Montag, 28. April 2008
Villafranca Montes de Oca (191 Einwohner), 948 m üdM, Burgos
14. Etappe bis Atapuerca, 18,6 km
Von dem donnernden Lärm der vorbeifahrenden LKW unter meinem offenen Fenster werde ich so gegen halb acht geweckt. Mein erster Gedanke gilt der heutigen Etappenlänge. Ich sollte mich langsam wieder steigern! Wenn ich so weiter mache, fehlt mir am Ende der Zeit ein Stück Weg bis Santiago de Compostela. Das ist inakzeptabel für mich. „Komme was da wolle, ich schaffe das!“ Mein Reiseführer verspricht für heute gleich nach dem Start, die anstrengende Durchquerung der Montes de Oca. Der Aufstieg beginnt im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor der Haustür. Ich muss mir noch eine Flasche Wasser und etwas zu essen besorgen, bevor ich mich auf den Weg mache. Während der nächsten zwölf Kilometer gibt es keine Versorgungsmöglichkeit.
Mit dem Rucksack auf dem Rücken, den Stöcken in der einen und Ruddi an der Leine in der anderen Hand steige ich die Treppen hinab. Auf dem alten Sekretär in der Diele im Erdgeschoss steht ein Pilgerstempel bereit. Die junge Señora von gestern Abend ist nicht zu sehen oder zu hören, also stemple ich meinen Pilgerpass selbst ab. Ich werfe noch einen Blick in die offene Küchentür, in der Hoffnung, dass es ein Frühstücksbuffet mit netten Weggefährten davor gibt. Ein Pläuschchen bei einem Café con leche wäre toll. Aber wahrscheinlich bin ich wieder mal die Letzte, die sich auf den Weg macht. Jedenfalls ist keiner da - genauso wenig duftet es nach Kaffee und ein Buffet ist auch nicht in Sicht.
Ich begebe mich dorthin, wo ich gestern Abend aufgehört habe. Großartig, die Bar hat gerade geöffnet! Außer mir befindet sich kein Gast in diesem Lokal. In Ruhe studiere ich den Wanderführer und stärke mich für die anstehende Etappe durch die Berge. So gegen halb neun mache ich mich letztendlich fröhlich auf den Weg. In der kleinen Tienda von gestern Abend kaufe ich mir eine Flasche Wasser und eine kleine Tüte Kartoffelchips für unterwegs. Der Verkäufer erkennt mich wieder und lächelt mich freundlich an. Wenn der wüsste, in welcher Aufregung ich gestern war... Er wünscht mir einen „buen camino“.
Ich bin begeistert von mir und dem Weg. Die Steigungen gehen mir immer leichter von den Füßen. Ruddi darf ohne Leine laufen. Die Nationalstraße ist weit genug weg. Bis der höchste Punkt des Alto de la Pedraja erreicht ist, sind es schätzungsweise vier oder fünf Kilometer.
An der Fuente de Mojapán treffe ich nach einer guten Stunde Laufzeit den ersten Pilger an diesem Tag. Es ist ein Mann so um die 60. Mir fällt auf, dass er nur einen winzigen Rucksack auf dem Rücken trägt. Nachdem wir uns ein bisschen darüber unterhalten haben, wer wir sind und wo wir herkommen, setzen wir gemeinsam den Aufstieg fort. Nach einer Weile spreche ich ihn auf sein spärliches Gepäck an. Er erzählt mir, dass seine Frau mit dem Wohnmobil die Etappen abfährt. Sie mag nicht laufen, wollte ihren Mann aber auch nicht so lange alleine lassen. Die beiden haben eine ganz außergewöhnliche Methode des Pilgerns entwickelt. Sie fährt immer vor zum Etappenziel, das sie sich beim, von ihr liebevoll hergerichteten Frühstück, ausgesucht haben. Dann kundschaftet sie einen schönen Platz aus, an dem sie über Nacht mit dem Wohnmobil stehen dürfen, geht einkaufen und kocht höchstpersönlich ein leckeres Pilgermenü für ihren Mann. Natürlich kümmert sie sich auch um die Wäsche. Beneidenswert! Die oberste Pflicht eines „normalen“ Pilgers liegt darin, nach Erreichen der Unterkunft zu allererst die getragene Wäsche - meist auf der Hand - zu waschen und zum Trocknen hinzuhängen, damit sie am nächsten Morgen wieder in ihren Beutel einziehen kann. Dieser nette Mann genießt den Luxus, tatsächlich einfach nur zu laufen und sich nachts in seinem eigenen Bett erholen zu dürfen. Um alles andere kümmert sich seine liebende fürsorgliche Ehefrau. Toll!
