Gleicher Tag

Honto/Untto (50 Einw.), 500 m üdM, französisches Baskenland

Herberge, 3-Bett-Zimmer, 31 Euro inkl. Abendessen und Frühstück

Also schlafe ich doch in Honto. Die Herbergsmutter muss ich erst wieder versöhnlich stimmen, denn ich hatte ihr ja heute Mittag eine Abfuhr erteilt. Sie hat aber tatsächlich noch ein Bett frei. Ein bisschen mürrisch zeigt sie mir ein ebenerdiges Drei-Bett-Zimmer mit einem riesengroßen Bad. Dieser Raum ist fast doppelt so groß, wie der in dem die Betten stehen. Kein Schimmel an den Wänden oder der Decke. Trockene, frisch bezogene Betten und eine großzügige Terrasse für alle - mit Möbeln! Welch ein Luxus. Ich singe der Frau ein ehrlich gemeintes Loblied auf ihre Herberge und... sie lächelt und macht mir klar, dass ich wahrscheinlich wegen Ruddi alleine in dem Zimmer bleiben werde. Nun ja, was soll ich dazu sagen: „Macht doch nix.“

Nachdem ich rausgefunden habe, dass auf dem Zettel von Lynn auf Französisch die Bitte geschrieben steht, mich Morgenfrüh möglichst wieder nach Orrison hochzufahren, gebe ich ihn an meine Vermieterin weiter und schau sie flehend an. Prompt bekomme ich zur Antwort, dass ihr Bruder das machen kann. Um wie viel Uhr ich denn weg wolle. Ich entscheide mich für acht und das scheint auch kein Problem zu sein. Ob ich denn auch um 20 Uhr Essen kommen wolle, sie kocht selbst und es ist in den 31 Euro, die ich bezahlen muss, inbegriffen. Natürlich mach ich da mit. Mir fällt in diesem Augenblick auf, wie lautstark mein Magen danach schreit.

Ist mir jetzt schon Gott begegnet? Oder wer hat das so gerichtet? Mary und Lynn, ich danke euch! Ich gehe mit der Herbergsmutter in ihr Haus, das sich auf der anderen Straßenseite befindet, um die Formalitäten zu erledigen und den Pilgerpass stempeln zu lassen. Sie mag Ruddi und erzählt, dass sie auch einen Hund hat. Auf meine Bitte hin, holt sie ihn vom Hof ins Haus. Bevor ich ihn begrüßen kann, pinkelt der erst mal ein Regal an, damit wir gleich wissen, dass das seins ist. Sein Frauchen ist entsetzt, schimpft, schmeißt ihn im hohen Bogen wieder raus und wischt natürlich erst mal feucht durch. Tut mir leid, dass das so gelaufen ist. Umstände wollte ich natürlich keine machen. Da sie jetzt sauer ist, ziehe ich es vor, mich zu verabschieden.

Glücklich und erleichtert gehe ich duschen, ziehe mir frische Kleidung an, wasche die getragenen Klamotten auf der Hand und hänge sie auf der Terrasse auf. Ein Ehepaar, ungefähr so alt wie ich, sitzt hier auf der Holzbank am Tisch. Er macht Notizen - sie hängt Wäsche auf. Sofort kommen wir ins Gespräch, nicht zuletzt durch Ruddi. Sie haben auch einen Hund. Wir Frauchen bzw. Herrchen haben uns immer was zu erzählen - erst recht auf dem Camino. Bei ihnen macht sich Sehnsucht breit. Ihr Hundekind ist zu alt für diesen Weg. Wenn ich mir vorstelle, ohne Ruddi unterwegs zu sein, macht es mich auch traurig. Ich weiß, dass er zuhause, egal wo ich ihn unterbringen würde, wahrscheinlich in den Hungerstreik treten oder an gebrochenem Herzen sterben würde. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir zwei alle eventuellen Schwierigkeiten meistern werden.

Die beiden Pilger heißen Franz-Josef und Gabi und kommen aus Aachen. Er will im Anschluss an den Camino einen Vortrag darüber halten, deswegen hält er alles penibel genau schriftlich fest. Sie werden auch alle möglichen Sehenswürdigkeiten besuchen. Beide haben ein sehr großes Mitteilungsbedürfnis und reden zum Teil gleichzeitig. Das macht das Zuhören ein bisschen anstrengend, aber ich glaube, sie haben das Herz am richtigen Fleck. Wir genießen den Ausblick und den beginnenden Sonnenuntergang bis wir dann endlich zum Essen gehen können.

Beim Betreten der „Bar“ - es könnte auch die Küche oder das Büro mit einer Theke sein - sehe ich einen sehr mürrischen Mann an einem Tisch, der mit Bürokram überladen ist, sitzen. Der grüßt noch nicht mal. Er ist ungefähr Mitte Fünfzig, untersetzt, hat so gut wie keine Haare auf dem bebrillten Kopf und guckt lustlos einfach nur in die Luft, ohne eine Miene zu verziehen. Welch dunkler Zeitgenosse! Gott sei Dank habe ich mit dem nichts weiter zu tun. Der scheint oft hier zu sein, wirkt ein bisschen wie eine Statue, die die Wirtin hingestellt hat und - wenn sie dran denkt - von Zeit zu Zeit abstaubt.

