Mittwoch, 23. April 2008
Viana (3425 Einwohner), 475 m üdM, Navarra
9. Etappe bis Navarrete 22,6 km
Der Morgen danach: Mein Körper bestraft mich für die lange Etappe. So muss es sich anfühlen, wenn man in eine Schlägerei geraten ist. Meine Beine sind schwer wie Blei, alles tut höllisch weh. In der Nacht wurde ich schon vorgewarnt. Jede Bewegung hat mich geweckt.
Na gut - das ist Vergangenheit. Lebe den Moment! Wie komme ich am besten in die Senkrechte? Ich mache einen Plan: Erst mal den Oberkörper auf die Seite drehen und dann vorsichtig den Rest nachrücken lassen. Wenn das klappt, hebe ich mit Hilfe beider Arme die Schultern an und versuche, schön langsam die Beine aus dem Bett zu schieben. So steif wie ich bin, bewegt sich mein Oberkörper dadurch im gleichen Tempo automatisch aufwärts. Diese Aktion wird gestartet und läuft unter jämmerlichem Stöhnen in Zeitlupe ab. Nun überrede ich mich liebevoll und mit viel Geduld, die Bettkante zu verlassen. Der erste Schritt gleicht dem des legendären Frankenstein. Der ganze weitere Ablauf erinnert an ihn. Einmal in Bewegung gekommen, geht es von Minute zu Minute leichter - schmerzfreier. Ich bin stolz auf mich. Gleichzeitig drängt sich mir die Frage auf: „Warum tue ich mir das alles eigentlich an? Warum wollte ich nochmal den Jakobsweg gehen?“ Sekunden später habe ich die Antwort: „Um meine körperlichen und seelischen Grenzen kennenzulernen.“ Ach, so fühlt sich das an!
Ina höre ich im Badezimmer rumoren. Sie kommt, Nebelschwaden hinter sich herziehend, halb nackt aus der Dusche. „Guten Morgen, wie geht es Dir? Hast Du gut geschlafen? Guck mal, das sind meine Narben von den Operationen. Die sind gar nicht so schlimm, oder?“ eröffnet sie ein Gespräch. Das fühlt sich so kurz nach dem Aufwachen und den soeben bewältigten massiven eigenen Problemen an wie ein Überfall. Ich schnappe nach Luft, frage mich, ob ich wirklich auf alles antworten soll. Angesichts dieser sehr unterschiedlichen Fragen, bekommt sie meine Zustimmung zum Zustand ihrer OP-Narben. Ich fühle mich momentan überfordert - ja hilflos. „Sie hat also das Bedürfnis, über ihre Krankheit zu sprechen“, denke ich und höre ihr zu. Sie hat bereits seit ein paar Jahren Krebs, wurde mehrmals operiert und therapiert. Immer wieder wechseln sich krebsfreie Zeiten und erneute schlechte Diagnosen ab. Es ist schwer, mit diesem Krankheitsbild umzugehen und möglichst positiv weiterzuleben. Meiner Meinung nach entsteht Krebs durch lange gehegten Groll, tiefe Verletzungen oder Hass, den ein Mensch in sich trägt. Es können auch ein tiefes Geheimnis oder Trauer sein, die am Selbst nagen. Vielleicht empfindet man Sinnlosigkeit.
Gedanken wie „ich löse mich von allem Vergangenen und vergebe liebevoll“ sollten vorherrschen. Meine Pilgerfreundin erzählt jedoch sehr viel von ihrer insgesamt schlimmen Vergangenheit. Es ist harte Arbeit an sich selbst, damit klarzukommen. Liebevoll vergeben heißt nicht, dass man die Person oder die Situation lieben soll. Es bedeutet vielmehr, den Hass loszulassen, den Akt des Vergebens zu lieben. Es kann auch sein, dass jemand sich selbst vernachlässigt - sich selbst nicht so sehr liebt wie seinen Nächsten. Es ist aber ganz wichtig, dass man seine Welt und damit sich selbst mit Freude füllt, sich Gutes tut und wichtig nimmt - genauso wichtig wie die Menschen die man liebt. Jeder sollte sich selbst lieben lernen und nicht zu bescheiden sein. An der Liebe die uns von anderen entgegengebracht wird, erkennen wir wie stark unsere Liebe zu uns selbst ist. Es ist den anderen nicht möglich uns mehr zu lieben, als wir es selber tun.
