Samstag, 26. April 2008
Grañón (396 Einwohner), 724 m üdM, La Rioja
12. Etappe bis Belorado, 16,6 km
Am Ortsausgang drehe ich mich noch einmal um und verabschiede mich von diesem kleinen außergewöhnlichen Ort und seinen Menschen. „Ich werde Euch nie vergessen. Gracias por todo!“ Edit und ich haben beschlossen, alleine zu laufen. “Buen Camino. Hasta la vista.”
Die Etappe beginnt ziemlich spät auf sehr angenehmen Wegen. Mir fällt auf, dass hier bei Grañón die Einheimischen auf dem Pilgerweg in den Feldern spazieren gehen. Das habe ich bisher nicht gesehen. Sie sind durchweg sehr gut gelaunt und rufen den Pilgern ein fröhliches „Hola, buen Camino“ zu. Es geht einen Hügel hinauf, der die Regionen Rioja und Castilla-Leon trennt. Von hier aus genieße ich einen atemberaubenden Weitblick mit den Montes de Oca in der Feme. Diese gilt es morgen oder übermorgen zu bezwingen. Immerhin geht es auf über 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Mein Reiseführer verspricht eine oder zwei sehr harte Etappen. Ich darf also weiter gespannt sein.
In meine Gedanken hinein ruft meine Pilgerfreundin Edit ein freudiges „Hola“. Ich bin erstaunt und sehr erfreut sie so schnell wiederzusehen. Wir verweilen ein Viertelstündchen an diesem schönen Platz auf dem Hügel, ohne viel zu reden. Wir genießen einfach nur den gemeinsamen Moment in der Natur.
Mein Reiseführer ist ne Wucht. Ich habe ihn bisher noch bei keinem anderen Pilger gesehen. Alle schauen immer ganz neugierig in ihn hinein und sind - wie ich - sehr angetan von ihm. Er ist so anders als die, die üblicherweise in den Bars von den Pilgern studiert werden. Die Etappen sind sehr gut und anschaulich beschrieben. So weiß man ziemlich genau, was einen in den nächsten Stunden erwartet. Es wird erwähnt in welchem Ort was anzutreffen ist. Herbergen, Pensionen, Hotels, Cafés, Restaurants, Geschäfte, Apotheken und vieles mehr werden aufgeführt. Außerdem gewinnt man einen Eindruck über die Wegbeschaffenheit der einzelnen Abschnitte. Ebenso wird deutlich gemacht, ob es bergauf oder bergab geht. Dieser Reiseführer ist mein persönlicher Schatz - der ist immer „am Mann“.
Nach vier Kilometern führt der Jakobsweg schön an der Nationalstraße entlang. Das wird sich auch die nächsten zwölf Kilometer nicht großartig ändern. Hier muss ich natürlich meinen Hund an der Leine führen. Es fahren zwar nicht ständig Autos, aber wenn, dann sind sie viel zu schnell und meistens sehr groß. Ich muss an meinen Lieblings-Entertainer denken. Er beschreibt in seinem Buch sehr anschaulich, dass er manchmal Angst hatte. Das kann ich nur bestätigen! Ich gehe am linken Fahrbahnrand so weit wie nur möglich links. Ich empfinde dieses Laufen als sehr anstrengend und nervenaufreibend. Das ist eine neue Pilgererfahrung. Bis jetzt führte der Camino Francés fast ausschließlich durch Felder und Wälder. Befahrene Straßen wurden höchstens mal überquert oder für wenige 100 Meter betreten. Ich muss es nehmen wie es ist. Die Sonne brennt. Der Himmel ist stahlblau. Mir ist heiß und mein Hund versteht die Welt nicht mehr. Es gibt nur wenig Schatten. Ich mäßige also mein Tempo, damit wir unsere Energien gut über den Tag verteilen. Ich träume wiedermal von einem Café con leche. Die nächste Bar gehört mir - zumindest für ein Stündchen. Ich habe Sehnsucht nach einem Schwätzchen mit einem „Kollegen“. Auf dem Weg habe ich wie üblich weit und breit keinen anderen Pilger mehr entdecken können, seit ich Edit begegnet war. Die warten alle in der nächsten Bar auf mich, ne?!
