Gleicher Tag (insgesamt 614,6 km gelaufen)

Ambasmestas (68 Einwohner), 605 m ÜdM, Provinz León

Pension, Doppelzimmer, 25 € ohne Frühstück

Es ist schon später Nachmittag. Bis Ó Cebreiro liegen noch 14 Kilometer vor mir. In dem kleinen Dorf Ambasmestas fällt mir ein Schild vor einer schmucken gepflegten Pension auf: A la venta (zu verkaufen). Normale Reaktion wäre, die nächste Bar aufzusuchen, um eine kleine Pause zu machen. Aber irgendwas zieht mich genau in dieses Haus. Ich betrete einen sehr gepflegten Schankraum. Rechts befindet sich eine lange wunderschöne Theke und links stehen, locker und leicht an der Wand entlang angeordnet, einige kleine, runde Tische mit gepolsterten Stühlen. Ich fühle mich sofort sehr wohl und bestelle mir bei dem herzlichen Wirt meinen Kaffee.

An der Bar sitzt ein einziger Gast. Es ist ein bäuerlich wirkender älterer Señor, der mich sofort in Beschlag nimmt. Er redet freundlich, aber ohne Pause auf mich ein und ich verstehe kein Wort. Er scheint mir lustige Dinge zu erzählen, seine Augen leuchten und er hat sichtlichen Spaß an dieser „Unterhaltung“. „Mi español es muy pequeño, no comprende, lo siento (mein Spanisch ist sehr klein, nix verstehen, tut mir leid)!“ sage ich immer wieder zu ihm. Er lässt sich aber nicht beirren und erzählt und erzählt... Oh, hoppla, jetzt habe ich ein Bruchstück verstanden und lasse es ihn auch wissen. Er findet das grandios und bestellt uns beiden einen Schnaps. Ich will diese Einladung ablehnen. Ich muss noch den Berg hoch. „Yo Ó Cebreiro, todavía, no, gracias (ich Ó Cebreiro, heute noch, nein, danke).“ Er klopft mir beschwichtigend auf die Schulter und macht mir mit Hilfe des Wirts klar, dass ein Schnäpschen nicht schaden kann. Es wäre sogar noch besser sechs oder sieben zu trinken, damit ich mich heute gar nicht mehr auf den anstrengenden Weg in die Berge machen kann. Das sei viel zu gefährlich und auch schon deutlich zu spät.

Er hat so etwas Liebenswertes an sich, dass ich nicht mehr länger nein sagen kann und wir kippen uns tatsächlich einen hinter die Binde. Damit das hier nicht ausartet, setze ich mich an einen Tisch und fange mit meinen Ritualen an: Ruddi-Decke schön drapieren, Wassernapf hinstellen, Reiseführer raus, Café con leche trinken und lesen - ganz konzentriert lesen. Dann hab ich mit Sicherheit meine Ruhe. Denkste! Er setzt sich ungefragt zu mir und erzählt und erzählt. Er spricht sehr undeutlich. Ich glaube, er lallt ein bisschen und nervt mich so langsam. „Ich brauche ein wenig Ruhe, lass mich doch einfach!“ versuche ich ihm zu suggerieren. Keine Chance! Ich versuche es mit Ignoranz. Fehlanzeige! Er schafft es, meine Aufmerksamkeit quasi zu erzwingen. Ich gebe mich geschlagen. Sehr wahrscheinlich ist es wichtig für mich, ihm zuzuhören. Wer weiß, welche Informationen sich speziell für mich hinter diesem Redeschwall verbergen. Ich will doch immer offen sein, für alles was mir begegnet. Und das hier ist wahrscheinlich sehr wichtig! Warum, wird sich irgendwann zeigen.

So lasse ich mich also auf den alten Señor ein und erfahre, dass er José heißt, 68 Jahre alt ist und seine Frau vor nicht allzu langer Zeit starb. Er hat sie sehr geliebt und vermisst sie immer noch. Je mehr er erzählt, desto besser kann ich ihn verstehen. Oder liegt es einfach daran, dass ich mich nicht mehr dagegen wehre?

