Sonntag, 11. Mai 2008

Manjarin (50 Einwohner), 1458 m üdM, Provinz León

27. Etappe bis Molinaseca, 15 km

Es ist halb sieben. Meine Pilgerfreunde verlassen nach und nach die Hütte. Für mich ist es ein bisschen früher als sonst, aber für Herbergs-Übernachter relativ spät. Wir haben, ohne darüber zu sprechen, einen Mittelweg gefunden. Ich bin in der Nacht immer wieder wachgeworden, weil mir so kalt war. Nichts desto trotz war es eine ungewöhnliche Nacht. Mit neun „fremden“ Personen auf so engem Raum zu schlafen, ist meiner Ansicht nach nicht erstrebenswert.

Die Berichte meiner Pilgerbekanntschaften, die immer in Herbergen übernachten, sind eher unromantisch: Die Luft wird stickig und jeder macht seine ganz eigenen Schlafgeräusche. Der eine ist dabei leise, süß und liebenswert, der andere laut, bitter und beschämend. Die Pilger verarbeiten nachts ihre Etappen-Erlebnisse und viele stöhnen, reden, schreien, lachen, weinen, grummeln oder schnarchen. Dauernd steht einer auf, kramt in raschelnden Plastiktüten, wechselt seine Verbände oder nuckelt blubbernd an irgendeinem Trinkgefäß rum.

Für Manjarín trifft das alles nicht zu. Kein einziges Geräusch hat die unglaublich friedliche Stille auf diesem Berg in Tomás einsamer Pilgerhütte unterbrochen. Die Hunde haben kein einziges Mal angeschlagen. Selbst die Natur hat sich zurückgezogen. Kein Wind, kein Regen, kein Mäuschen oder ähnliches Getier hat sich geregt. Meine Pilgerfreunde schienen gar nicht wirklich hier zu sein. Niemand bewegte sich auch nur einen Millimeter. Ich hörte noch nicht einmal das Atmen der anderen. Ganz feine Schwingungen machten mir deutlich, dass wir hier zusammen alleine sind - eins sind.

Ich konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Die friedvolle absolute Dunkelheit in Verbindung mit der „zauberhaften“ Stille ließ mich eine innere Ruhe finden, wie ich sie bisher noch nicht kannte. Manjarín scheint wirklich verzaubert zu sein. Es kommt mir so vor, als wäre die Welt „von ganz oben“ angehalten worden, nachdem Richard sein Lied zu Ende gesungen hatte. Die üblichen körperlichen Schmerzen waren wie weggeblasen. Ob der Geist sich für eine Weile vom Körper getrennt hat? Ich hatte den Eindruck, jeder von uns schwebte auf seiner eigenen, weichen Wolke durch die unendlichen Weiten des nächtlichen Universums, endlich einmal in der Lage, an gar nichts zu denken, mit dem sicheren Gefühl, gemeinsam rechtzeitig und wundervoll gestärkt sanft wieder auf der Erde zu landen. Ich bin fast dankbar dafür, so oft wachgeworden zu sein, denn es wäre schade, diese einzigartige Atmosphäre nicht wahrgenommen zu haben. Ich habe nicht alle bis ins Detail befragt, aber die anderen haben die Nacht ähnlich erlebt.

Nun dreht die Welt sich ganz normal weiter und ich merke, dass ich so langsam aber sicher zum Eiszapfen werde. Hätte ich geahnt, dass ich auf dem Jakobsweg auch einen Ausflug auf einer Wolke mache, hätte ich meinen Wintermantel mitgenommen. Der Schlafsack ist für das Abenteuer Camino Francés einfach zu dünn. Nachts auf 1500 Metern wird es empfindlich frisch. Das Aufstehen fällt mir folglich leicht. Ich kann es kaum erwarten, mich warm zu laufen.

Da ich hier in der Hütte nichts ausgepackt, geschweige denn gewaschen habe, ist der Rucksack schnell gefüllt. Um ehrlich zu sein, wache ich mit denselben Klamotten auf, mit denen ich gestern durch den Regen gelaufen bin. Weil es in Manjarín kein fließendes Wasser gibt, fiel die Dusche am Vortag aus. Ich komme mir furchtbar verwahrlost vor, möchte gar nicht wissen wie ich aussehe - für meinen ersten Besuch im Universum hätte ich mich gerne ein bisschen schicker und gepflegter präsentiert. Naja, die Engel werden es mir nachsehen.

