Mittwoch, 16. April 2008
Honto/Untto (50 Einwohner), 500 m üdM, franz. Baskenland
2. Etappe bis Roncesvalles, 16,6 km
Morgens gegen 5.30 Uhr stehe ich auf, also mitten in der Nacht. Ich habe sehr gut geschlafen. Als ich aus dem Bett springen will, schalte ich, ohne zu kuppeln, einen Gang zurück. Ich habe einen ordentlichen Muskelkater. Die beste Medizin dagegen heißt Bewegung, also: nicht jammern, weitermachen. Es ist kalt und ich bin ganz schnell angezogen. Ich packe meinen Rucksack direkt komplett ein, damit ich pünktlich um 8.00 Uhr für die Rückfahrt nach Orrison fertig bin.
Ob es heute ein „richtiges“ Frühstück gibt? Ich gehe mit Ruddi über die Straße ins „private Wirtshaus“ und treffe auf Gabi und Franz-Josef. Der Tisch ist gedeckt. Es gibt leckeres Weißbrot, Butter, rote und gelbe Marmelade, heißen Kaffee und warme Milch. Na also, geht doch! Man wird echt bescheiden. Meine Begeisterung ist sehr groß und ich greife mehrmals zu. Wir unterhalten uns darüber, wie und wo der Camino heute verläuft. Zunächst müssen wir weiter den Berg erklimmen, bis auf 1430 Meter über dem Meeresspiegel. Der Weg ist die nächsten sechs Kilometer zwar geteert, wird aber wahrscheinlich gar nicht mehr von Autofahrern benutzt. Wo würden die auch hinwollen, da oben ist ja nichts los. Kurz vor acht verabschiede ich mich von den Aachenern mit einer Umarmung: „Buen Camino. Bis heute Abend in Roncesvalles.
Als ich durch die „Bar“ das Haus verlassen will, sehe ich wieder - oder immer noch? - den Statuen-Mann haargenau so am Tisch sitzen, wie gestern Abend. Regungslos hält er einen Schlüssel in der Hand und schaut starr auf die Wanduhr. Was mag ihm wohl so durch den Kopf gehen? Die Herbergs- und Pensionsmutter kommt dazu und macht mir klar, dass das ihr Bruder sei, der mich jetzt nach Orrison fahren wolle. Ich werde dauernd überrascht, sogar schon am frühen Morgen. Die Statue kann Auto fahren?! Ich darf gespannt sein, was auf mich zukommt. Ich nicke ihm freundlich zu und... er schenkt mir ein klitzekleines Lächeln zurück. Er geht mir voraus, steigt in sein Auto und sitzt dort erst mal. Ja - so kenn ich ihn!
Ich krieche mit dem höllischen Muskelkater so schnell ich kann, die steile Auffahrt zur Herberge hoch, um meinen Rucksack aus dem Zimmer zu holen. Ich höre, wie draußen ein Motor gestartet wird. Hektisch mein Gepäck raffend denke ich: „Oweia, der muss bestimmt dringend irgendwo hin und Orrison liegt zufällig auf seinem Weg. Bitte warte auf mich, fahre nicht ohne mich los. Ich bin dieses Stück Camino gestern schon gelaufen und weiß, wie steil es ist. Ich kann das nicht nochmal tun!“ Jetzt höre ich das Auto näher kommen. Er ist so freundlich, mich direkt vor meiner Terrassentür einsteigen zu lassen. Wie zuvorkommend von ihm! Ich stelle mein einziges Gepäckstück mit den Stöcken in den Kofferraum des alten, weißen, kleinen Lieferwagens und steige mit Ruddi vorne ein. Sofort fährt der Mann los - ohne ein Wort. Verunsichert durch sein Schweigen stammele ich nur: „Ich bin so froh, dass Sie mich nach Orrison fahren...“ Ich spreche sehr langsam und laut - vielleicht kann er so auch Deutsch verstehen. Mir ist schon mehrmals aufgefallen, dass, wenn jemand fremdartig spricht, viele Leute zwar einfach verzweifelt weiter in ihrer Sprache reden, aber langsamer und vor allen Dingen laut. Mit dieser Methode komme ich bei ihm nicht durch. Er winkt ab, kann mich nicht verstehen. Ich glaube, ich soll die Klappe halten.
Im ersten - und nur im ersten! - Gang nimmt er den drei Kilometer langen, sehr steilen Weg nach oben. Der kleine Motor hat mein komplettes Mitgefühl, hoffentlich hält er durch. Na ja, auf dem Rückweg kann er sich ja entspannt einfach runter rollen lassen. Zum Glück hat das Auto einen kleinen Wendekreis, sonst müsste der Fahrer rangieren, um die Serpentinen zu bewältigen. Ich habe gestern schon beim Runterfahren mit dem Lehrer gebetet, dass uns niemand entgegenkommt. Auf diesem schmalen Weg hat nur ein Auto Platz. Ich möchte gar nicht wissen, wie die das hier bei Gegenverkehr machen. Das muss unglaublich spannend sein. Auf der einen Straßenseite klebt man meist direkt am Hang und auf der anderen stürzt man ab. Mein Gebet wurde erhört, und wir erreichen Orrison, ohne auf ein anderes Auto zu treffen.