Für mich allerdings ist alles perfekt, so wie es gerade ist. Der Jakobsweg darf durchaus ein paar Ecken und Kanten haben. Gerade die Widrigkeiten auf diesem Weg schenken mir das überwältigende Gefühl, das sich einstellt, wenn alles glatt läuft. Das gehört meiner Meinung nach unbedingt dazu. Ich habe schon mit einigen Pilgern gesprochen, die sich nicht vorstellen können, in einer Pension oder einem Hotel zu übernachten, so wie ich es mache. Für sie gehört die Erfahrung in den Herbergen zwingend dazu. Das zeigt mal wieder deutlich, dass jeder „seinen ureigenen Camino“ geht, und die Möglichkeiten sind grenzenlos.
Meine neue Pilger-Bekanntschaft ist sehr sympathisch und so laufen wir bestimmt zwei Stunden gemeinsam. Danach genießt wieder jeder sein ihm eigenes Tempo. Er ist natürlich mit dem leichten Gepäck deutlich schneller unterwegs als ich.
Das Wetter ist ideal: bewölkt, trocken, kaum Wind, angenehme Temperatur. Ruddi und ich bezwingen souverän die Montes de Oca. Im Wald kommen wir auf ein Teilstück des Jakobswegs, das aussieht, als wäre hier eine Autobahn geplant. Dieser Weg ist planiert und unglaublich breit, eben wie eine 4-spurige Autobahn und es geht
immer schnurgeradeaus mit ganz leichten Hügeln. Zunächst finde ich das toll, aber nach einer Weile werde ich das Gefühl nicht los, das in diesem Gebiet einmal etwas Schlimmes passiert ist. Von alleine entsteht mitten in der Natur so eine breite und endlos lange Schneise nicht. Bei genauerem Hinsehen gibt es Anzeichen dafür, dass es hier einen Waldbrand gegeben haben könnte. Ich fühle mich schlecht und wünsche mir das Ende dieses Szenarios herbei. Ich muss mich aber noch eine ganze Weile gedulden bis der Spuk vorbei ist.
Endlich liegt ein wunderschöner, sich sanft schlängelnder Pfad durch einen dichten Wald vor mir. Ein paar Mal treffe ich auf Holzfäller, die damit beschäftigt sind, die vorbereiteten Baumstämme auf ihre Traktoren-Anhänger zu laden. Sie winken mir gut gelaunt zu. Ich liebe und genieße es jedes Mal, glückliche, zufriedene Menschen zu sehen. Das haben die Spanier echt gut drauf. Egal ob sie bei der Arbeit sind oder gemütlich vor ihrer Haustür sitzen, sie strahlen zu 99 Prozent sorgenfreie Gelassenheit aus. Hier auf dem Camino Francés verstehen sie es, das Leben zu nehmen wie es kommt. Egal, wie groß der Stress zum Beispiel in einer Bar, Pension oder Herberge, wie schwer die Feld- und Waldarbeit auch sein mag, sie lassen sich niemals aus der Ruhe bringen oder die gute Laune vermiesen. Die gleiche Lebenslust legen die meisten Pilger an den Tag. Gedanken sind Energie. Wer steckt hier wohl wen an? Die Pilger die ansässigen Spanier oder umgekehrt? Egal, es zeigt mir eindeutig, dass es funktioniert. Die vorherrschende positive Energie lässt jeden, der es nur will, ruck zuck aus einer miesen Stimmung - die durchaus auch mal erlaubt ist - wieder aussteigen.
