gleicher Tag (insgesamt 738,4 km gelaufen)
Castañeda (ca. 50 Einw.), ca. 400 m üdM, Provinz La Coruña
Hostal, Doppelzimmer, 30 € inklusive Frühstück
Am Ortseingang von Castañeda erblicke ich direkt eine Pension. Die Rettung vor den Fluten! Erleichtert schüttel ich mir das Wasser aus dem Poncho bevor ich das Lokal betrete. Als ich die Tür öffne, trifft mich fast der Schlag. Die Gaststätte ist gnadenlos überfüllt. Die meisten Leute tanzen zu lauter Musik. Ich kann kaum einen Schritt hineinsetzen, quetsche mich mit Ruddi unterm Poncho Stück für Stück durch die Menge. An der Theke frage ich schreiend - den Dezibels der Anlage trotzend - nach einem Zimmer. „Lo siento, wir sind ausgebucht. Das ist eine Hochzeitsfeier und alle bleiben über Nacht.“ Ich muss mal wieder völlig fertig und verzweifelt aussehen. Jedenfalls zwinkert mir ein junger Señor an der Theke - trotz meines quietschnassen Outfits inmitten der feinen Gesellschaft verständnisvoll lächelnd zu. Der Spanier bestellt mir was zu trinken und fragt, ob er helfen könne. „Buscando una habitación libre (ich suche ein freies Zimmer)!“ Er sieht mir interessiert zu, als ich den Reißverschluss meines Ponchos öffne. Ruddi ist angesichts des Lärms und den vielen ausgelassenen Leuten ziemlich zappelig vor meiner Brust. Mit seinen großen Augen im nassen Fell sieht er sich vorsichtig um und legt dann schutzsuchend seinen Kopf auf mein Dekolletee. Dem Señor geht sofort das Herz auf. Er ist außer sich vor Rührung und zögert nicht lange, um für mich bei einem befreundeten Hospitalero telefonisch ein Zimmer klarzumachen. Ich bin mal wieder tief beeindruckt, wie liebenswert und hilfsbereit das spanische Volk in jeder Lebenslage ist. Er erklärt mir den Weg, während ich mein Getränk genieße. Das Hostal liegt etwas außerhalb von Castañeda, direkt an der Nationalstraße.
So kommt es, dass ich parallel zum Camino am linken Rand der Nationalstraße im nicht enden wollenden Regen unterwegs bin. Weit vor mir sehe ich etwas auf dem Randstreifen liegen. Das könnte ein schwarzer Mantel sein oder eine leere Tasche. Als ich näher komme, stelle ich entsetzt fest, dass es ein großer toter Hund ist. So, wie er aussieht, wurde er erst vor ganz kurzer Zeit angefahren. Es bricht mir das Herz, ihn hier im strömenden Regen liegen zu sehen. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Das hat mir einen richtigen Schlag versetzt. Für einen Moment bin ich wie gelähmt und nicht annähernd in der Lage irgendetwas zu tun. Ich habe keine Idee, die mich nicht hinhaut. Ich muss hier weg - Ruddi muss hier weg! Wir sind noch nie an einem toten Hund vorbeigekommen.
Nur wenige hundert Meter weiter erreiche ich nervlich am Ende das Hostal. Ich habe Perrito vorsichtshalber wieder unter meinen Poncho gesetzt. Das Gebäude ist groß und liebevoll gepflegt. Trotz des mehr als grauen Wetters, strahlt dieses Haus regelrecht. Wie in Molinaseca ist die Eingangstür dieses Hauses oben und unten getrennt zu öffnen. Auf mein Klopfen öffnet eine Frau die obere Türhälfte. Sofort ist ihr klar, dass ich die Pilgerin bin, für die das Zimmer telefonisch reserviert wurde und lässt mich schnell ins Trockene. Mir ist klar, dass sie nichts von meinem Hund weiß. Darüber wurde am Telefon nicht gesprochen. Das hätte ich mitgekriegt.
Immer noch geschockt, erzähle ich ihr zuerst einmal von dem toten schwarzen Hund auf der Nationalstraße. Sie ist betroffen, kann sich vorstellen, dass das der Hund ihrer Nachbarin ist. Sie will sich gleich darum kümmern, wenn sie mich auf mein Zimmer gebracht hat. Wie ich am Eingang gesehen habe, handelt es sich hier um ein Ein-Sterne-Hostal. Das muss ein Druckfehler sein. Schon der Eingangsbereich hätte mindestens drei Sterne verdient. Es strahlt hier drinnen nicht weniger als draußen. Nun erinnert es mich an das Hostal in Pitin. Über eine breite gerade Holztreppe kommen wir auf einen großzügigen Flur, von dem die Zimmer abgehen. Auch hier stehen gemütliche Sitzgruppen, die durch große, üppige Pflanzen voneinander getrennt sind.