Jedoch sind drei Pilgerinnen unterwegs gewesen, die uns Platz machen mussten. Sie haben sich umgedreht und winkend in das Wageninnere geschaut. Plötzlich waren sie ganz aufgeregt mit ihrer Gestik und Mimik und haben mich angelacht. Als wir an ihnen vorbeigefahren sind, habe ich voller Entsetzen festgestellt, dass das meine Münchnerinnen waren. Die glauben doch jetzt zu recht, dass ich schummeln will und per Anhalter gefahren bin. Wenn ich bremsen könnte, hätte ich voll in die Eisen getreten und erklärt, wie es dazu kam, dass ich mich dieses Etappenstück gemütlich fahren lasse. Ich werde alles dafür tun, die Mädels nochmal wiederzusehen. Das muss ich denen doch sagen!
Vor der Herberge, exakt an der Stelle, an der ich gestern „entführt“ wurde, stoppt der Wagen. Der Mann spricht immer noch nicht, stoppt nur. Ich bedanke mich überschwänglich und möchte ihm fünf Euro in die Hand drücken. Er schaut mich entsetzt an und lehnt mit einem Wort entschieden ab: „No!“ Mir wird klar, dass ich ihn beleidige, wenn ich das Geld nicht sofort wieder einstecke. Ich nehme meine Sachen aus dem Kofferraum und winke ihm mit einem „Merci beaucoup“ auf den Lippen zu. Er wendet und rollt davon, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Jeder Jeck ist ja bekanntlich anders. Dieser ist ein besonders liebenswerter.
Mir wird zum ersten Mal klar, dass ich ihn und alle anderen Menschen (Pilger ausgenommen), Tiere, Orte, und Landschaften nicht wiedersehen werde. Ich gehe den Camino Francés. Das heißt, ich bin jeden Tag, jede Stunde woanders und komme nicht mehr zurück. Es gilt also, alles sehr bewusst wahrzunehmen und loszulassen. Man kann es nicht, wie im „normalen“ Leben, später nachholen. Die große Ausnahme ist die Herrin des Anwesens in Honto.
Nun stehe ich hier, gestützt auf meine Wanderstöcke, mit meinem Hund und Rucksack in Orrison und freue mich auf die gut 16 Kilometer meiner zweiten Etappe. Die Sonne scheint vom leicht bewölkten Himmel. Es ist allerdings sehr stürmisch und höchstens 16, 17 Grad Celsius. Der Muskelkater wird bestimmt anfangen zu schnurren, wenn ich mich nach 500 Metern eingelaufen habe. Ich habe es gehofft und darf es auch erleben, Mary und Lynn noch anzutreffen. Sie wollen ebenfalls gerade loslaufen. Als sie mich sehen, schnallen sie nochmal ab und begrüßen mich stürmisch. Ruddi wird geherzt, geküsst und von Kopf bis Schwanzende genau unter die Lupe genommen, ob da auch alles in Gang und in Ordnung ist. „Wie war Deine Nacht? Hat alles geklappt? Habt ihr gefrühstückt? Tut Dir was weh? Wie weit willst Du heute gehen? Hast Du reserviert?“ wollen sie von mir wissen. Ich beantworte alle Fragen der Reihe nach, bis auf die letzte. Wenn sie erfahren, dass ich nicht vorhabe, zu reservieren, werde ich bestimmt ausgeschimpft. Sie freuen sich, dass es mir so gut ergangen ist. Ich bedanke mich von Herzen für alles, was sie bisher für mich getan haben und bin froh, dass sie die Frage nach der Reservierung vergessen haben.
Sie möchten mit mir zusammen ein Stück gehen. Ich lehne ab, weil ich einerseits den Weg alleine gehen muss und andererseits gestern gesehen habe, wie flott die beiden Grazien den Berg hoch laufen können. Als die Rucksäcke perfekt sitzen, verabschieden sie sich mit den Worten: „Buen camino! Bis heute Abend in Roncesvalles. Wo hast Du gebucht?“ Oh nein! Da ist die böse Frage wieder! Ich versuche, ihnen nochmal in meinem Behelfs-Englisch zu erklären, dass ich nicht - und zwar nie - vorhabe, mich durch gebuchte Betten oder Zimmer unter Druck zu setzen. „Aber Du musst das tun, weil die Herbergen keine Hunde einlassen wollen oder dürfen und es oft nur eine Pension oder ein Hotel in den kleinen Dörfern gibt. Und ob die dann einen Hund aufnehmen ist fraglich“, kontern sie entschlossen, „oder Du kaufst Dir ein Zelt!“ Das scheint für sie die beste Idee aller Zeiten zu sein und rechnen sich voller Tatendrang aus in wie vielen Tagen wir die erste Stadt erreichen, in der wir die Campingausrüstung kaufen könnten. WAS? Wer will ein Zelt kaufen?! Mir wird das jetzt wirklich zu viel. Ich bin ja schon groß und weiß selbst, was ich tun und lassen will auf „meinem Weg“. Ihre Idee ignorierend, umarme ich die beiden liebgewonnenen Frauen, wünsche „buen camino“ und verziehe mich in die Bar der Herberge, nur um diese Situation aufzulösen.