Der nächste Schnaps wird mir in die Hand gedrückt. Mit einem entschlossenen Kopfwinken weigere ich mich. José kontert mit einem verschmitzten Lächeln und hebt fordernd sein Gläschen. Naja, wenn ich ehrlich bin, hat der vorhin ganz gut getan... Ach, was soll‘s? „Salud“ und runter damit. Nun macht José ein wenig gut gemeinten Druck und will mich überreden, hier zu übernachten. Ich versuche ihm klar zu machen, dass ich in sieben Tagen in Santiago sein will und die Zeit immer knapper wird. Er bleibt dran: Es sei doch so schön hier. Die Berge, das Dorf, das Hotel. Der Camino halte immer eine Überraschung parat und die soll man sich nicht entgehen lassen. Ja, da hat er natürlich Recht! „Nimm es, wie es kommt“ sagte vor einiger Zeit schon der holländische Herbergsvater zu mir. Ich höre aber auch den Berg rufen. Außerdem weiß ich nicht, wo das hier noch enden soll. Da kommt schon der nächste Schnaps. „Nein, ich muss weiter! Dringend! Lo siento!“

Bevor ich mich auf den Weg mache, gehe ich noch schnell zur Toilette. Ich bin völlig überrascht, wie vornehm selbst das „stille Örtchen“ ist. Hier wird mit absoluter Gewissheit täglich klinisch rein geputzt. Es duftet ganz frisch in diesem großzügigen Raum. Es ist hell, freundlich, ganz modern und liebevoll dekoriert. Ja, ich spreche vom Toilettenraum. Mann, bin ich begeistert!

Mit frisch gewaschenen Händen nehme ich entschlossen den dritten Schnaps vom Tisch und proste dem redseligen José lachend zu. „Ich bleibe!“ „Für immer?“ „Nein, für eine Nacht.“ Mein Gegenüber ist völlig begeistert und fährt mit seinen Ausführungen fort. Dieses Hotel war früher sein Bauernhof. Als seine Frau starb, verkaufte er an den jetzigen Besitzer. Es ist ganz schlimm für ihn, dass sein Freund (oder Verwandter?) zu wenige Gäste hat. Er kann das Haus nicht länger unterhalten, obwohl es auch für ihn ganz schlimm ist, aufzugeben. Der Eigentümer steht in unserer Nähe hinter der Theke, hilft mir, den Señor zu verstehen und hat Tränen in den Augen, als das Thema aufkommt. Mittlerweile ist auch der Sohn des Hauses dazugekommen und schließt sich der Unterhaltung an. Das sind drei ganz außergewöhnliche und sehr liebenswerte Menschen, mit denen ich gerade zu tun habe.

Ich vergewissere mich, dass der Hotelbetrieb noch läuft. Der Wirt ist überaus glücklich darüber, dass ich bleiben will und Ruddi ist ebenso herzlich willkommen wie ich. Mein Verehrer ist damit einverstanden, dass ich zunächst meine Sachen aufs Zimmer bringe, erwartet mich aber noch einmal zurück. Er will mir noch was zeigen.

Na, da darf ich ja gespannt sein. Wo will der denn mit mir hin? Weit geh ich nicht! Dass das mal klar ist!

Auf dem Weg zu meinem Zimmer, begegnen uns zwei adrette und ihrem Beruf entsprechend gekleidete Zimmermädchen. Ich staune nicht schlecht. Zimmerpersonal sehe ich zum ersten Mal auf dem Jakobsweg. Ich bin der einzige Gast in diesem Haus. Über dicke Teppiche erreichen wir mein Zuhause für eine Nacht. Ein Traum wird wahr. Der Raum ist sehr großzügig, hat eine Flügeltür, die auf eine riesengroße Terrasse mit Aussicht auf die Berge führt, in denen ich eigentlich jetzt unterwegs sein wollte. Tja, den Horizont bekommen wir wohl erst morgen wieder zu sehen! Das Bad hat sogar eine Wanne, mit einer klarsichtigen Duschwand. Vielleicht stürze ich mich ja nachher noch in die Fluten? Alles ist perfekt und großzügig. Prima, dass ich immer offen bin und das erleben darf. Danke!

