Gleicher Tag (insgesamt 46,4 km gelaufen)
Zubiri (402 Einwohner), 528 m üdM, Navarreser Pyrenäen
Pension, Doppelzimmer, 25 Euro pro Person ohne Frühstück
Mit letzter Kraft erreichen wir die Brücke aus dem 14. Jahrhundert, die uns in den Ort führt. Es ist unglaublich, aber da ist wieder das faszinierende Glücksgefühl, das einen überkommt, wenn die Etappe beendet ist. Nur die „Nachwehen“ sind heute stärker als an den ersten beiden Tagen.
Kaum im Ort angekommen frage ich einen Spanier nach einer nahe gelegenen Pension. Er deutet auf ein Klingelschild im Hauseingang hinter mir und drückt auch schon drauf. Im gegenüberliegenden Haus öffnet sich ein Fenster und eine Frau winkt uns zu. Sie gibt uns zu verstehen, dass sie sofort runter käme. Sekunden später begrüßt sie uns mit vielen unbekannten Worten und preist ihr letztes freies Zimmer an. Es ist ein sehr kleiner, schmaler Raum - nicht größer als etwa zehn Quadratmeter. Die Betten stehen direkt an der Wand hintereinander. Am linken Ende des Raums befindet sich ein großes Fenster. An der anderen Wand hängen die Heizung und ein Regal, auf dem ein Fernseher steht und die Handtücher liegen. Der Durchgang zwischen Regal und Betten ist höchstens einen Meter breit. Das Bad ist ebenfalls winzig, aber es ist sehr sauber und das Bett ruft meinen Namen.
Die Frau glaubt, dass Hermann und ich ein Paar sind und will nun wissen, ob wir das Zimmer haben wollen. Wir gucken uns an und er fragt mich knapp: „Hast Du ein Problem damit?“ „Nein!“ antworte ich. Wir geben ihr unsere Entscheidung bekannt. Sie strahlt über das ganze Gesicht und geht eine Wendeltreppe hinauf. Wir sollen ihr folgen, um die Formalitäten zu erledigen. Hermann hat immer noch Ruddi auf dem Rücken. Wir verständigen uns mit Blicken und Wortfetzen. Er geht nicht mit rauf, sondern in unser Zimmer und stellt Ruddi in der Tasche vor der warmen Heizung ab. Ich ziehe meine Matschschuhe aus und folge der Señora. Oben gibt es einen wunderschönen Aufenthaltsraum, der aussieht wie ein liebevoll eingerichtetes Wohnzimmer — urgemütlich. Die Frau redet und redet.
Ich verstehe mal wieder nur Bahnhof und Pilgerpass-Stempel. Bereitwillig gebe ich ihn ihr und stelle fest, dass sie eine gehörige Alkoholfahne hat. Deshalb redet die so viel!
Meine Gedanken sind bei Hermann, der unten damit beschäftigt ist, Ruddi ruhig zu halten. Es geht mir durch Mark und Bein, als ich ihn kurz aufheulen höre. Der findet das doof, dass ich so weit von ihm weg bin. Mein Pilger-Kollege ruft hoch: „Komm bitte runter! Ich muss dringend meinen Rucksack in der Herberge abholen. Die machen um 22 Uhr zu. Es ist gleich halb und ich weiß nicht, wo ich hin muss.“ Unsere muntere Vermieterin hält mich aber oben durch ihr Gequatsche fest. Sie möchte auch Hermanns Pilgerpass stempeln. Ich versuche, ihr zu erklären, dass mein Freund dringend weg muss. Sie versteht kein Wort und erzählt ganz aufgeregt eine spannende Geschichte. Er reicht mir nervös seinen Pass und flüstert mir zu, dass ich zu Ruddi müsse, er ginge jetzt seinen Rucksack holen und kommt in einer Stunde wieder. Ich höre, wie unten die Haustür ins Schloss fällt und mir wird ganz anders.