Nach fünf Minuten, so gegen halb neun laufen Ruddi und ich endlich los. Mein Hund humpelt immer noch ein bisschen, aber nicht mehr so schlimm wie gestern. Schon nach zirka 100 Metern ist mein Kopf von dem Gespräch vorhin befreit, weil ich vollauf damit beschäftigt bin, die überwältigende Steigung zu schaffen. Ich denke: „Gestern war das eher ein Kinderspiel bis nach Orrison zu gehen. So steil war das doch gar nicht.“
Die Landschaft ist traumhaft schön. Saftig grüne, hügelige Almwiesen und schneebedeckte Bergspitzen im Hintergrund. Der Himmel ist dunkelblau. Wenige weiße Wolken ziehen schnell vorüber. Drei oder vier Mal sehe ich mehrere Pferde, die hier frei herumlaufen. Es herrscht eine göttliche Ruhe. Ich frage mich wieder, wo die ganzen Pilger abgeblieben sind, die eben kurz vor mir in Orrison gestartet sind. Ich habe das Gefühl, als sei ich ganz alleine unterwegs Richtung Santiago de Compostela.
Ich hoffe, dass ich keine rot-weißen Wegweiser übersehe, denn durch die unglaubliche Steigung ist mein Gesicht sehr nah am Boden. Nach ungefähr zwei Kilometern fällt mir auf einer Wiese ein Campingwagen auf. Ich habe die leise Hoffnung, dass der extra für die Pilger hier ist. Vielleicht kann man da Kaffee trinken und mal die Toilette benutzen. Ich hätte beim Frühstück den Orangensaft weglassen sollen. Der treibt! Als ich auf der Zielgeraden bin, setzt sich die vermeintlich fahrbare Pilger-Bar in Bewegung und ich gucke traurig hinterher. Und jetzt? Hallo, ich muss mal! Da vor dem Felsen am Ende der Wiese sind doch noch ein paar Pilger, oder? Eine Frau in einem langen weißen Kleid ist sogar ganz mutig den Felsen hochgeklettert und genießt die Aussicht. Ich spekuliere, ob das wohl eine Braut ist, die vom Altar weggelaufen ist oder gar von ihrem Bräutigam verlassen wurde? Wie unvernünftig, wenn die abstürzt, wer springt dann hinterher? Ich hab keine Zeit, ich muss nach Santiago! Und Hochzeitsgäste sind auch nicht in Sicht. Kurios!
Als ich näher komme, erkenne ich meine Bayern-Frauen und werde plötzlich ganz schnell. Nicht, dass die mir vor der Nase weglaufen, wie eben meine erhoffte Toilette weggefahren ist. Wir begrüßen uns sehr freudig! Ich werde erst mal meine „Anhalter- Geschichte“ los und hoffe, dass das jetzt geklärt ist. „Ich werde den Camino eher abbrechen, bevor ich irgendeinen fahrbaren Untersatz benutze, um weiterzukommen“, teile ich feierlich mit und erkundige mich danach, wie es ihnen gestern ergangen ist. Sie erzählen mir, dass der Weg aus Saint Jean Pied de Port schwerer zu bewältigen war, als sie dachten und sie sehr, sehr langsam und mit vielen Pausen gegangen sind. Sie haben in Orrison übernachtet und sind in aller Herrgottsfrühe gestartet. Medikamente und Bachblüten sind auch schon zum Einsatz gekommen, weil eine von ihnen Muskelzerrungen und Schulterprobleme hat.
Ich erzähle von Ruddi‘s Gehumpel und zack - bevor ich von meiner Massage und Reiki-Sitzung sprechen kann - habe ich auch schon drei winzig kleine Bachblüten-Kügelchen für ihn auf der Hand liegen. Die könnten auf keinen Fall schaden, und ich solle sie im in die Lefzen legen. Da ich weiß, dass das nur helfen kann, mach ich das prompt. Ich bekomme noch den Tipp, ihn auf keinen Fall mit Schmerzgel zu behandeln. Da ist ein Wirkstoff drin, der den Hund sofort tot umfallen lässt, wenn er es ableckt. Ich freue und wundere mich sehr über die Fürsorge auch dieser Frauen.
Ich lasse jetzt mal meinen Blick schweifen und muss unvermittelt laut lachen. Die weiß gekleidete Person ist die „Jungfrau vom Biakorri“, eine Statue - die denkt gar nicht daran, zu heiraten und fällt auch nicht den Fels runter. Die beiden Münchnerinnen stimmen in mein Lachen ein, als ich von meiner Beobachtung berichte.
Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sich eine von ihnen entfernt hatte. Ich sehe, wie sie hinter dem Felsen hervorkommt - ohne Rucksack. Na klar, ich weiß, warum sie weg gewesen ist. „Na! Orangensaft getrunken?“ Ich muss da auch hin. Ich habe echte Angst abzustürzen, als ich bei diesem starken Sturm auf dem Felsen rumklettere. Jedoch haben noch nicht viele Menschen beim Pinkeln so eine spektakuläre Aussicht gehabt. Beim Hose-hochziehen wird es noch mal spannend und ich ermahne mich selbst: „Nur nicht runter gucken und das Gleichgewicht verlieren, Birgit.“ Der Wohnwagen wäre intimer und ungefährlicher gewesen, aber dann hätten meine Augen echt was verpasst.