Wie versprochen kehre ich tatsächlich sofort zu meinem Verehrer zurück. Bin neugierig, was er mir zeigen will. Auf unserem Tisch stehen wieder zwei Kurze, die wir ohne weiter zu zögern ruck zuck runterkippen. Dann steht der alte Señor auf, nimmt meine Hand und zieht mich Richtung Ausgang. Hilfesuchend blicke ich zum Wirt. Der lächelt milde und nickt mir beschwichtigend und beruhigend zu. „Okay, dann komm ich mal mit. Aber Vorsicht, ich habe meinen Wachhund dabei!“

Er führt mich um das erstaunlich große Gebäude herum und setzt sich mit mir auf einen riesengroßen Felsblock. Es hat aufgehört zu regnen. Etwas weiter unten plätschert ein Bach. Die Vögel zwitschern ihr Abendlied. Vor uns liegen die Berge. Das ist ein wunderschöner Platz. Es kommt mir so vor, als säße ich seit Jahren bei Sonnenuntergang auf diesem Fels.

Viel leiser als eben und mit Tränen in den Augen, erinnert sich der Mann an meiner Seite an die Zeit, als seine Frau noch lebte. Jeden Abend haben sie hier zusammen gesessen und den Tag ausklingen lassen. Sehnsüchtig blickt er in die Berge. Nach einer kurzen Pause, berichtet er, dass vor Jahrhunderten genau an dieser Stelle die Pilger ihr Lager aufbauten. Guck an, deswegen habe ich wohl so ein vertrautes Gefühl. So ein Platz verliert nie seine energetischen Schwingungen. Das wird mir von Tag zu Tag klarer.

Dieser alte Spanier ist ehrlich glücklich darüber, dass er mir das alles zeigen und erzählen darf. Schmunzelnd und mit einem Zwinkern, hält er um meine Hand an. Wenn ich wollte, könnte ich wohl übermorgen heiraten. Na, was sagen Sie jetzt?! Nix mehr, ne? So geht es mir auch und ich ziehe mich aus der Affäre, indem ich ihn unterhake und wieder zurück ins Lokal ziehe. Ein Schnaps muss noch sein, bevor ich mich tief berührt verabschiede und auf mein Zimmer gehe.

Ich fühle mich hier so gut aufgehoben, wie schon lange nicht mehr. Molinaseca war „bezaubernd“, aber was in den letzten zwei Stunden passiert ist, war eine Herzensangelegenheit - und zwar auf allen Seiten. Es macht mich ehrlich traurig, dass dieses Hotel, der einstige Bauernhof des Señors nun verkauft werden muss, obwohl in allen Ecken zu spüren ist, wie sehr die Besitzer daran hängen.

Gegen 21 Uhr nehme ich Platz im Comedor. Der Wirt hat sich um niemanden sonst, als nur um mich zu kümmern. Und das tut er mit Leidenschaft. Er bekocht und bedient mich persönlich. Sein Sohn, steht hinter der Theke. Das Drei-Gänge-Pilger-Menü ist ein Traum. Ich genieße jeden Bissen. So lasse ich den Abend tatsächlich in willkommener Einsamkeit und angenehmer Ruhe ausklingen, während ich die letzten Stunden noch einmal Revue passieren lasse.

Im Bett will sich mir doch tatsächlich das schlechte Gewissen aufdrängen, weil ich heute nur halb so weit gelaufen bin, wie es geplant war. Ich lasse mich nicht darauf ein. Irgendwie hole ich die fehlenden 13 Kilometer schon wieder auf. Ich hätte es wahrscheinlich nicht geschafft, am Abend 600 Höhenmeter zu überwinden. Und was wäre mir entgangen, wenn ich an dem Schild vor der Tür „zu verkaufen“ achtlos vorbeigelaufen wäre. Ich kuschel mich in meine Decke - bin unendlich zufrieden und glücklich. Ruddi auch!

5 1/2 Wochen
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