Zähneputzen findet draußen vor der Tür auf der Wiese statt. Zum Umspülen hat jeder sein Wasserfläschchen dabei. Das muss reichen. „Liebes Universum, denke dringend daran, mich heute Abend in einem Hotel mit eigenem funktionstüchtigem Bad unterzubringen.“

Zum Plumpsklo geh ich auf keinen Fall! Dem leichten Druck auf der Blase muss ich bis El Acebo standhalten. Es handelt sich lediglich um sieben Kilometer. Das wird ja wohl klappen, nachdem ich jegliche Nahrungsaufnahme verweigert habe, seit ich das hiesige „Dringendes- Bedürfnis-Häuschen“ einmalig benutzt habe.

Während Ruddi ganz in Ruhe vor der Herberge frühstückt, schau ich mich im Morgengrauen ein bisschen um. Meine Heimat ist Dormagen, zwischen Köln und Düsseldorf gelegen. Wir haben zwar Hügel in der näheren Umgebung, aber direkt nach dem Aufwachen bietet sich mir eher die Aussicht auf die Nachbarhäuser und die Autobahn. Wenn ich mich anstrenge, kann ich auch einige Felder und - weit entfernt - unseren Tannenbusch erkennen. Heute Morgen brauchte ich nur zehn Schritte zu machen, um einen Sonnenaufgang vom allerfeinsten mitten in den Montes de León erleben zu dürfen. Ganz bewusst nehme ich mit tiefen Atemzügen die taufrische Luft in meine Lungen auf. Diese reine - ja, unschuldige - Brise verteilt sich deutlich fühlbar und nach mehr lechzend, in meinem ganzen Körper. So ungewöhnlich rückständig und verlassen dieser Ort auch sein mag, Körper und Seele lieben ihn.

Mein Blick fällt auf Richard und Celin, die auf einem Hügel vor der aufgehenden Sonne stehen. Sie sehen aus, als wären sie in diesem Moment erst von ihrer Reise aus dem Universum zurückgekehrt. Vielleicht blicken sie ihrer Wolke noch hinterher, die leise wieder davon gleitet. Sie würden ein schönes Paar abgeben. Wer weiß, vielleicht sind die beiden ja letzte Nacht eng aneinander gekuschelt durch die Nacht geflogen.

Tomás und seine Leute haben frischen Kaffee gekocht und ein einfaches Frühstück vorbereitet. Wir Pilger sitzen noch ein Viertelstündchen zusammen und dann verlassen wir nach und nach Manjarín. Richard, Celin und ich verabschieden uns gemeinsam von den Templern. Gerade als wir die vielen Wegweiser vor seinem Haus passieren, kommt Tomás herausgestürzt, läuft zu Celin und hängt ihr mit einem vielsagenden, liebevollen Blick eine Kette an ihren Wanderstab. Er winkt und ruft uns allen zu: „Buen camino!“ Sie hat Tränen in den Augen, läuft nochmal zu ihm und bedankt sich mit einer herzlichen Umarmung.

Es bleibt ihr Geheimnis, warum er ihr ein Abschiedsgeschenk gemacht hat. Sie verrät mir nur soviel: „Ich bin gestern Mittag schon hier angekommen und habe mir einige seiner speziellen Anwendungen geben lassen. Danach habe ich fast eine Stunde lang schweigend dagesessen und Tomás hat einige Rituale vollzogen. Das hat unendlich gut getan und wird für immer in meinem Herzen bleiben.“ Mehr möchte sie dazu nicht sagen. Ich dränge sie natürlich auch nicht, sehe nur, wie glücklich sie ist.

Jetzt fällt mir wieder ein, dass in meinem Reiseführer erwähnt wird, dass hier bei Bedarf gute Dienste geleistet werden und ich erfahre im Nachhinein, dass viele Pilger bewusst einen ganzen Tag hier verbringen, um genau diese einzigartigen und ganz persönlichen Erfahrungen mitzunehmen. Meine Meinung zu Manjarín ist, dass ich beim nächsten Mal zwar vier, fünf Stunden einplanen würde, um Tomás Dienste in Anspruch zu nehmen, aber im nächsten Ort übernachten müsste, weil für mich persönlich eine Toilette, Wasser und Strom zum Überleben dazu gehören. Es ist fast schade, dass ich zu denen gehöre, die sich wegen ein bisschen Luxus, eine solch außergewöhnliche Nacht beim nächsten Mal entgehen lassen würden.