Erst gegen 14 Uhr ist es endlich soweit. Ich schätze, dass ich bis jetzt um die zehn Kilometer gelaufen bin. Ich entdecke das kleine Café auf der anderen Seite der Nationalstraße als ich in der Nähe von Villamayor del Rio bin. Hoffentlich handelt es sich nicht um eine Fata Morgana. Das sieht so einladend und gemütlich aus - passt gar nicht ins Bild! Vor dem Lokal stehen Tische, Bänke und Stühle mit dicken Polstern unter gelben Sonnenschirmen. Es scheint sich um ein vornehmes Lokal zu handeln. Ich muss dahin, koste es was es wolle. Wir beide, Ruddi und ich brauchen dringend eine Pause, momentan geht nichts mehr. Mit letzter Kraft schleppe ich mich die wenigen Stufen zu dieser Terrasse hinauf. Die üblichen körperlichen Schmerzen der ersten Pilgertage habe ich heute nicht mehr. Selbst die Füße spielen relativ locker mit. Es ist anders als bisher. Ich fühle mich völlig ausgelaugt, erschöpft und überhitzt. Ich komme mir vor, als sei ich auf einem Wüstentrip gewesen und erreiche jetzt kurz vor dem Tod doch noch die lang ersehnte rettende Oase. Es würde mich nicht wundern, wenn Kamele des Wegs kämen.
Ich stelle meinen Rucksack in den Schatten und komme mir ohne diese zwölf Kilo leicht wie eine Feder vor. Ruddi legt sich sofort auf seine Decke, nachdem er Wasser getrunken hat. Ich setze mich auf einen der weichen Stühle mit hoher Rücken- und Armlehne und kann mein Glück kaum fassen. Ich beobachte, wie ständig Autos angefahren kommen, unten auf dem Parkplatz halten und die Fahrer in diesem Lokal verschwinden. Mit Tüten bepackt kommen sie wieder raus. Durch das große Fenster habe ich ein bisschen Einblick in die Räumlichkeiten. Ich erkenne, dass hier wohl hauptsächlich Wein, aber auch kleine Feinschmecker-Köstlichkeiten verkauft werden. Hier draußen bin ich der einzige Gast. Weit und breit kein Pilger in Sicht. Na, dann bin ich eben mal die erste, die anderen kommen sicher gleich. Egal wer da auch kommt: Ich will ein bisschen reden.
Nach einer Weile fragt ein fein gekleideter, freundlich lächelnder Mann nach meinen Wünschen. Ich bestelle einen Fruchtsaft und einen Café con leche. Als er mir die Getränke kurz darauf serviert, entdeckt er Ruddi und ist entzückt. Mit Händen und Füßen verständigen wir uns darüber, wie ein so kleiner Hund einen solchen Weg verarbeitet.
Ich komme dahinter, dass ich es mit dem Besitzer dieses schönen Ladens zu tun habe. Die Stimmung ist sehr locker und lustig. Auf eine angenehme Art und Weise flirtet er ein bisschen mit mir. Immer wieder beschäftigt er sich auch mit Ruddi, spricht ihm auf Spanisch gut zu und fragt ihn, ob er Hunger hat. Ruddi muss wohl mit „JA“ geantwortet haben. Mit meinem Einverständnis, ihm etwas zu fressen zu geben, verschwindet der fürsorgliche Mann in seinem Laden.
Einige Minuten später kommt er mit einem liebevoll bestückten, schneeweißen Porzellantellerchen wieder heraus. Fünf verschiedene Leckerchen vom feinsten Fleisch beziehungsweise Pastetchen werden ihm liebevoll gereicht. Da fehlt nur noch das Petersiliensträußchen, um die Lieferung als Vorspeise durchgehen zu lassen. Ich habe irgendetwas bei der Erziehung meines Hundes falsch gemacht. Ohne sich zu bedanken oder zu zögern verschlingt er alles gierig und zu allem Überfluss guckt er seinen Gönner auch noch so flehentlich an, dass diesem die Tränen der Rührung in die Augen schießen. Würde ich nicht ablehnen, Nachschub zu besorgen, hätte die Küche jetzt die Hauptspeise serviert. Ich mache dem netten Señor aber klar, dass es sich mit vollem Bauch nicht gut laufen lässt. Wir haben ja schließlich noch mindestens zehn Kilometer vor uns.