Was, wenn mein Hund jetzt bellt oder heult? Darf ich dann trotzdem bleiben? Wenn nicht, müsste ich die Spanierin fesseln und knebeln, denn ich bin nicht bereit, auch nur ein Haus weiterzugehen. Ich muss runter! „Señora, perdón. Yo muss dringend auf Toilette,“ benutze ich als Ausrede um aus dieser Nummer raus zu kommen. Um die Dringlichkeit zu unterstreichen und damit hier keine Missverständnisse aufkommen, halte ich meinen Bauch und kreuze mit leicht gebeugten Knien die Beine. Unfassbar, die ist nicht still zu kriegen und denkt nicht daran, mich zu entlassen. Also werde ich unhöflich und gehe mit einem nochmaligen „perdón“ die Treppe hinunter. Wieder höre ich ein leises Fiepen von meinem vierbeinigen Freund. Meine Nerven liegen wirklich blank. „Lieber Gott, wenn es Dich gibt, dann setz Dich zu Ruddi in die nasse Tasche!“ lautet mein Stoßgebet.
Die Señora folgt mir und drängelt sich - immer noch redend - an mir vorbei in unser Zimmer Richtung Heizung. „Wenn ich jetzt tief Luft hole, bin ich auch besoffen und dann wäre mir alles egal!“ denke ich verzweifelt. Sie berührt mit ihrem Fuß die Hundetasche, als sie prüft, ob das Gerät warm ist. Ich halte den Atem an und suche schon nach einer Erklärung dafür, dass diese kleine Tasche bellen kann. Aber es gibt ihn wirklich! Der liebe Gott sitzt mit Sicherheit darin und hat den Hund hypnotisiert. Der rührt sich nämlich nicht und so ist dieser Kelch an mir vorüber gegangen.
Kaum bin ich allein im Zimmer, befreie ich Ruddi und erzähle ihm, wie stolz er mich macht. Er drückt sich an mich und gibt mir zu verstehen, dass er weiß worum es hier geht. Ich nutze den Rest der von Hermann angekündigten Stunde der Abwesenheit für eine Dusche. Als er mit seinem Rucksack wiederkommt, bin ich dem Hungertod nahe. Ihm geht es ähnlich und nachdem auch er aus sich wieder einen Menschen gemacht hat, begeben wir uns auf die Suche nach einem Restaurant. Da es mittlerweile 22.30 Uhr ist, gibt es im ganzen Ort angeblich nur noch ein geöffnetes Speiselokal.
Auf dem von Hermann mitgebrachten Stadtplan sehen wir, dass dieses Haus ein bis zwei Kilometer weit weg ist - etwas außerhalb von Zubiri. Gott sei Dank regnet es momentan nicht und wir machen uns auf den Weg. Es ist windig und kalt heute Nacht. Unsere Jacken sind feucht. Ich habe Schwierigkeiten, meinen Körper zu koordinieren und komme nur langsam voran. Deshalb gebe ich Hermann den Tipp: „Lauf ruhig vor, nimm zu dieser späten Stunde nicht auch noch Rücksicht auf mich. Das hast Du schon den ganzen Tag getan. Ich brauche jetzt einen Moment länger.“ Er antwortet schmunzelnd: „Du Scherzkeks! Wenn ich könnte, würde ich das nur deshalb tun, damit das Restaurant uns nicht die Tür vor der Nase verschließt. Davon abgesehen, wäre ich alleine auch tagsüber nicht schneller vorangekommen. Ich bin genauso fertig wie Du. Oder willst Du mich auf den Arm nehmen?“ Als ich mir das bildlich vorstelle, wie ich mit dem Zwei-Meter-Mann auf dem Arm diese verlassene Landstraße entlang watschele, kann ich mich nicht mehr halten. Wir müssen beide laut lachen und steigern uns noch als wir, ohne es auszusprechen, gleichzeitig wahrnehmen was für ein Bild es abgeben muss, wie wir die schnurgerade breite Hauptstraße entlang kriechen. Der einzige, der graziös unterwegs ist, ist Ruddi.
Mit den letzten Reserven erreichen wir fast trockenen Fußes das Ende der langen Straße und sind am Ziel - da, wo es endlich was zu essen gibt. Das Lokal ist sehr groß und gerammelt voll. Hier herrscht eine ausgelassene Stimmung. Die meisten Gäste sind Einheimische. Wir können aber auch zu dieser späten Stunde noch ein paar Pilger entdecken. Die erkennt man übrigens am Gang! Wir bestellen unser Pilgermenü und reißen uns schwer zusammen, um nach der blitzschnellen Lieferung nicht unkontrolliert darüber herzufallen. Ruddi verzaubert uns mit seinem Hundeblick und bekommt den ein oder anderen wohlverdienten Leckerbissen gereicht. Wie heute Mittag in Espinal ist er auch hier willkommen.