Ich stelle mir manchmal vor, in mir wohne ein kleines, zwei oder drei Jahre altes Kind. Es trägt meinen Namen - ich bin dieses kleine Mädchen. Wenn ich es vernachlässige oder ihm Liebe vorenthalte, dann weint es und ruft nach mir: „Kümmere Dich bitte um mich. Umarme mich. Ich fühle mich so alleine! Ich habe Hunger und Durst. Ich will eine Überraschung (Kleid, Buch, Urlaub, gutes Essen usw.) haben.“ Dieses Kind guckt mich in meiner Vorstellung mit großen Augen erwartungsvoll an Es möchte verwöhnt werden und sich geliebt wissen. Durch diese Imagination fällt es mir leichter, für mich selbst gut zu sorgen. Dies umzusetzen bedarf einer gewissen Disziplin, Gedanken- und Gefühlskorrektur. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es funktioniert. Ich bleibe dran, erinnere mich wieder und wieder. Manchmal dauert es Wochen, bis ich bemerke, dass mein „inneres Kind“ nach mir ruft, fast verhungert - wie hartherzig, oder?
Ich bin davon überzeugt, dass jede Krankheit, egal wie schwer oder leicht, psychisch bedingt ist und folglich auch geistig geheilt werden kann. Jeder ist in der Lage, den Selbstheilungsprozess seines Körpers in Gang zu setzen, wenn er bereit ist, die Verantwortung für ALLES was ihn betrifft, zu übernehmen. Das ist die beste Medizin!
Ich kenne Ina zu wenig, um so direkt zu ihr zu sein. Sie setzt sich selbst herunter. Sie übt Bescheidenheit, obwohl sie es nicht müsste.
Ständig beschäftigt sie sich mit den Problemen ihrer Verwandten, Bekannten und ihrer Vergangenheit. So etwas macht ein Mensch immer aus dem gleichen Grund: So muss und kann er sich selbst nicht fühlen oder wahrnehmen.
Positives Denken und Fühlen kann dem Krebs entgegenwirken. Während meiner Zeit als Taxifahrerin habe ich mir die Krebskranken genau angesehen, ich möchte fast sagen „studiert“. Einige sind ohne Chemotherapien und Bestrahlungen gesund geworden. Es waren immer die, die sich selbst wichtig genommen haben und trotz ihrer Situation jeden Moment des Tages mit guten Gedanken, folglich auch einem guten Gefühl lebten. Diese Kranken - oder besser gesagt Gesunden - leben sorglos in den Tag, genießen das Hier und Jetzt. Sie beschäftigen sich mit der Gesundheit und dem Glück, nicht mit der Krankheit und dem Leid. Tiefe Gefühle werden wahr, egal ob sie positiv oder negativ sind. Es lohnt sich, einmal ernsthaft darüber nachzudenken. Bedauerlicherweise haben das die wenigsten von uns gelernt.
Ich gebe diese Erfahrungen vorsichtig an Ina weiter. Manche spreche ich aus, andere schicke ich ihr in Gedanken. Sie entscheidet selbst, ob sie sie wahrnehmen will und kann. Ich will mir nicht zu viel rausnehmen und sie ungewollt verletzen.
Wir verlassen die Pension so gegen neun Uhr. Ina möchte in die gegenüberliegende Bar zum Frühstück gehen. Ich bitte sie, zuerst einmal ein Stündchen zu laufen. Schweren Herzens willigt sie ein und geht mit mir. In einem Drogerie-Markt kaufen wir uns noch Wasser, Kamellen und für Ruddi eine Schale Nassfutter. Darüber wird er sich nachher bestimmt freuen. In den letzten Tagen hat er ausschließlich „Katzenfutter aus Lorca“ bekommen.
Ich habe es versäumt, meinen Wanderführer zu lesen. Gestern Abend war ich nicht mehr in der Lage dazu. Heute Morgen habe ich vergessen, mir die Etappe näher anzusehen. Wir laufen und laufen, aber weit und breit bietet sich keine Möglichkeit mehr, einzukehren. Ich glaube, meine „Mitläuferin“ ist sauer auf mich. Es wird immer heißer. Ihr Kreislauf ist im Keller und nach ungefähr drei Stunden machen wir an einer Ruine die erste Pause. Hier stehen Tische und Bänke aus Stein. Wir freuen uns, wie ein Kind über ein gefundenes Osterei. So gemütlich hat man es als Pilger selten in der freien Wildbahn.
Jetzt erst erzählt Ina mir, dass das Frühstück normalerweise ihre erste Amtshandlung des Tages ist, weil es ihr sonst sehr schlecht geht.