Glücklich und erleichtert wieder bei den Mädels zurück - sie haben auf meinen Rucksack und Ruddi aufgepasst - berichten sie mir, dass das wohl ein Adler-Landeplatz sei, auf dem ich mich ebenso unbeobachtet gefühlt habe. Im Nachhinein wird mir noch ganz anders. Meine Fantasie droht, mit mir durchzugehen. Wenn ein Spatz in meine Richtung geflogen kommt, gerate ich schon in Panik und laufe schreiend weg. Was, wenn ein Adler auf mich zu gesegelt kommt und mich auf seinem Gäste-WC erwischt? Ich wäre unkontrolliert losgerannt und abgestürzt, beziehungsweise freiwillig runter gesprungen und müsste den ganzen Berg nochmal rauflaufen. Oh Mann, hab ich ein Glück - oder haben die Münchnerinnen die Adler frei erfunden!?
Ich habe mich sehr gefreut, die Frauen, mit denen ich meine erste Pilgernacht verbracht habe, hier zu treffen. Aber nun trennen sich unsere Wege auch wieder. Ich lasse sie ziehen und rauche in Ruhe noch eine Zigarette. Dann setze ich entspannt meinen Weg durch die Pyrenäen fort. Der Sturm wird immer stärker. Ich lasse Ruddi nicht von der Leine, weil ich Angst habe, dass er von einer Bö erfasst wird, vom Weg geweht wird und abstürzt. Ich muss mich sehr darauf konzentrieren, in der Mitte der schmalen Straße zu bleiben, damit ich nicht den Abflug mache. Das wäre fatal für Ruddi, denn seine Leine ist am Hüft-Gurt meines Rucksacks befestigt. Zweimal fährt ein Auto hinter mir. Ich weiß nicht wie lange der Fahrer hupen muss, bis ich es wahrnehme. Der Wind kommt von vorne und ist so laut, dass das Motorengeräusch nicht zu hören ist. Radpilger steigen vom Rad, weil sie den enormen Anstieg in Kombination mit dem Sturm auch mit dem besten Mountainbike nicht schaffen können.
Nach vier oder fünf gewanderten Kilometern erblicke ich zu meiner Rechten eine riesige Wiese, auf der so um die 20 Pilger picknicken. Allein oder in Mini-Grüppchen sitzen sie da und trotzen dem aufmüpfigen Wind. Einige winken mir zu, ich solle zu ihnen kommen, auch die Münchnerinnen. Ich winke fröhlich zurück, rufe ihnen ein „buen camino“ zu und gehe weiter. Ich möchte jetzt keine Pause machen. Ich will endlich über den Berg und mal abwärts gehen.
Ungefähr 50 Meter voraus geht ein Mann, der mir vor einer halben Stunde das erste Mal aufgefallen ist, als er in einer windgeschützten Felsspalte eine Rast eingelegt hatte. Er geht zwar schneller als ich, aber er muss alle paar Meter stehenbleiben und - sich weit nach vorne gebeugt auf seine Stöcke stützend - nach Luft schnappen. Hoffentlich schafft der den Aufstieg unbeschadet.
Die nächsten zwei, drei Kilometer laufen wir immer im gleichen Abstand. Es ist nicht mehr ganz so steil. Das Gehen ist jetzt entspannter. Ich sehe wie der Mann vor mir einem Weg folgt, der eine Richtung aufweist, die nicht zum Camino passt. An der Kreuzung, an der er links abgebogen ist, gehe ich deshalb geradeaus. Nach 100 Metern stehe ich am Abgrund und könnte zwar rechts abbiegen, aber da ist kein rotweißer oder gelber Camino-Hinweis. Der schreckliche Gedanke, dass ich mich verlaufen haben könnte, steigt in mir hoch. Ich gehe zurück zu der Kreuzung und jetzt kommt mir der Mann, dem ich so brav hinterher gelaufen bin, entgegen und sagt: „Ich glaube, wir haben ein Problem.“ Ich antworte: „Wir müssen zurück. Das ist nicht mehr der Camino.“ So langsam dämmert es mir: vorhin auf der Wiese haben die Leute nicht einfach nur gewunken, sondern wollten mich auf den richtigen Weg lenken. Die haben sich bestimmt die Seele aus dem Leib gebrüllt, aber durch den Sturm konnte ich sie nicht hören. Tja, dumm gelaufen! Aber: „Für irgendwas ist das gut“, lautet stets mein Motto.
Wir sehen uns ratlos an, wälzen unsere Reiseführer und die Karte aus dem Pilgerbüro und fragen zwei Spaziergänger nach dem Weg zum „Rolandsbrunnen“. Hier oben auf dem Bergkamm verläuft die Grenze nach Spanien. Sie zeigen auf einen Weg, der nicht wirklich einer ist. Es ist ein schmaler Trampelpfad, der durch die Schneeschmelze und das nasse Gras überaus matschig und rutschig ist. Und das bei dem orkanartigen Sturm. Na, herzlichen Glückwunsch! Wir sollen den Wanderern hinterher gehen, die in der Ferne so gerade noch zu sehen sind. Das ist uns eine Überlegung wert: Entweder zwei oder drei Kilometer zurücklaufen - wer weiß, an welcher Stelle wir uns verlaufen haben - oder den Leuten hinterher, die auch Bauern sein könnten, die ihre Felder begutachten.