Es ist 8.45 Uhr. Die nächsten drei Kilometer fuhren in leichtem Anstieg zum höchsten Punkt des Camino Francés auf 1515 Meter über dem Meeresspiegel. Die Aussicht ist atemberaubend. Gestern hatte ich in meiner Verzweiflung überhaupt keinen Sinn mehr dafür - oder war es zu neblig? Dafür genieße ich jetzt umso intensiver die Montes de León mit ihrem heute stahlblauen Himmel. Die Regenwolken haben wir diese Nacht auf unserer Reise weggepustet.

Bereits nach einem knappen Kilometer fällt mir der Mann mit seinem Welpen aus Tomás‘ Stall auf. Er steht plötzlich wie eine Statue mitten in der Landschaft an einer unübersichtlichen Stelle. Er sieht schon sehr arm und einsam aus. Seine Kleidung hat mit Sicherheit mindestens einen Vorbesitzer gehabt. Alles an ihm sieht so ausrangiert aus. Im ersten Moment ist mir ein bisschen mulmig. Die anderen Pilger sind alle schon weit voraus, außer Sichtweite.

Sicherheitshalber mache ich mich mal so groß ich kann: Knie durchgedrückt, Bauch rein, Brust raus und Kopf hoch. Beruhigend wirkt in diesem Moment Ruddi auf mich. Er beachtet den Mann gar nicht. Normalerweise bellt mein Hund ganz aufgeregt, wenn etwas rumsteht, das ihm nicht geheuer ist, selbst wenn es eine Plastiktüte ist, die sich unangemeldet in seiner gewohnten Umgebung niedergelassen hat. Ich atme nochmal tief durch und gehe, grußlos und ohne ihn anzusehen, meinen Weg. Er bleibt regungslos stehen, sein Welpe scheint sich unsichtbar gemacht zu haben. Selbst Ruddi scheint seinen Artgenossen noch nicht einmal gewittert zu haben. Wir gehen jedenfalls an dem Mann vorbei als wäre er gar nicht da. Hm, was war das denn? Komische Situation, aber es kann ja auch sein, dass er schlicht und ergreifend einfach nur ein bisschen spazieren geht und anderen Menschen gegenüber sehr schüchtern ist.

Schon wenige hundert Meter später mach ich mir keine Gedanken mehr über ihn. Ab jetzt habe ich ganz andere Probleme. Ich stehe nun, nachdem ich die Landstraße überquert habe, an einem schwindelerregenden Berghang und muss einen Weg betreten, der an einen ausgetrockneten Flusslauf erinnert. In den Pyrenäen habe ich solche Abschnitte auch schon bewältigt, aber das hier ist eine ganz andere Liga. Ich vergesse fast zu atmen. Wie soll ich da bloß runter kommen? Lose, dicke Felsbrocken und kleine Steine „zieren“ den Pfad. Ich kann mit den Augen nicht mehr als einen Schritt vorausplanen. Jeden einzelnen muss ich im absoluten Hier und Jetzt spontan kreieren.

Schwer bepackt steht mir eine Klettertour nach unten bevor. Innerhalb der nächsten vier Kilometer gilt es fast 400 Höhenmeter abwärts zu bewältigen. Im Schnitt also pro Kilometer 100.

Das ist viel zu steil! Wenn ich an dieser Stelle hinfalle, rolle ich garantiert gnadenlos und ungebremst bis ins Tal.

Ich versuche mich zu beruhigen. Schritt für Schritt, meine Wanderstöcke mit Bedacht einsetzend, beginne ich mutig den Abstieg. Der Rucksack drückt mich natürlich zusätzlich vorwärts. Ohne die Stöcke könnte ich das nicht bewältigen. Meine Knie fangen an zu zittern und ich spüre, wie sich zuerst meine Gesichtszüge und nach und nach der ganze Körper vor lauter Anspannung versteinern. Kalt ist mir schon lange nicht mehr. Im Gegenteil, ich wandere im eigenen Saft. So geht das nicht! Ich muss locker bleiben!