„Was?“ denke ich. „Und warum sagst Du mir das nicht früher?“ Das tut mir natürlich leid, aber da komme ich doch alleine nicht drauf. Ich bin da ganz anders. Zuhause esse ich oft erst am Nachmittag das erste.
Wir machen eine ausgedehnte Pause, in der ich mir die Zeit nehme, den Wanderführer anzusehen. Voller Entsetzen lese ich, dass es von Viana bis Logroño, folglich zur nächsten Bar, fast zehn Kilometer zu bewältigen gilt. Wir haben keine Chance, vorher einen leckeren Café con leche oder Essen zu bekommen. Auf diesem Streckenabschnitt gibt es keine Dörfchen, in denen wir es uns bequem machen und ausruhen könnten. Das muss ich meiner Begleiterin jetzt schonend beibringen. Ich stottere ein bisschen rum... und dann ist es raus. Sie reagiert sehr gelassen auf diese Nachricht: „Tja, das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Ich werde es überleben. Mach Dir keine Gedanken.“ Puh, da bin ich aber nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen.
Ruddi hat das 300-Gramm-Schälchen „Ente in Aspik oder so ähnlich“ komplett leer gemacht. Zuhause bekommt er täglich nur 100 Gramm Nassfutter. Ich wollte ihm ausnahmsweise mal die Freiheit lassen, soviel zu fressen wie er für richtig hält. Das war keine gute Idee von mir. Ich hätte wissen müssen, dass er solange reinhaut bis nichts mehr da ist. Wie der Herr, so's Gscherr! Mit vollem Bauch läuft es sich schlecht. In der nächsten Stunde fühlt er sich nicht besonders gut, schleppt sich so dahin. Wäre dieser Hund ein Mensch, hätte er sicher um einen „Verteiler“ gebeten. „Armer Schatz!“ Ich würde das nicht nochmal zulassen.
Heute ist es viel zu heiß. Es wäre klüger, es den Spaniern gleichzutun und während der Mittagssonne in einer Bar Siesta zu machen. Aus bekannten Gründen ist das nicht möglich und wir gehen sehr langsam Kilometer für Kilometer weiter Richtung Logroño. Heute fällt mir das Laufen wesentlich schwerer als in den letzten Tagen. Ich fühle mich wie ein altes Auto, das zu wenig Öl hat, dessen Kühlwasser kurz vor dem Siedepunkt ist und dessen Reifen fast platt sind. Der Druckschmerz unter den Füßen ist enorm - kaum auszuhalten. Ich glaube, ich mache nie wieder mehr als 25 Kilometer am Tag. Außerdem geht mir gleich der Sprit aus - ich muss „Super- con-leche“ tanken. Anstatt uns weinend in den Armen zu liegen, ziehen wir es jedoch vor, eine Rast am Wegesrand zu machen. Das erste Mal traue ich mich, die Schuhe auszuziehen. Unglaublich was für eine Hitze daraus kommt. Ich lege meine Beine auf den abgelegten Rucksack. Es ist die einzige Chance die Füße zu beruhigen. Das tut so gut! Hoffentlich kann ich sie überreden, nach der Pause wieder in den Schuhen zu verschwinden.
Einige Pilger kommen an uns vorbei. Wir halten kurze Schwätzchen mit ihnen. Gesprächsthema Nummer eins ist meistens Ruddi. Sie sind immer überrascht, dass ein kleiner Hund so weit laufen kann und will. Ich gebe zu, dass ich in den ersten Tagen so manches Mal gezweifelt habe. Das Schlimmste, das passieren kann, wäre der Abbruch dieser Reise. Ich glaube Ruddi weiß, wie dramatisch das für mich wäre. Nach den kleinen anfänglichen Schwierigkeiten, läuft er bereits seit zehn Tagen gut gelaunt den Camino. Selbstverständlich ist er abends „kaputt wie ein Hund“ und froh, dass er in seiner Tasche liegen kann, aber morgens marschiert er pfeifend los.
Sein Bauch hat sich wieder beruhigt und nun kümmert er sich um mich. Ich darf mit auf seiner Decke sitzen und er stützt mir den Rücken. Kleiner Hund, ganz groß! Nach einer Viertelstunde ziehe ich meine Schuhe wieder an. Es war eine sehr gute Idee, meinen Füßen auch mal Aussicht auf den Jakobsweg zu gewähren. Nun wissen sie wenigstens, was hier abgeht. Vielleicht machen sie mir jetzt nicht mehr so viel Druck. Die Temperaturen in meinen Wanderstiefeln sind wieder normal. Erfrischt geht es weiter.
