast“ und schaufeln in uns hinein, als gäbe es kein Morgen mehr. Bei einer Flasche Rotwein beruhigen wir uns gegenseitig und schon nach kurzer Zeit sind wir wieder in der Lage, einfach nur Spaß an der Freude zu haben. So mancher uns bekannte Pilger kommt an unserem Tisch vorbei und hält ein kurzes Schwätzchen mit uns. Der dritte Stuhl an unserem Tisch ist immer wieder für einige Minuten besetzt. Der „heiße Señor“ von eben spielt jetzt den Kellner und flirtet mit allen Frauen was das Zeug hält. Na dann: Viel Erfolg!
Als ich spät am Abend endlich in meinem kuscheligen Bett liege, geht es mir deutlich besser, als heute Morgen noch. Mir ist klar: Ich würde es für den Rest meines Lebens bitter bereuen, wenn ich den Jakobsweg abbreche. Nach 23 Kilometern, davon 17 ohne Bars oder Orte, bin ich nun trotz aller Anstrengungen des Tages auf eine schöne Art und Weise fix und fertig. Da ist es wieder, das Pilger-Ankomm-Gefühl, das durch nichts übertroffen werden kann. Bin jetzt insgesamt in 18 Tagen 395 Kilometer mit durchschnittlich zwölf Kilogramm Gepäck gelaufen. Das heißt: Die Hälfte des Camino Francés ist in der Hälfte meiner insgesamt geplanten Zeitspanne geschafft. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekäme! Nach der heutigen Etappe bin ich so stolz es geschafft zu haben. „Wenn Du musst, hast Du auch die Kraft dafür!“ höre ich wieder meine Mutter sagen. Jetzt geht es munter weiter, was soll mich denn aufhalten?!
Kurz vor dem Einschlafen muss ich schmunzeln: Das Universum hatte heute ja wohl frei. Ich dumme Nuss habe vergessen um Hilfe zu bitten, als ich mit negativen Gedanken in der prallen Sonne unterwegs war. Wie sagen die Kölner so schön: „Et jitt kei jrösser Leid, als wat der Minsch sich selvs ahndeit.“