Die nächsten Kunden gehen ins Geschäft und ich sitze eine Weile alleine am Tisch. Ich halte wieder Ausschau nach anderen Pilgern. Aber dieses paradiesische Plätzchen fällt nicht sofort auf, wenn man nicht gerade auf der Suche nach einer Bar oder ähnlichem ist. Ich habe Sehnsucht nach Sabrina, Oliver und Achim. Sie wären begeistert von dieser Oase. Es kommt mir so vor, als hätte ich sie ewig nicht gesehen. Wüsste ich es nicht besser, könnte ich denken, ich hätte mich verlaufen.
Plötzlich und ziemlich rasant fährt ein Moped auf den Parkplatz vor der Terrasse. Der Fahrer bremst temperamentvoll ab, springt von seinem Roller und landet - fast ohne auf dem Boden aufzusetzen - in einem freien Stuhl an meinem Tisch. Er strahlt über das ganze Gesicht, freut sich unbändig mich zu sehen und hat viel zu erzählen. Ich kann ihn nur leider nicht verstehen. Ich muss laut lachen und zucke die Schultern. Er lacht mit, beschäftigt sich mit Ruddi, als kenne er ihn schon seit langem. Ich überlege, wie sich das hier so verhält. Wer ist denn der? Ich meine, ich freue mich ja über so nette Gesellschaft, aber ich habe den Mann noch nie gesehen. Zumindest nicht in diesem Leben! Der Barbesitzer klärt die Situation auf. Es ist sein Bruder, dem er eben am Telefon von mir erzählt hat und der lässt es sich nicht nehmen, mich auch kennenzulernen. Ich staune nicht schlecht: Was mag er denn über mich Spannendes berichtet haben, dass sein Bruder sich extra auf den Weg hierhin macht? Habe ich mich doch verlaufen und bin hier als Pilgerin ein Einzelstück und deshalb besonders sehenswert? Hm, kurios! Aber wir haben Spaß. Wir verstehen unsere Worte nicht, aber unsere Mimik und Gestik löst Lachsalven aus.
Nach einer guten Stunde bekomme ich auf Kosten des Hauses noch einen Café con leche serviert. Wenn ich ein bisschen vernünftig wäre, müsste ich jetzt meine sieben Sachen packen und weitergehen. Ich will doch immer noch nach Santiago, oder? So viel Spaß und Gastfreundschaft kann und will ich mir aber nicht entgehen lassen. Ich bleibe und zu meiner Freude erscheint auch noch der Vater der beiden lustigen Söhne. Jetzt sitzen wir zu viert am Tisch unter dem Sonnenschirm und amüsieren uns köstlich für eine weitere Stunde. Das ist die längste Pause, die ich bisher eingelegt habe.
Irgendwann am späten Nachmittag kann ich mich loseisen und mache mich wieder auf den Weg. Der Abschied verläuft so, als ob wir eine Familie wären. Ich fühle mich wie gedopt. Das war ein toller Nachmittag mit den spanischen Jungs. Wieder einmal habe ich mich auf unbekanntes Terrain begeben und mich der Situation schlichtweg hingegeben. Ich bereue keine Sekunde. Ich habe einfach vertraut und mich auf die Mentalität der Spanier eingelassen. Einem Menschen mit Ängsten vor Fremden wäre diese tolle Zeit entgangen. Danke, dass ich so bin, wie ich bin.
Es geht mir sehr gut, jetzt, wo ich alleine unterwegs bin. Während des Laufens finde ich meinen eigenen Rhythmus - muss mich niemandem anpassen oder Rücksicht nehmen. Das ist ein ganz anderes Gefühl für Körper, Geist und Seele. Und ich durfte die Erfahrung machen, dass ich, auch wenn in einer Bar keine anderen Pilger sind, eine Menge Spaß und Herzlichkeit erleben kann - selbst dann, wenn die Sprache fremd ist. Ich muss nur offen sein. Beschwingt setze ich meinen Weg entlang der Nationalstraße fort. Nichts stört mich mehr. Ich behalte meine gute Laune, egal was da (angefahren) kommen mag. Einen Kilometer vor Belorado kreuze ich die Nationalstraße und gehe weiter auf einem guten Landwirtschaftsweg. Ruddi darf endlich wieder von der Leine. Nach der langen Pause wieder fit läuft er munter vor mir her.