Kurz vor Logroño holen wir uns einen Pilgerstempel bei einer mittlerweile sehr bekannten Señora, die vor ihrem Haus zwei Stände aufgebaut hat. Sie führt eine Tradition ihrer Mutter, Doña Felisa fort. Diese hat 30 Jahre lang, bis zu ihrem Tod im Jahre 2003 die Pilger gezählt und ihre Pässe gestempelt. Heute verkauft ihre Tochter nebenbei Pilgermuscheln und -stäbe, Andenken an den Camino und ein paar nützliche Dinge, wie zum Beispiel Sonnenhüte und -brillen. Man hat diese Spanierin auch schon im Fernsehen gesehen. In den meisten Reiseführern wird sie angekündigt. Hape Kerkeling verewigte sich seinerzeit in ihrem Gästebuch.
An diesem Ort herrscht reger Betrieb. Jeder Pilger bleibt eine kurze Weile und wechselt ein paar Worte mit ihr. Niemand geht einfach vorbei. Ich treffe ein Pärchen, das ich vor ein paar Tagen in einer Bar kennengelernt habe. Die beiden müssen sich heute voneinander verabschieden. Sie fährt nach Hause, weil sie wieder arbeiten gehen muss. Von Logroño aus geht es Richtung Heimat. Sie umarmt mich sehr innig und wünscht mir mit Tränen in den Augen einen „buen Camino“. Ich reiße mich am Riemen, um nicht mit zu weinen. Es übersteigt meine Vorstellungskraft, wie es wäre, diesen Pilgerweg hier, nach 165 Kilometern Gesamtstrecke, abzubrechen. Die beiden gehen eng umschlungen, so nah ihre Rucksäcke es zulassen, bis zur Stadtmitte vor uns. Es bricht mir fast das Herz, als sie Richtung Bahnhof abbiegen.
In der Altstadt betreten wir endlich die heiß ersehnte Bar. Hinter der Theke steht ein noch sehr junger Mann. Er lässt sich wirklich übermäßig viel Zeit, bis er sich bequemt, mich wahrzunehmen. Nach einigen Minuten darf ich dann endlich einen Café con leche und ein Croissant bestellen. Er kann sich gar nicht vorstellen, was diese beiden unscheinbaren Dinge gerade für mich bedeuten. Ich bin müde, durstig und hungrig. Vor allem kann ich nicht mehr stehen. Ich muss ständig meine Füße bewegen, damit sie nicht ganz so wehtun. Hier drinnen ist es sehr laut und außerdem darf Ruddi nicht rein. Also gehe ich mit der Tasse und dem Teller raus. Auf dem riesigen Platz gibt es einige Meter von diesem Lokal entfernt ein paar Tische mit Stühlen. Ich glaube, dass diese Terrassenmöbel zu einem anderen Lokal gehören, aber das soll mir jetzt egal sein. Ich muss sitzen, es geht nicht mehr! Ich schaue mich um und sehe, dass die anderen Bars alle geschlossen haben. Das wundert mich nicht, denn jetzt ist Siesta.
Einige Zeit später kommt Ina wütend aus „unserer“ Bar und knallt ihr Getränk auf den Tisch: „Am liebsten wäre ich weiter gegangen. Es ist eine Unverschämtheit, wie lange der mich hat stehen lassen.“ Ich versuche, sie zu beruhigen und bitte sie, es gut sein zu lassen. Ich will diese wohlverdiente Pause genießen und mich nicht ärgern. Sie kommt nur langsam wieder auf Normaldrehzahl. Zu allem Übel kommt mit sehr ernster Miene die Barbesitzerin raus und will uns temperamentvoll auf Spanisch klarmachen, dass wir hier nicht sitzen dürfen. Die Tische gehören zu einem anderen Lokal. Ich kann zwar verstehen was sie sagt, aber ich will - nein! Ich muss! - genau auf diesem Platz sitzen bleiben. Mein „inneres Kind jammert“.
Innerhalb von Sekunden ist in mir ein Schlachtplan entstanden, wie ich diesen kleinen Gartentisch mit seinen gemütlichen Stühlen verteidigen könnte. Ich bin zu allem bereit! Meine Augen flehen Ina an, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mit einiger Anstrengung wird ihr Gesichtsausdruck langsam freundlicher.