Der Hunger ist bei uns allen sehr groß. Durch das private Wohnzimmer gelangen wir in den Essbereich. Wir nehmen an einem langen Tisch, an dem so um die zwanzig Personen sitzen können, Platz. Es ist ein gemütlicher Raum, mit Ausblick in einen großen, liebevoll angelegten Garten. Hier sehe ich auch den Besitz ergreifenden Haus-und-Hof-Hund liegen. Viele Gedecke stehen bereit. Bevor ich zu Ende überlegen kann, warum für drei Personen so ein langer Tisch gedeckt wird, trudeln nach und nach immer mehr Gäste ein. Und wieder denke ich: Wo kommen die denn jetzt her? Ich dachte, wir drei wären heute die einzigen Gäste. Es handelt sich nicht bei allen um Pilger. Hier gibt es auch Pensionszimmer für Menschen, die in den Bergen einen ganz normalen Urlaub machen. Klar, warum nicht? In den letzten 20 Jahren habe ich mich mehr als 30 Mal in Thomasgschieß in der Oberpfalz in Bayern erholt. Täglich bin ich dort ein Stück über den Jakobsweg gelaufen, ohne zu wissen, dass es ihn überhaupt gibt. Es hat mich allerdings oft gewundert, warum an der tschechischen Grenze in Tillyschanz/Eslarn der Hinweis „Nürnberg 175 km, Santiago de Compostela 2600 km“ auf einer Tafel steht.

Der erste Gang des Abendessens besteht aus Möhrensalat mit viel braunem Essig und einer Pastete. Da lass ich mal die Finger von und bleibe beim trockenen, aber köstlichen Brot. Der zweite Gang sind Bratkartoffeln mit Fleisch. Ich zieh mich an den Bratkartoffeln hoch, ich brauch nicht mehr zu meinem Glück. Das Fleisch lass ich den anderen. Franz-Josef und Gabi haben mir gegenüber Platz genommen und sorgen liebevoll dafür, dass mein Teller nie leer, Ruddi satt wird und ja keine einzige Kartoffel zurück in die Küche geht.

Um uns herum sitzen die anderen Pilger und Urlauber. Kurz bevor wir den Nachtisch serviert bekommen betreten zwei zirka 60 Jahre alten Männer das Esszimmer. Einer von ihnen sieht aus, als wäre er auf ein wildes Tier gestoßen. Die Kleidung ist sehr verschmutzt und sein Gesicht hat Schürfwunden, besonders an der ziemlich prägnanten Nase. Der andere ist zwar auch dreckig, aber nicht verletzt. Ob die sich geprügelt haben? Wir erfahren, dass sie sich ganz böse verlaufen und aus den fünf Kilometern ungefähr zwanzig gemacht haben. Sie wurden in Saint Jean Pied de Port schon in die Irre geführt und sind in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Nachdem sie das feststellt hatten, gingen sie zwar in die richtige Richtung, aber den falschen Weg. Daraufhin nahmen sie Feld- und Wiesenwege und mussten auch des Öfteren über Zäune klettern. Dabei ist der eine der beiden dann gestürzt und hat sich eben verletzt. Ja, ja, aller Anfang ist schwer. Man muss sich erst daran gewöhnen, die in Frankreich noch rot-weißen Wegweiser, zu sehen und ihnen zu folgen.

Der Haus-und-Hof-Hund darf, nachdem die Sonne untergegangen ist, auch ins Haus und lässt Ruddi, den ich an meinem Stuhl angeleint habe, keine ruhige Minute mehr. Dauernd läuft er um ihn herum. Meiner fühlt sich zu recht belästigt und muckt auf. Der mit Heimvorteil gibt aber trotzdem keine Ruhe. Mann, das ist anstrengend und unruhig für alle. Die anderen Gäste sind auf Ruddi’s Seite. Er verteidigt lediglich seinen einzigen Quadratmeter, den er an diesem Abend hat. Irgendwann fällt es auch der Wirtin auf und sie holt ihren Hund in die Küche. Stört mich persönlich nicht, aber ob das die optimale Lösung ist, wage ich zu bezweifeln. Ein paar Gäste finden das unmöglich. Naja, ich hab da nichts mit zu tun, meiner sitzt neben meinem Stuhl und hat endlich Ruhe.

Den ganzen Abend gibt es Rotwein aus der Region bis zum Abwinken. Da langen wir alle mal so richtig hin und so ist der Abend sehr lustig und beschwingt. Franz-Josef und seine Frau hoffen, dass wir uns nicht so bald aus den Augen verlieren. Bevor die Pilger das Haus verlassen, zahlen sie ihre Rechnungen, damit sie am Morgen zu früher Stunde loslaufen können.

Zurück in meinem Zimmer. Ich muss an die bayerischen Mädels denken. Ich habe sie den ganzen Tag nicht mehr gesehen. Schneller als ich sind sie also nicht. Ruddi schläft am Fußende des Bettes, nach meiner liebevollen Massage und zehn minütigen Reiki-Sitzung, völlig entspannt, auf seiner Decke. Kaum liege ich, wohl bemerkt im trockenen, frisch und komplett bezogenen Bett inklusive Zudecke, bin ich auch schon eingeschlafen. Der Schlafsack hat heute frei.

5 1/2 Wochen
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