Nachdem wir zwei, drei Bierchen getrunken haben merken wir wieder, wie müde wir eigentlich sind. „Jetzt nichts wie raus hier und ab in die Koje“, lautet das Kommando. Hermann zahlt die Rechnung, ich war ja eingeladen. Dann kommt der Moment, in dem ich mich beschwingt vom Stuhl erheben will. Erst mal geht das gar nicht und dann auch nur ganz langsam und sehr auffällig. Ich bewege mich, wie ein ungeölter Roboter. Die schmerzvollen Töne, die ich dabei von mir gebe, sind nicht zu überhören. Zu meiner Belustigung sehe ich, dass Hermann auch nicht gerade hocherhobenen Hauptes das Restaurant verlassen kann. Wir ernten bedauernde Blicke von den anderen Gästen. Ruddi ist topfit und immer einen Schritt voraus. Sein Blick zurück in unsere Richtung sagt so etwas wie: „Was denn? Kommt ihr jetzt oder nicht?“
Als wir draußen sind, trauen wir unseren Augen kaum. Es gießt, wie aus Eimern geschüttet. Wie sollen wir denn jetzt nach Hause kommen? Wenn die Klamotten noch nasser werden, haben wir morgen nichts anzuziehen. So groß ist die Auswahl nicht, wenn man aus dem Rucksack lebt. Mit finsteren Mienen gucken wir uns ratlos an.
In diesem Moment kommt ein Mann aus dem Restaurant. Er zögert einen Moment, bevor er den ersten Schritt durch die Wassermassen zu seinem Auto wagt. Ich fackel nicht lange und spreche ihn wild entschlossen mit Ruddi auf dem Arm an: „Perdón, señor. Fahren Sie en este dirección (in diese Richtung)?“ Ich zeige in Richtung Ortskern. „Würden Sie uns en el coche (im Auto) mitnehmen. Nosotros son peregrinos (wir sind Pilger). No podemos más (wir können nicht mehr).“ Ich erkläre ihm mit Händen und Füßen, wo unsere Pension ist und er lässt uns ohne viel Umschweife in sein Auto einsteigen. Ich glaube, dass dieser nette Señor uns eben beobachtet hat, als wir uns fast weinend vor Schmerzen durch das Lokal bewegt haben. Bevor Hermann checkt was hier los ist, bin ich diesmal die, die jemand anderen in ein fremdes Auto schubst. Ruddi sitzt hinten bei ihm auf dem Schoß. Auch dieser freundliche Spanier mag meinen Hund und ist erstaunt, dass der mit pilgert. Er ist nur für uns in die für ihn entgegengesetzte Richtung gefahren.
Wir verabschieden uns unendlich dankbar von unserem Wohltäter. Hermann will ihm für die Fahrt ein paar Euro geben. Der Fahrer wehrt entschieden ab und braust winkend los. Ich bin begeistert, wie unkompliziert und hilfsbereit die Spanier sind.
Kaum im Zimmer liegt jeder in seinem Bett und Ruddi auf seiner Decke, die auf der Heizung trocken geworden ist. Es dauert eine oder zwei Minuten, bis ich Hermann tief atmen höre. Er schläft bestimmt schon. Noch nie im Leben habe ich ein Bett so sehr zu schätzen gewusst. Der Körper ist nach fast zwölf Stunden Bergwandern endlich entlastet und in der Waagerechten. Ich weiß nur noch nicht so recht, wie ich mich hinlegen soll, ohne dass die Füße - ach, was sage ich - die Beine und überhaupt alle beweglichen Teile meines Körpers höllisch wehtun. Das Muskelschmerz-Gel kommt wieder zum Einsatz, und ich glaube fest daran: Es kann nur besser werden. Ich schlafe relativ schnell ein, werde aber bei jeder Bewegung wach, weil sie wehtut. Hermann geht es auch nicht viel besser, jedenfalls höre ich ihn ab und zu stöhnen - jedes Mal wenn er sich umdreht.
Ich weiß jetzt, dass eine 27-Kilometer-Etappe in den Bergen für jemanden wie mich die Hölle ist. Hoffentlich komme ich morgen ohne fremde Hilfe aus dem Bett.