Dienstag, 13. Mai 2008
Villafranca del Bierzo (2631 Einw.), 511 m üdM, Provinz León
29. Etappe bis Ambasmestas, 15 km
Der Blick auf die Uhr, lässt mich meinen Muskelkater vergessen. Es ist kurz vor neun. Die Nacht war sehr unruhig. Bei jeder Bewegung bin ich wach geworden. Alles tut weh. 31 Kilometer steck ich nicht einfach so weg. Das Jammern hat lediglich den Effekt, dass ich mich noch schlechter fühle. Ich nehme mir ein Beispiel an Ruddi, der in Erwartung seines Frühstücks fröhlich um mich herum tänzelt. Ja! Ich freue mich unbändig auf einen heißen Café con leche mit einem frischen Croissant. Nichts wie weg! Ich packe Ruddi unter meinen Poncho und quäle mich die vielen Stufen hinunter. Richtig durchatmen kann ich erst, als ich an der Rezeption vorbei bin. Heute Morgen sitzt eine Frau in dem engen Empfangsbereich. Sie sieht ein bisschen freundlicher aus, als der Blonde, der die Nachtschicht geschoben hat. „Qué tiempo (was für ein Wetter)! Buen camino, señora, y gracias.“
Auf dem großen Platz vor dem Hostal sind außergewöhnlich viele Pilger. Kaum draußen, lasse ich Ruddi frei. Jetzt kann ja nichts mehr passieren. Verhaften werden sie mich wohl im Nachhinein nicht. Wie praktisch, dass mein Schnurzel nur wenige Meter entfernt ein Stückchen Wiese zum Pinkeln findet. Bei dem Wetter will auch er schnellstens mit mir zum Frühstück, ins Trockene! Es schüttet regelrecht.
Die Bars sind überfüllt. Es ist ein Kommen und Gehen. Viele kramen in ihren Rucksäcken. Plastiktüten kommen kurz zum Vorschein, bevor sie in einem anderen Fach im Rucksack wieder verschwinden. Wild wird in neu aussehenden Reiseführern geblättert. Die Pilger finden das Wetter mehr als nervig. Ich kenne keinen einzigen von ihnen. Mir wird klar, dass sehr viele den Jakobsweg erst knappe 200 Kilometer vor Santiago de Compostela beginnen. Das reicht nämlich dicke, um die Pilgerurkunde zu bekommen. Zu Fuß werden 100 Kilometer verlangt und mit dem Fahrrad 200 Kilometer, damit das heißbegehrte Dokument ausgestellt wird.
Also, ich will nicht falsch verstanden werden. Ich laufe auch lieber ohne Regenschutz den Camino Francés und habe meine persönliche Vorstellung von den perfekten Verhältnissen beim Wandern, aber grundsätzlich gebe ich mich jeden Morgen dem hin, was auf mich zukommt. Ja! Sorry! Manchmal heule ich auch rum! Aber der Jakobsweg ist nun mal kein Wunschkonzert. Und oft weiß der Pilger erst im Nachhinein - wie im echten Leben auch - wofür etwas gut war, dass sich zunächst mies angefühlt hat. Dieses Bewusstsein habe ich persönlich nach den ersten zwei, drei Tagen erlangt.
Die Neuankömmlinge haben ihre innere Ruhe noch nicht gefunden und sind noch völlig unerfahren im Wandern. Ständig geht irgendjemand kurz vor die Tür, um das Wetter zu checken und nimmt kopfschüttelnd vor Entsetzen darüber, dass es immer noch nass ist, wieder am Tisch Platz. Am liebsten würde ich eine kurze Rede halten: „Ja, ihr Lieben! Sonnenschein wäre vielleicht besser, aber auch nur, wenn gleichzeitig ein paar Wolken unterwegs sind. Sonst wird es nämlich schnell zu heiß für den Pilger mit seinem großen Rucksack auf dem Rücken. Ihr müsst es nehmen, wie es kommt. Jeden Moment aufs Neue. Es kostet ein wenig Überwindung, aber nach wenigen hundert Metern merkt ihr den Regen gar nicht mehr.“ Da ich kein Glas zum zarten Anschlagen in Griffweite habe, schicke ich meine aufklärenden Worte per Gedanken und hoffe, dass sie den ein oder anderen erreichen.
Es bleibt laut und hektisch. Was für ein Glück, dass ich noch ein kleines Plätzchen zum Sitzen finde. Ich blende den Tumult um mich herum aus und konzentriere mich auf meinen Reiseführer. Ich habe vor, bis Ó Cebreiro zu laufen. Das sind 29 Kilometer. Dann bin ich bereits in Galicien. Ó Cebreiro liegt auf fast 1300 Metern über dem Meeresspiegel. Also ist heute wieder eine anstrengende Bergtour angesagt.