Ich tue so, als hätte „die nette Bedienung“ gefragt, ob der Kaffee und das Gebäck in Ordnung sind. Also lächle ich sie dankbar an. Ich sage, angestrengt nach spanischen Vokabeln suchend, sehr liebevoll und freudestrahlend: „Mi español esta muy pequeño (wörtlich übersetzt: Mein Spanisch ist sehr klein). Todo bien! Hm, qué rico (Alles prima! Hm, wie lecker)! El tiempo esta bueno y esta plaza es la mas bonita que hay. (Das Wetter ist schön und das hier ist der schönste Platz den es gibt). Nosotros son peregrinas y estamos muy cansados (Wir sind Pilgerinnen und sind sehr erschöpft). Gracias, dass wir hier sitzen dürfen, Señora. Muchas gracias.“ Sie kann uns - Gott sei Dank - nicht widerstehen. Vielleicht ist es ihr aber auch einfach zu anstrengend mit Händen und Füßen zu reden. Jedenfalls zieht sie sich zurück. Nun kann auch Ina wieder lachen und wir gehen erst nach einer knappen Stunde weiter.
Ich bin unendlich glücklich, als wir die Stadt verlassen. Jetzt müssen wir noch durch ein Industriegebiet laufen, aber auch das nimmt ein Ende. Wir haben bis zum heutigen Etappenziel Navarrete immerhin noch 13 Kilometer vor uns. Ungefähr auf halber Strecke, in einer Parkanlage, gibt es laut meinem Reiseführer ein Bar-Restaurant. Das ist unser Magnet, der uns weiterzieht.
Wir sind überglücklich, denn dieser Streckenabschnitt ist der bisher angenehmste auf dem Camino. Er verläuft flach über „gefegte Wege“ und führt uns durch schattige Parkanlagen. Habe ich schon erwähnt, dass die Spanier ein sehr liebenswertes und hilfsbereites Volk sind? Das beweist sich in diesem Moment wieder mal. In diesem Erholungsgebiet, namens „La Grajera“, sind viele Einheimische unterwegs. Einer von ihnen kommt uns mit einem wunderschönen Bambusstock entgegen und drückt Ina im Vorbeigehen diesen in die Hand. Er sagt, soweit ich es verstehen kann: „Du schaffst den Weg nicht ohne Pilgerstab. Hier, nimm den. Buen Camino!“ Staunend und mit offenem Mund schauen wir ihm hinterher. Er dreht sich nochmal winkend um. Auf dem Jakobsweg passieren wirklich die ungewöhnlichsten Sachen. Ina freut sich und ich bin froh, dass sie ab sofort beide Hände beschäftigt hat - sie trägt nämlich immer noch ständig irgendetwas in einer Hand. Oft ist es eine Jacke und wenn sie die anhat, dann muss eine Tüte ran.
Nach ein paar Kilometern stoßen wir nach einer Wegbiegung plötzlich und vollkommen unerwartet auf einen großen Stausee. Der blaue Himmel spiegelt sich auf dem Wasser. Eltern spielen mit ihren Kindern am Strand. Manche sind mit dem Boot raus gefahren. Rund um den See ist alles saftig grün. Es stehen viele große Bäume am Ufer. Weiter entfernt, sind ein paar Reiter unterwegs. Dieser Ausblick gibt mir unendliche Energie. Ich fühle mich wie gedopt! Mein Körper ist wieder beweglicher. Die Qual hat ein Ende. Ich sauge diesen Moment regelrecht auf. Jetzt fühle ich mich stark und frei - kann wieder positiv denken.
Gut gelaunt erreichen wir die angekündigte Bar. Das sehr große Lokal ist nur dünn besetzt. Am Wochenende „steppt hier der Bär“ - garantiert. Wir werden herzlich von den Wirtsleuten empfangen. Ruddi wird freudig auf Knien begrüßt und bewundert. Das macht mein Wohlbefinden vollkommen. Wir verbringen eine gute Stunde mit viel Spaß und netten Leuten. Ich darf während dieser Zeit mein Handy hier aufladen. Das ist für den Wirt eine Selbstverständlichkeit. Mir fällt auf, dass Ina sehr oft mit ihrem Handy beschäftigt ist. Sie erhält und schreibt hunderte SMS. Unterhaltungen mit ihr sind dadurch halbherzig und anstrengend. Ich finde das schade, kann und will das aber auch nicht ändern.