Das ist der richtige Moment, eine Pause auf der Ruddi-Decke zu machen und neue Energie zu tanken. Einige mir unbekannte Pilger kommen an uns vorbei und beklagen sich über die letzten drei Wald-Autobahn-Kilometer. Aber was nützt all das Klagen, es ist vorbei und jetzt gilt es, den Wald zu genießen. Ab hier werden wir tausendfach für das Erlebte entschädigt. So idyllisch und erholsam kann es bis Santiago weitergehen.
In San Juan de Ortega gibt es eine Bar. Nach zwölf Kilometern eine Oase, und somit ist das Lokal gnadenlos überfüllt. Drinnen und draußen sitzen zig Pilger. Ich finde tatsächlich im Schankraum noch einen kleinen freien Tisch und gebe mich zufrieden bei einem Wohlverdienten Café con leche den Gegebenheiten hin. Nach einigem beobachten und Hinhören stellt sich heraus, dass ich mich direkt neben einer Herberge befinde, die wohl vollkommen überfüllt sein muss. Einige Pilger schimpfen lautstark darüber, dass sie weiterziehen müssen. Aus diesem Chaos heraus, entsteht die Idee einiger Spanier die nörgelnden Läufer mit ihren Autos zur nächsten Herberge zu fahren. Ein Pilger nach dem anderen verschwindet auf diese Art und Weise. Viele Rucksäcke fliegen in Kofferräume, Autotüren knallen ins Schloss und mit aufheulenden Motoren brausen sie davon. Was soll ich dazu sagen? So geht es natürlich auch! Ich verstehe die Aufregung nicht, denn es ist erst früher Nachmittag und der nächste Ort nur knappe vier Kilometer entfernt. Na ja, jedem das Seine. Und wer weiß: Vielleicht gibt es ja einen netten Bruder, der sie morgenfrüh wieder an genau diese Stelle fährt! In der Bar herrscht nun jedenfalls eine wesentlich entspanntere Atmosphäre als vor wenigen Minuten.
Für heute liegen noch knappe sieben Kilometer vor mir und ich schnüre mein Bündel. Der Camino führt mich weiterhin durch den zauberhaften Wald. Die Sonne scheint, aber mein Hund und ich genießen den Schatten der Bäume. Ruddi läuft fröhlich pfeifend mal vor, mal hinter mir und findet den Tag genauso toll wie ich. Da sich hier kaum Stolperfallen befinden, erlaube ich mir endlich mal, unkonzentriert und in Gedanken versunken, zu gehen. So muss sich ein Automotor fühlen, wenn er im Leerlauf langsam einen Berg hinunterrollt. Herrlich! Wie gut das unbekümmerte Gehen tut! Ich fühle mich wie in Trance.
Plötzlich ein Riesenschreck! Etwas hat meine Wade berührt. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Wer oder was wagt es mitten im Wald, einfach und ohne Vorwarnung so nah an mich heranzukommen? Ich bin mir sicher, dass das hinter mir kein Mensch ist. Gibt es hier Wildschweine oder gar Bären? Oh Gott, steh mir bei! Bevor ich mich umdrehe, um zu reagieren, gehe ich noch einige Schritte betont „lässig“ und im gleichen Tempo weiter, um mich zu sammeln und eine Taktik zu entwickeln, wie ich mich dem „Feind“ stellen kann. Meine Knie sind butterweich. Kurz bevor ich in die befürchtete Ohnmacht falle, läuft ein Hund an mir vorbei und direkt dahinter - mit der Nase an dem Hintern des Neuen - mein eigener.
Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich bleibe erst einmal stehen, um mich zu entspannen und zu beruhigen. Seit wann begleitet der uns denn schon? Das ist ja ein Ding! Der könnte sich mir zumindest mal kurz vorstellen. Was sind denn das für Manieren? Die beiden Vierbeiner verstehen sich auf jeden Fall super. Na gut, dann will ich Ruddi’s aussagekräftigem Blick „was denn? Nun komm schon, oder willst Du hier Wurzeln schlagen“ mal nachgeben. Dann gehen wir eben zu dritt ein Stück durch den Wald. Der Neue wird hoffentlich wissen, was er da tut. Der hat auf jeden Fall ein zu Hause, der ist so wohlgenährt.
Nach gut einer Stunde erreichen wir tatsächlich immer noch in fremdtierischer Begleitung Agés. Im Ort finde ich zu meiner Freude ein liebevoll gestaltetes Schild mit dem Hinweis, dass es bis Santiago lediglich 518 Kilometer sind. Na, wer sagt’s denn? Dann hammer’s doch bald! Aber jetzt brauche ich zunächst einmal meinen heiß geliebten Café con leche. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. Das gibt doch bestimmt Probleme, wenn dieser fremde Hund einfach mit in die Bar kommt, die sich mir da anbietet. In der letzten halben Stunde hat es ein Unwetter gegeben. Die beiden Vierbeiner gingen locker als „Wildschweine“ durch, so wie die aussehen. Es tut mir in der Seele weh, denn das mir zugelaufene muss draußen bleiben.
Vor der Eingangstür der Bar, rede ich meinem neuen treuen Begleiter gut zu. „Sei mir nicht böse, aber ich muss Dich im Regen stehen lassen. Geh wieder nach Hause oder, wenn Du hier in Agés Freunde hast, geh die besuchen. War nett mit Dir, mach’s gut. Adiós.“ Ich schaffe es auch tatsächlich, ohne ihn die Bar zu betreten. Der hat mich verstanden. Ich schaue ihm nach, bis er um die nächste Ecke gebogen ist.
Das hier ist gar keine normale Bar. Es ist der Schankraum einer Herberge. Es herrscht reges Treiben. Da es immer noch sehr stark regnet und der Himmel bedrohlich aussieht, kommen alle Pilger herein und machen sich ihr Bett klar. Die Herbergsleute sind richtig gut drauf. Mein Ruddi bekommt einen Teller mit Wasser hingestellt und darf sich, soweit die Leine reicht, frei bewegen. Die Wirtin fragt, ob sie mich für die Nacht einschreiben soll. Ich lehne ein bisschen traurig ab, denn die Stimmung und Atmosphäre sind wirklich toll. Aber ich kann nicht schon wieder eine Etappe vorzeitig beenden. Ich registriere begeistert, dass sie mich hier, wohlgemerkt in einer Herberge, zusammen mit meinem Hund aufgenommen hätten.
Nach einer guten Stunde und einer fantastischen Tagessuppe, mache ich mich an die letzten Kilometer für heute. Es regnet immer noch, aber mein Poncho hält mich und meinen Rucksack trocken. Da es warm genug, das Ziel schon nah ist und sich mein Körper so langsam aber sicher auch nach dem Feierabend sehnt, lasse ich Ruddi trotz Regen auf seinen eigenen Beinen laufen. Gerade als ich den Ort verlassen will, gesellt sich unser neuer vierbeiniger Freund wieder zu uns und läuft mit, als wäre es das normalste von der Welt. Er hat also draußen auf uns gewartet. So langsam mache ich mir Sorgen darüber, dass er nicht mehr nach Hause zurückfindet.
Auf einer ruhigen asphaltierten Nebenstraße setzen wir unseren Weg nach Atapuerca fort. Im Ort angekommen, verstecke ich meinen „gute-fünf-Kilo-Läufer“ in seinem Notfallnetz unter meinem Poncho. Ich darf kein Risiko eingehen, ich muss in diesem Ort ein Zimmer bekommen. Laut meinem Reiseführer bietet sich die nächste Übernachtungsmöglichkeit in einer Pension erst nach weiteren 20 Kilometern.