Das Zimmer ist hinreißend und blitzblank gewienert. Die Bettwäsche duftet so frisch, die kann noch nicht länger als wenige Minuten aufgezogen sein. Der Raum hat drei normale und zwei bodentiefe Fenster. Gegenüber vom Bett, zwischen zwei Fenstern steht eine auffallend kleine antike Bank. Das Bad ist neu, großzügig und glänzt vom Boden bis zur Decke. Es gibt sogar mal wieder eine Badewanne. Ich bin begeistert. Hier will ich bleiben.
Ruddi regt sich vorsichtig unter meinem Poncho, sagt mir quasi, dass ich ihn enttarnen soll. Ein Blick in die warmherzigen Augen der Señora und die schmerzvolle Erinnerung an den toten Hund auf der Straße helfen mir dabei, den blinden Passagier zu melden. Wir wissen von der Wirkung, die das Öffnen meines Poncho-Reißverschlusses hat. Die Wirtin ist so gerührt, dass sie Ruddi sofort mit einem kleinen sauberen Stofftuch, das sie aus ihrer Kitteltasche zieht, über das nasse Köpfchen reibt. Da brauch ich keine Worte mehr. Ruddi schaut sich kurz im Zimmer um, springt sofort auf die kleine Bank und setzt sich hin, als wäre er ein Nipp-Figürchen. Ein Bild für die Götter. Dieses Möbelstück möchte er gerne kaufen.
Perrito ist nach neun Stunden Regen total erschöpft und friert. Sofort rubbel ich ihn trocken und hol sein Bett aus meinem Rucksack. Da kann die Bank nicht mithalten. Ich kriege so gerade noch die Decke hineingelegt, bevor er zum Sprung ansetzt. Im Flug bereits eingekringelt, landet er sanft und sicher auf seiner weichen Decke. Ich bin viel zu geschafft, um mich noch ans Waschbecken zu stellen und die allabendliche Handreinigung meiner Klamotten in Angriff zu nehmen. Eine Blitzidee macht sich in meinem Kopf spontan breit: „Die Wirtin macht dir deine Wäsche!“ Ach ja? Spontan „renne“ ich los und erwische sie noch auf dem Flur. „Sí, señora, sólo cinco Euro (Ja, für nur fünf Euro). Sofort folgt sie mir in mein Zimmer und sammelt alles ein, was sie kriegen kann. Ich muss Ruddi sogar seine Kuscheldecke unterm Hintern wegziehen. Die hat es aber auch nötig! Sie gibt mir ein weiches Handtuch, auf dem Schnurzel solange liegen kann. Luxus pur in Castañeda.
Den Abend verbringe ich mit einem jungen sehr netten Ehepaar aus Aschaffenburg. Sie gehen nur die letzten 100 Kilometer, sind aber trotzdem „echte“ Pilger und phänomenal unterhaltsam. Wir genießen ein wundervolles Drei-Gänge-Menü, das die gute Fee des Hauses persönlich à la minute zubereitet und liebevoll serviert. Ich kann zwischen zwei Desserts wählen und bin unschlüssig. Meine neuen Pilgerfreunde empfehlen mir die Santiago-Torte. Oh, Mama! Ist die gut! Ich könnte fünf Stücke davon vertilgen. Wehe, wenn es die Morgen, egal wo ich übernachten werde, nicht gibt! Diese Pension hat meiner Meinung nach mindestens fünf Sterne verdient.
Mit jedem Glas Wein wird mein Mitteilungsbedürfnis größer. Das ist der Pilger-Austausch-Entzug der letzten Tage! Ich habe aber auch wirklich interessierte Zuhörer. Sie wollen ALLES wissen. Wo soll ich da anfangen und wo kann ich aufhören? Ich könnte ein Buch darüber schreiben! Erzählen kann ich nur ausgesuchte Erlebnisse - irgendwann muss der Abend schließlich ein Ende finden. Die beiden bedauern sehr, dass sie keine Zeit dafür haben, den gesamten Camino Francés zu laufen. Sie merken übrigens erst nach dem Essen, vor dem Gassi-Gehen, dass Ruddi die ganze Zeit mit am Tisch war. Ja, so haben sich ein paar meiner Geschichten über „Ruddi inkognito“, die meine Zuhörer als „unglaublich“ beurteilten, bewiesen.
Es ist die drittletzte Nacht auf meinem Camino. Ich kann es gar nicht fassen. Und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes. Wie werden die beiden letzten Etappen sich anfühlen? Ich finde noch nicht einmal annähernd eine Antwort darauf. Wieso wundert mich das nicht? Pilgern ist unberechenbar und unplanbar, außer man hetzt sich ab und vergisst sich selbst dabei. Kurz vor dem Einschlafen wird mir richtig bewusst, dass ich es wohl schaffen werde, pünktlich und gemütlich in Santiago de Compostela anzukommen. Höchstwahrscheinlich finde ich sogar einen ganzen Tag Zeit, um an das Ende der Welt zu fahren, zum Kap Finisterre.