Mein „persönlicher Bergführer“ heißt Hermann und ist wild entschlossen, den Trampelpfad zu nehmen. Auch auf die Gefahr hin, dass er dann noch weiter zurück müsste, wenn es da oben nicht weitergehen sollte. Ich schließe mich ihm an, allerdings ohne feste Überzeugung, ob das die richtige Entscheidung ist. Gesagt, getan. Der Weg ist die reinste Katastrophe, aber wir kämpfen uns tapfer durch den glitschigen Matsch und den Sturm. Ab und zu ist auch der Pfad nicht mehr zu erkennen. Ich versuche, die Angst vor einem Sturz zu unterdrücken. Es wäre ein Drama, wegen einer Verletzung nicht weiterlaufen zu können. Santiago wartet doch auf mich. Meine Zweifel werden immer größer. Soll ich doch noch zurückgehen? Meine Gedanken und Gefühle kommen bei Hermann an. Er bittet mich, ihm zu vertrauen. Ich solle immer in seinen Fußstapfen bleiben, dann könne nichts passieren.
Ganz oben angekommen, kreist ein Lämmergeier in Augenhöhe mit uns über eine leicht schneebedeckte Wiese. So einen großen Vogel habe ich noch nie gesehen und denke mit Schrecken an den „Adler-Landeplatz“. Die beiden Wanderer vor uns haben wir vor einer Weile in der Bergwelt aus den Augen verloren. Jetzt können wir sie wieder erblicken. Sie machen gerade eine Pause und als wir sie erreichen, fragen sie uns nach dem Weg nach Roncesvalles. Na prima! Ein Pilger läuft dem anderen hinterher und der an der Spitze nimmt den falschen Weg. Der Mensch ist wirklich ein Herdentier. Da der Weg aber langsam besser wird und die ganze Zeit an der spanischen Grenze entlang führt, gehen wir - na sagen wir mal: munter - weiter. Ich schätze, dass es um die zwei Kilometer sind die wir mittlerweile im Ungewissen über diesen Trampelpfad laufen.
Plötzlich, für mich vollkommen unerwartet, sind wir jedenfalls am 1344 Meter hoch gelegenen Rolandsbrunnen. Und der ist ganz sicher auf dem Jakobsweg. Ich kann es kaum glauben. Zuerst einmal trinken wir Wasser aus der Quelle, dann setzen wir uns auf den Brunnenrand und freuen uns, wie die Kinder an Weihnachten, über jeden Pilger der hier vorbeikommt.
Endlich kann ich Ruddi die blöde Leine abnehmen. Der Sturm ist nämlich in Frankreich geblieben. Wir sind jetzt in Spanien und am Ende mit unserer Kraft. Es ist 13 Uhr und wir haben noch gute zehn Kilometer vor uns. Die Hälfte dieser Strecke führt weiterhin bergauf und danach auf nur fünf Kilometern fast fünfhundert Höhenmeter bergab. Soll ich mich darüber freuen, oder nicht? Lässt der Pilger sich da einfach den Berg runter rollen oder gibt es eine Treppe oder gar einen Lift? Ohne geht das doch gar nicht, oder? Bin gespannt wie das weitergeht. Ich wünschte, ich hätte irgendwas zu essen, die letzten Kilometer waren wirklich Kraft raubend.
Ich konzentriere mich auf drei Pilger, die auf Pferden unterwegs sind. Sie haben einen großen Hund dabei. Der ist zwar lieb, aber durch die matschigen Wege „dreckig wie die Sau“. Er springt fast jeden vor lauter Freude mehrmals an. Wir sind zwar nicht in Abendgarderobe unterwegs, aber bis eben waren wir wenigstens „oben rum“ noch sauber. Die Reiter könnten ihren Hund ja mal zurückpfeifen, aber sie denken nicht daran, schauen noch nicht mal hin. Manche Hundebesitzer sind unmöglich.
Bevor ich mich weiter in diese Begebenheit hineinsteigern kann, stupst Hermann mich an und hält mir ein halbes Baguette mit dicken, fetten Scheiben Fleischwurst drauf, vor die Nase. Er teilt sein einziges Brot mit mir. Ich könnte ihn knutschen. Er hat mich vor dem sicheren Hungertod bewahrt. Das war das leckerste Wurstbrot, das ich in meinem Leben gegessen habe - und da war keine Butter drauf! Danach ging es mir wesentlich besser. Wenn ich mich nicht verlaufen hätte, hätte ich Hermann nicht kennengelernt, keinen Lämmergeier gesehen und das beste Fleischwurst-Baguette aller Zeiten verpasst. Ich sage ja: „Nichts passiert einfach so, für irgendwas ist es immer gut.“ Und mir fällt auf, dass mein insgeheimer Wunsch nach Essen spontan erfüllt wurde. Mein „universeller Topp-Manager“ - manche nennen ihn auch Gott oder Allah oder ganz anders - hat alles prima organisiert. Danke!