Nun muss ich mich noch zwischen zwei völlig unterschiedlichen Routen entscheiden, um zum zehn Kilometer entfernten Trabadelo zu gelangen. Die historische Hauptroute führt mich durch das Tal neben der angeblich schwach befahrenen alten Nationalstraße. Die deutlich längere Nebenroute verläuft mit starken Höhenunterschieden über Pfade durch das Gebirge. Was mach ich nur? Ich sperre für ein paar Minuten meine Ohren auf und versuche mal mehr Informationen aufzuschnappen. Viele Pilger spekulieren über die Route durch die Berge. Ich höre, dass der Weg sehr abenteuerlich sein soll. Die Steigungen seien auf den schmalen Pfaden kaum zu bewältigen und teilweise überaus gefährlich - vor allem bei dem Wetter. Also beschließe ich, locker und unbeschwert durch das Tal zu wandern. Heute ist mit Aussicht sowieso nichts.
Es geht auf halb elf zu und bevor die Panik mich übermannt, mache ich mich an die geplanten 29 Kilometer. Wenn das klappt, bin ich die Königin der Berge. Das könnte spät werden heute Abend. Ich klettere aus Villafranca del Bierzo hinaus und bin schon bald auf der alten Nationalstraße. Eine 80 Zentimeter hohe Betonmauer schützt den Pilger vor den Autos auf dieser kurvenreichen Straße. Der Verkehr hält sich tatsächlich in Grenzen.
Es lässt sich ganz gut laufen auf dem ziemlich breiten und komfortabel angelegten Fußweg. Der Himmel verspricht, es den ganzen Tag regnen zu lassen. Schön, dass der Wind heute frei hat. Vier Pilgerinnen, die sich eine Menge zu erzählen haben, überholen mich. Zum einen werfen sie einen herablassenden Blick auf meinen Hund und zum anderen höre ich keinen Gruß, geschweige denn „buen camino“. Ich verstehe zwar nicht, was sie reden, aber es wirkt streitlustig auf mich.
Ich habe das Gefühl, zwei von ihnen schon mal gesehen zu haben. Die sind also nicht mehr so ganz frisch unterwegs. Sie haben keine gute Ausstrahlung, bin froh, dass der Abstand zwischen uns schnell größer wird. Ich erinnere mich nicht, jemals ohne ein einziges Wort an einem anderen Pilger vorbeigegangen zu sein. Sei’s drum!
Die fünf Kilometer bis Pereje sind schnell geschafft. Der Ort liegt an einer schmalen geteerten Straße, die ein wenig Abstand zur Nationalstraße hat. Hier ist es ruhig und idyllisch. Ich komme den vier Frauen wieder näher, die mich vorhin überholt haben. Eine von ihnen hat einen knallroten sexy Slip am Rucksack hängen. Provozierend hüpft er bei jedem Schritt auf und ab. Zum Trocknen hängt der da nicht, denn es regnet ja. Eine ihrer Freundinnen hält das Dessous obszön lachend mit ihrem Wanderstock in Schwung. Die anderen krümmen sich vor Albernheit und rufen sich in derbem Tonfall irgendwas zu. Ich bin nicht prüde, aber diese Frauen machen bei genauerem Hinsehen einen ziemlich abgewrackten Eindruck auf mich. Diese Szene würde zum Rosenmontag in der Kölner Altstadt passen, wenn die Jecken im Morgengrauen nach vier durchzechten Tagen und Nächten laut grölend aus einer Kneipe torkeln. Mit dem Jakobsweg hat das gesamte Verhalten nichts zu tun. Ich staune mit offenem Mund, fange mich aber schnell wieder und bleibe dabei: „Jeder nach seiner Fasson.“
In Pereje gönne ich mir meinen Café con leche. Nein, das wird mir nicht langweilig, ich bin wahrscheinlich süchtig danach! Die Frauen sind - wie kann es anders sein? - auch hier. Sie haben sich an mehreren männerbesetzten Tischen verteilt und bringen Leben in die Bude. Ich bekomme mit, wie sie Ruddi begutachten und mit einem verständnislosen, verachtenden Blick auf mich über ihn herziehen. Einige spanische Vokabeln kann ich raushören, aber sie müssen einen sehr starken Dialekt sprechen. Sie sind ganz offensichtlich abfällig uns gegenüber. Ihre Gesichter sind hasserfüllt. Was ist denn los? Ich hab nix gemacht!
Man sagt ja, dass jeder Pilger irgendwann auf dem langen Jakobsweg den Teufel trifft. Na, dann bring ich das jetzt mal schnell hinter mich. Damit wäre das auch erledigt. Und plötzlich weiß ich wieder woher ich zwei von ihnen kenne! Das sind die Frauen, die sich in der Herberge der Kirche in Foncebadón das Brot auf dem Ofen geröstet haben. Jetzt kann ich mir auch vorstellen, über was die reden, wenn sie mich und Ruddi abschätzend ins Visier nehmen.