Ich denke allerdings immer öfter, dass es besser wäre, alleine zu gehen. Während des Laufens komme ich oft aus dem Rhythmus, weil wir zu unterschiedlichen Zeiten stehen bleiben müssen oder wollen. Mal will sie ein Foto machen, ein anderes Mal bin ich es, die aus diesem Grund stoppt. Ich verweile, um die Landschaft zu bewundern - Ina ist fasziniert von den unterschiedlichsten Pflanzen, die sie am Wegesrand findet. Jetzt habe ich Durst - wenig später will sie was trinken. Pausen machen wir nach Absprache, nicht immer spontan. Und es bleibt ein Problem, dass sie mir viel zu viel von ihren persönlichen Problemen aus der Vergangenheit erzählt. In diesen Zeiten spüre ich den Weg gar nicht mehr, bin zu sehr abgelenkt und schwermütig.
Es mag undankbar klingen, denn wir haben uns in den letzten beiden Tagen auch gegenseitig aufgebaut. Aber ich bin auf dem Camino, um zu mir zu kommen. Ich will rausfinden was wirklich wichtig für mich ist, wo ich hin gehöre, wer ich eigentlich bin. Vor allem will ich mich mit positiv denkenden Menschen umgeben, anstatt Probleme fremder Leute und zudem aus grauer Vorzeit zu wälzen. Ich werde mit Ina sprechen müssen, ohne sie zu verletzen. Bin gespannt, wie ich das hinbiegen kann.
Es ist weit nach 19 Uhr als wir uns an die letzten fünf Kilometer der heutigen Etappe machen. Der Weg ist jetzt zwar steil, aber zunächst asphaltiert. Navarrete liegt 120 Meter höher als Logroño, die wollen bewältigt werden. Aber ich habe ja jede Menge Energie getankt. Ina läuft wie immer super locker und momentan ein paar Schritte vor mir. Bewundernswert, wie sie die Hügel hinauf schwebt.
Sie sagt, das hängt mit der Atmung zusammen. „Wenn Du während eines Atemzuges sechs Schritte machst, kann der Berg dir nichts mehr anhaben. Ich versuche, das umzusetzen. Es gelingt mir nicht. Ich brauche öfter neue Luft und bin auch nicht bereit, mich auf meine Lunge zu konzentrieren, denn momentan lässt die Wegbeschaffenheit es zu, unkonzentriert und die Landschaft bewundernd zu gehen. Hier liegen keine Stolperfallen rum.
Nach einiger Zeit ist auch dieses unbeschwerte Laufen vorbei. Es geht weiter über geröllige Feldwege. So langsam wird es Zeit, dass wir unser Ziel erreichen, denn auch die beste Batterie braucht eine Pause, um sich neu aufzuladen. Wir legen vor dem Endspurt noch eine letzte kurze Rast am Wegesrand ein.
In diesem Moment klingelt mein Handy. Es ist Hermann. Seit zwei Tagen habe ich nichts von ihm gehört. Jetzt erzählt er mir ganz aufgeregt, dass er für uns beide eine Wohnung gemietet hat. „Willst Du mit mir da übernachten? Ich würde mich freuen, wenn wir uns wieder zusammen tun. Die Wohnung hat insgesamt fünf Zimmer und eins davon gehört uns. Die anderen sind nicht bewohnt. Also sind wir alleine in diesem Riesending. Wir haben sogar eine Badewanne und es gibt eine Waschmaschine die wir benutzen dürfen. Ich möchte heute Abend mit Dir zusammen essen gehen. Sag ja! Ich komme Dir auch entgegen. Ich bin schon seit zwei Uhr hier. Wie geht es Ruddi? Ist alles okay mit ihm?“ Mann, ist der begeistert, mich erreicht zu haben. Das tut mir unendlich gut. Die positiven Nachrichten freuen mich viel mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Ich habe diesem Menschen, den ich erst seit einer guten Woche kenne, soviel zu erzählen. Außerdem kann ich mit ihm einfach nur ein bisschen rumalbern - komme von den ernsten Themen weg. Die Aussicht auf ein festgemachtes Zimmer gibt mir ebenfalls Auftrieb. Ich muss mich also heute Abend ausschließlich um meine Wäsche kümmern. Alles andere ist geregelt. Super!
Glücklich erzähle ich Ina von dieser Überraschung: „Da hat mal wieder einer an mich gedacht. Es gibt jemanden, der meine Gesellschaft haben will, der sich auf mich freut. Komm, wir müssen weiter. Er will mir entgegen laufen.“ Ina antwortet etwas zu kurz: „Na, das freut mich für Dich!“