Gemeinsam setzen wir unseren Weg fort. Er führt uns durch einen Buchenwald. Hier oben wird der Wald nicht gefegt. Auf dem Weg liegt knöchelhoch Laub, und da der Schnee schmilzt, vereinigt sich das Wasser mit dem Laub und dem Waldboden. Es ist eine schlammige, zähflüssige Pampe, die einem im wahrsten Sinne des Wortes, fast die Schuhe auszieht. Man kann nicht erkennen, ob darunter Wurzeln oder Steine liegen und muss bei jedem Schritt damit rechnen, dass der Fuß nicht so aufsetzt, wie man es erwartet. Da sich am Rolandsbrunnen viele Pilger ausgeruht haben, sind wir jetzt doch so um die zehn, zwölf Leute, die hier zusammen unterwegs sind. Es ist ein wildes Zickzack-Laufen und beim ein oder anderen bleibt tatsächlich der Schuh im Matsch stecken. Die Flüche möchte ich an dieser Stelle nicht wiedergeben. Ruddi versucht verzweifelt zu schweben, er hasst nasse Pfoten und sieht - noch schlimmer als der Hund am Brunnen - auch aus wie „die Sau“. Zu unserer Linken ist der schneebedeckte Hang. Plötzlich bleibt Hermann stehen und zeigt mit einem seiner Wanderstöcke auf etwas, das jemand in den Schnee gemalt hat: Das Bild stellt einen kleinen Hund dar. Darüber steht „Rudi“ geschrieben.
Zweifellos ist mein Hund damit gemeint. Wer hat in dieser Situation bloß an uns beide gedacht? Die Münchnerinnen, die Aachener, die Kanadierinnen? Ich weiß es nicht, aber es tut unendlich gut und gibt mir jede Menge Aufschwung und Power für den weiteren Weg. Ich mag müde und kaputt sein, aber alleine mit Ruddi bin ich weiß Gott nicht auf dem Jakobsweg. Im richtigen Moment passieren die richtigen Dinge oder Begegnungen. Ich bin mächtig beeindruckt.
Auf einem Felsbrocken sitzen zwei junge Männer und eine junge Frau. Sie haben eine Menge Spaß miteinander. Sie blödeln rum, lachen und erzählen sich lebhafte Geschichten. Sie sind extrem entspannt und vermitteln den Eindruck, sich schon sehr lange zu kennen. Wir kommen kurz ins Gespräch. Sie sind zur gleichen Zeit wie ich in Saint Jean Pied de Port losgegangen. Sie heißen Achim, Oliver und Sabrina. Sie ist in kurzen Hosen unterwegs. Wow, hier oben ist Winter. Die meisten Pilger haben sich am Rolandsbrunnen noch eine zusätzliche Jacke angezogen. Sabrina denkt gar nicht daran. Diese kleine Gruppe strahlt von innen so viel menschliche Wärme aus. Irgendwie fühle ich mich zu ihnen hingezogen. Es fällt mir richtig schwer, ohne sie weiterzugehen. Ein Stück weiter gibt es einen Rastplatz für Pferde und ihre Begleiter. Hier sehen wir noch mal die Reiter mit ihrem Hund. Diesmal bleibt er bei ihnen. Am Brunnen hat ihn bestimmt nur die Fleischwurst gereizt, fällt mir im Nachhinein ein.
Wenn man oben auf dem Berg angekommen ist, darf oder muss man auch wieder runter laufen. Für Hermann und mich steht fest, dass wir den enorm steilen, aber deutlich kürzeren Abstieg wählen. Wir wollen nur noch am Etappenziel ankommen, und zwar schnell. Hermann hat große Probleme mit seinem Rucksack. Der drückt ihm schmerzhaft auf die Schultern. Ich sehe, dass er die Riemen falsch eingestellt hat. Ich weiß, dass das nicht sein muss und mache ihn darauf aufmerksam. In diesem Moment hat er jedoch keine Nerven, mit den Gurten zu spielen. Ich spüre meinen Rucksack nicht auf den Schultern, weil er nicht aufliegt. Ich trage ihn auf der Hüfte und merke natürlich das Gewicht, aber er verursacht keinerlei Druckschmerz. Mein Begleiter hingegen muss immer wieder kräftig und ruckartig die Schultern hochreißen, damit das Gepäck auf seinem Rücken eine andere Position einnimmt. Oft muss er vor Schmerzen stehen bleiben. Hermann sagt mir, ich solle einfach weitergehen, keine Rücksicht auf ihn nehmen. Was denkt der denn von mir? Das geht ja gar nicht! Natürlich gehen wir zusammen bis nach Roncesvalles.