Ich ringe um Fassung und erlange sie auch nach wenigen Minuten. Ich setze mich auf einen anderen Stuhl, mit dem Gesicht zur Wand, damit sich alle Beteiligten das Elend nicht länger mit ansehen müssen. Mein Blick fällt auf die Münzen, die in der Naturstein-Wand abgelegt wurden. Ich unterhalte mich mit einem Pilger, der sich an meinem Tisch niedergelassen hat, darüber. „Ich habe so etwas noch nie gesehen.“ Er erzählt mir, dass das in Spanien keine Seltenheit ist. Jeder Gast, dem danach ist, legt eine kleine Münze in die Wand und wünscht dem Wirt damit Reichtum. Das finde ich toll, so eine Wand möchte ich in meinem Wohnzimmer auch haben. Natürlich liegt ab sofort auch eine meiner Münzen in dieser Wand.
Bereits nach nur weiteren drei Kilometern entdecke ich eine Fernfahrer-Raststätte, jedenfalls stehen Unmengen von LKW auf einem riesengroßen Parkplatz. Ich muss mal dringend Pippi. Das ist doch die Gelegenheit. Fällt im Trubel bestimmt nicht auf, wenn ich ohne was zu verzehren, mal eben die Toilette benutze. Im Restaurant ist aber gar nicht viel los. Mist! Nur drei Tische sind besetzt und ich werde zudem freundlich lächelnd vom Wirt begrüßt. Ich zieh mein Ding trotzdem durch. Ich kann doch nicht schon wieder Pause machen!
Auf dem Rückweg durch das Restaurant höre ich mir bekannte Stimmen. Das gibt es doch gar nicht! Da sitzen doch tatsächlich in fröhlicher Runde meine vier Österreicher zusammen. Sofort wird ein fünfter Stuhl an den Tisch gezogen und ich daraufgesetzt. Ruddi wird mit ein paar Papierservietten ein bisschen abgetrocknet und schon ist eine weitere Pause eingeleitet. Toll! Ich freu mich! Zwischen all den neuen Pilgern gibt es also doch noch welche, die ich kenne und auch noch besonders gerne hab.
Lachend teilen wir uns mit, was in den letzten Tagen so passiert ist und für heute noch ansteht. Meine Pilgerfreunde raten mir dringend davon ab, bei dem Wetter bis Ó Cebreiro zu laufen. Das sei viel zu gefährlich und zu anstrengend als Abschluss einer 29-Kilometer- Etappe. Um sie zu beruhigen, lasse ich das Ende des Tages mal offen und „werde schon sehen, wie weit ich komme“. Alle sind wohlauf und guter Dinge. Bis die teuflischen Spanierinnen den Raum betreten, nun uns alle fünf abschätzend und Ruddi wie gewohnt missbilligend ansehen. Auch meinen Freunden sind diese Frauen schon öfter unangenehm aufgefallen. Wir fackeln nicht lange, entscheiden uns für den Camino und gegen eine destruktive Unterhaltung über die Damen.
Rucksäcke auf, Ponchos drüber und ab dafür. Wir sind uns einig: „Jeder nach seiner Fasson.“
Mit einer herzlichen Umarmung verabschieden wir uns draußen im strömenden Regen und jeder geht weiter seinen Weg. Die vier laufen vor mir her, als wären sie eins. Wir haben uns darüber unterhalten, wie es möglich ist, das zwei Ehepaare zusammen pilgern. Jeder hat doch sein eigenes Tempo, aber sie passen sich ohne Mühe einander an. Ich bin sicher, dass das eine Seltenheit ist.
So langsam fühle ich mich von den Bergen eingeschlossen. Meine Augen sehnen sich nach einem weiten Blick, nach dem Horizont. Ein paar Kilometer muss ich noch durchhalten, dann kletter ich wieder die Berge hoch und darf die weite Landschaft genießen. Ich freu mich drauf.
Die letzten zwei von den fünf Kilometern zwischen Pereje bis Trabadelo verlaufen wieder über eine schmale geteerte Straße. Sehr deutlich nehme ich das Zwitschern der Vögel wahr. Die haben sich mit Sicherheit auch immer jede Menge zu erzählen - bei den vielen Pilgern die hier so vorbeikommen.
Insgesamt vier Mal führt der Weg unter den riesigen Viadukten der A6 hindurch. Weit über mir donnern die LKW und PKW über die sehr stark befahrene Autobahn hinweg. Mit bewusst festem Stand, lege ich meinen Kopf in den Nacken und schau mir - ein wenig wackelig in den Beinen - die Unterseite eines solchen Viadukts mal genauer an. Ohne Fernglas sind keine Einzelheiten zu erkennen, so hoch wie das Ding ist. Das ist schon der Wahnsinn, was die Brückenbauer drauf haben. Ich bin sehr beeindruckt von diesen Bauwerken, die den Hauptverkehr in schwindelerregenden Höhen durch dieses Tal lotsen.