Den Berg zu erklimmen war schwer - aber dieser Abstieg ist der Oberhammer. Ich glaube, in Deutschland wäre dieser „Weg“ für die Öffentlichkeit gesperrt. Es scheint ein Bachlauf zu sein: spitze, durch die Nässe glitschig gewordene, Felsbrocken, dicke Wurzeln und die gleiche Pampe wie eben auch, befinden sich in Mengen auf diesem Pfad. Ich benutze immer wieder das Wort steil, aber das ist an dieser Stelle das falsche Wort. Ohne Wanderstöcke könnte man diesen Abstieg nicht machen. Menschen mit Höhenangst wären auch fehl am Platz. Mit vielen kurzen Pausen kommen wir am Abend in Roncesvalles an. Wie wir aussehen ist unbeschreiblich. So dreckig und fertig war ich in meinem Leben noch nie. Hoffentlich lassen die Herbergs- oder Hotelbesitzer uns überhaupt rein.
Gleicher Tag (insgesamt 24,6 km gelaufen)
Roncesvalles (50 Einwohner), 960 m üdM, Navarreser Pyrenäen
Hotel, Doppelzimmer, 50 Euro inklusive Frühstück
Der erste Tisch mit zwei Stühlen, an dem wir vorbeikommen, gehört uns. Hermann lässt sich einfach mit dem Rucksack auf dem Rücken in eine Sitzgelegenheit fallen und ist unfähig, sich auch nur noch einen Zentimeter zu bewegen. Ich stelle mein Gepäck ab, rupfe Ruddi’s Reisetasche raus, in die er sofort dankbar rein hüpft und setze mich vorsichtig hin. Wie viele Muskeln mag wohl ein menschlicher Körper haben? Es müssen sehr, sehr viele sein - ich spüre sie alle, einige zum ersten Mal. Nett, euch kennen zu lernen. Aber können wir das nicht, bitte schön, mit etwas weniger Schmerzen machen?
Ich brauche dringend einen Kaffee und kündige Hermann an, dass ich uns diesen jetzt besorge. Torkelnd vor Schmerzen erreiche ich die Hotelbar - man hat mich tatsächlich rein gelassen. Ich höre mich einen Kaffee und ein Bier bestellen. Wieso Bier? Wie komme ich denn auf die Idee? Hat Hermann mir da einen Gedanken gesendet. Von Bier war doch gar nicht die Rede! Da diese Bestellung völlig unbewusst erfolgte, korrigier ich mich auch nicht. „Das wird schon für irgendwas gut sein.“ Als ich ihm das kühle Getränk hinstelle, guckt er mich an, als wäre ich das Christkind. Er säuselt: „Woher wusstest Du, dass ich jetzt genau das brauche?“ Na, den Mann habe ich überglücklich gemacht - freut mich. Wieder einmal habe ich die Erfahrung gemacht, wie wichtig oder schön es ist, auf seine innere Stimme zu hören, auch wenn es manchmal unlogisch erscheint. Im Gegenzug kommt von Hermann prompt für heute Abend eine Einladung zum Essen.
Nachdem wir uns für den Moment gestärkt haben, gehe ich nochmal rein, um das Hotelzimmer zu buchen. Das Einzelzimmer kostet 50 Euro für eine Nacht, ein Doppelzimmer gibt es für 65 Euro. Ist zwar viel teurer, als ich dachte, aber wo soll ich denn sonst hin. Es gibt nur das eine Hotel. Im ersten Moment bin ich versucht, Hermann zu fragen, ob wir uns das Zimmer teilen sollen. Dann entscheide ich mich dagegen. Ich kann doch nicht mit einen fremden Mann, den ich erst einen halben Tag kenne, das Zimmer teilen - und die Idee wäre auch noch auf meinem Mist gewachsen! Nein, das geht nicht. Würde er mich fragen, vielleicht ginge es dann, aber so... Die Bar ist sehr voll, ich drängele mich durch die vielen Menschen und entdecke dabei, an einem Tisch Mary und Lynn. Die Wiedersehensfreude ist groß. Wir berichten uns die Tagesereignisse und sie werden blass, als sie hören, dass ich mich verlaufen habe. Was da alles hätte passieren können... und wo ich denn schlafen wolle, das Hotel nimmt doch den Hund nicht auf, wie sie gestern auf die telefonische Anfrage in meinem Namen, erfahren haben. „Psst. Bis jetzt hat ihn das Personal nicht gesehen. Ich werde ihn einfach nicht anmelden, sondern rein schmuggeln.“ Die beiden strahlen über alle vier Backen, freuen sich über meinen Mut und wünschen mir viel Glück.
Hermann sitzt draußen in der Abendsonne vor seinem letzten Schluck Bier. Ich erzähle ihm von den Wahnsinnspreisen des Hauses, er staunt darüber, reagiert aber nicht weiter. Ich will ihn nicht erschrecken und behalte meine Idee vom Teilen für mich.
Irgendwann raffen wir uns auf, das lauschige Plätzchen zu verlassen. Hermann geht frohen Mutes in die Klosterherberge, wo 120 Personen in einem Raum schlafen. Für mich ist das unvorstellbar. Ich bin ganz schön aufgeregt, als ich mit meiner „Schmuggelware“ in der Trixi-Tasche mit letzter Kraft die Treppe hochkrabbele. Vorsichtshalber flüstere ich Ruddi zu, dass er heute ganz leise sein muss, damit wir nicht auffliegen und hierbleiben können. Ihm ist es recht, er will sowieso nur noch schlafen. Er war den ganzen Tag auf seinen vier Beinchen unterwegs.
Nach dem Duschen muss ich mich schwer zusammenreißen, nicht einfach ins Bett zu fallen. Ich muss heute die Wäsche waschen, wenn ich morgen was Frisches anziehen möchte. Lust habe ich nicht, mich vor das Waschbecken zu stellen. Was heißt Lust, ich hoffe, dass ich überhaupt stillstehen kann. Die Füße haben zwar keine Blasen, aber einen unglaublichen Druck unten drunter. Das sind die dreizehn Kilo vom Rucksack. Die spüre ich selbst dann, wenn er abgelegt ist. Ich muss was essen, damit mein Körper sich bis morgen wieder erholen kann. Zu alledem ist der Hunger sehr groß und ich will Hermann auch nicht versetzen. Mir fällt ein, dass ich noch den Pilger-Stempel brauche. Das erledige ich auf dem Weg zum Restaurant.
Unterwegs treffe ich die Reiter vom Rolandsbrunnen ohne ihren gierigen, stürmischen Hund. Dem wird doch nichts passiert sein? Auch wenn der Sausack meine Jacke ziemlich dreckig gemacht hat, wünsche ich ihm nur das Beste - er wollte mir ja nur die Wurst vom Baguette nehmen. Ich frage nach dem Verbleib des Raubtiers und bekomme zur Antwort: „Der gehört uns nicht, der ist uns zugelaufen, hat uns bis hierhin begleitet und jetzt ist er wieder weg.“ Im Stillen, nur für mich, entschuldige ich mich für meine gedanklichen Anschuldigungen und Vorwürfe heute Nachmittag. Da kann man mal wieder sehen: Es ist nicht immer so, wie es scheint.
Ich komme ziemlich spät zum Essen. Das kleine Dorf-Restaurant gegenüber dem Kloster ist gerammelt voll. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Als mein heutiger Wegbegleiter mich an der Theke entdeckt, winkt er mich an den Tisch, an dem er mit zwei Männern sitzt. Er hat gedacht, ich läge schon in den schönsten Träumen. „Denkste! So schnell lass ich mich nicht kleinkriegen!“ Mein Pilgerkumpel hat schon gegessen und entschuldigt sich dafür. „Ist doch nicht schlimm. Hätte ich an Deiner Stelle auch gemacht“, beruhige ich ihn. Er bestellt eine Runde Bier und stellt mich den anderen vor mit den Worten: „Das ist meine Frau. Wir waren fast den ganzen Tag zusammen unterwegs.“ Er freut sich wirklich, dass ich doch noch gekommen bin. Da ich Heißhunger auf Nudeln habe, verzichte ich auf das angebotene Pilgermenü. Ich brauche lediglich die Vorspeise, nämlich die Makkaroni mit Tomatensoße und Käse. Die doppelte Portion, bitte schön!
Während ich mein Essen genieße, gesellen sich zu meiner Freude noch Gabi und Franz-Josef aus Aachen an unseren Tisch. Unglaublich, wie sehr ich mich über das Wiedersehen dieser beiden Menschen, die ich erst seit gestern kenne, freue. Sie sind aber auch wirklich die Liebenswürdigkeit in Person. Panik steigt bei ihnen auf, als sie Ruddi unterm Tisch vermuten und ihn dort nicht entdecken können. Entsetzt erkundigen sie sich danach, wo er denn sei. Ich zeige auf die Tasche, die zwischen mir und Hermann auf dem Boden steht. Franz-Josef schmeißt sich über meinen Schoß und nimmt sich die Tasche auf denselben. Er macht sie vorsichtig auf und dann bekommt der müde vierbeinige Wanderer für den Rest des Abends Streicheleinheiten ohne Ende. Lachend erzählen wir uns die Widrigkeiten des Tages und Franz-Josef fragt: „Hast Du das Gemälde von Ruddi im Schnee gesehen?“ Er hat also an uns gedacht, als er mitten im größten Dreck stand und eigentlich mit sich selbst mehr als genug zu tun hatte.
Wir bleiben alle zusammen bis das Restaurant schließt. Hermann zahlt meine Makkaroni und die Runde, die ich schmeißen wollte, mit und sagt: „Ich lade Dich morgen richtig zum Essen ein. Heute war das ja wohl nix.“ Er ist der Meinung: „Die paar Nudeln sind doch kein Menü und außerdem haben wir noch nicht einmal zusammen gegessen. Meine Einladung sieht anders aus.“
Jeder verschwindet in seiner Herberge und ich im Hotel. Ich gehe sofort schlafen. Heute darf Ruddi ausnahmsweise mal - in seine Decke gewickelt - im Bett schlafen. Das hat er sich redlich verdient. Er hat sich wirklich vorbildlich benommen. So kenne ich ihn, aber für ihn ist das doch alles neu und so anders als sein bisheriges Leben. Insgeheim genieße ich die Kuscheleinheiten noch mehr als er.
Heute ist es wie gestern: Man denkt kurz vor dem Erreichen des Tagesziels, es geht nicht mehr - ist fix und fertig mit sich und der Welt. Aber spätestens nach dem Duschen, ergreifen einen ein unglaubliches Glücksgefühl und der Stolz, es geschafft zu haben.