An einer relativ sicheren Stelle bleibe ich, auf meine Stöcke gestützt, stehen. Mit tiefen, bewussten Atemzügen tanke ich frischen Mut und neue Energie. Ich lasse die Schönheit dieser unberührten Berglandschaft noch tiefer in mein Herz. Ganz langsam entspanne ich mich wieder. „Wie viele Pilger sind hier schon runter gelaufen. Es liegen keine Leichen oder Skelette am Abhang. Du schaffst das, wenn Du ruhig bleibst und Dir Zeit nimmst. Step by step!“ erzähle ich mir selbst so überzeugend, dass es weitergehen kann.

Ungefähr nach einer halben Stunde, glaube ich, meinen Augen nicht trauen zu können. Da ist er wieder! Der Mann mit dem Welpen! Wie kommt der denn hierhin? Sicher ist, dass er mich nicht überholt hat. Gibt es hier vielleicht unterirdische Gänge, wie in Köln die U- Bahn? Vielleicht sogar mit Bars und Toiletten? Mein Reiseführer erwähnt so etwas jedenfalls nicht!

Wie zuvor steht er einfach nur da. Das Hundebaby hat er nun auf dem Arm. Der will mir doch nix, die Gelegenheit hätte er eben schon gehabt. Ich grüße ihn mal mit einem abgekämpften „Hola“ und schau ihm sogar ins Gesicht. Mit freundlichen Augen antwortet er: „Buen camino!“ Durch die Widrigkeiten der Wegbeschaffenheit bewege ich mich in Zeitlupe an ihm vorbei. Mir kommt die Idee, dass er es sich zur Aufgabe gemacht haben könnte, mich, als letzten Pilger in der heutigen Schlange, bis El Acebo im Auge zu behalten und eventuell sogar aufzusammeln, wenn ich hier stolpere oder gar abstürze. Wie ist der bloß unbemerkt an mir vorbeigekommen?

Ich quäle mich weiter Schritt für Schritt Richtung Tal. Man stelle sich nur mal vor, ich hätte mich gestern Abend im Dunkeln und bei Regen auf diese Piste gewagt. Ich spekuliere, ob Tomás das überhaupt zugelassen hätte. Ich bin davon überzeugt, dass er mich eher gefesselt und angekettet hätte.

Eine gute Stunde später, nach einer Haarnadelkurve, bleibe ich nochmal stehen und wage einen Blick in die Feme. Hurra! Ich sehe die schiefergedeckten Dächer von El Acebo. Dieser Ausblick ist atemberaubend und einmalig. Das sind die schönsten Dächer, die ich je gesehen habe. Noch ein paar hundert Meter, dann ist es geschafft. Ich fantasiere von einem WC, anschließendem Essen und Café con leche. Meine Blase und der Hunger plagen mich schon seit einer ganzen Weile. Mein Körper fühlt sich sehr vernachlässigt und wenn ich mir Ruddi so ansehe, ist der auch heilfroh, wenn wir unten sind. Für ihn war es ebenfalls ein schwerer Weg. Mit seinen dünnen Beinchen und klitzekleinen Pfoten musste er sich - wie ich - jeden Schritt dreimal überlegen.

Da ist er wieder! Jetzt bin ich mir sicher. Er ist mein in Lumpen gekleideter Schutzengel! Zumindest für heute. Zustimmend nickend und zufrieden lächelnd steht er am Wegesrand. Same procedure: „Hola!“ „Buen camino!“ Frage ich mich gerade ernsthaft wieder, wie er an mir vorbeigekommen ist? Ich werde es nie erfahren. Aber so langsam gibt mir sein plötzliches Erscheinen so etwas wie Sicherheit. Keine Spur mehr von Angst oder mich-mulmig-fühlen. Tja, es ist schon eine besondere Gegend.

In El Acebo schleppe ich mich mit letzter Kraft in die erstbeste Bar. Sie ist gerammelt voll. Ich lasse mich völlig erledigt auf einen freien Stuhl fallen und bin gerade dabei, im Rucksack nach Ruddi’s Kuscheldecke zu kramen, als ich mit viel Tamm-Tamm von zwei Menschen angesprungen werde. Sie umarmen und knutschen mich. Ruddi ist ebenfalls komplett aus dem Häuschen und springt an den beiden hoch. Es dauert eine Weile, bis ich realisiert habe, wer mich da fest umschlungen hält. Es sind Mary und Lynn aus Vancouver. Meine beiden Pilgerfreundinnen aus längst vergangenen Zeiten und Etappen. Ich raste förmlich aus vor lauter Freude. Das gibt es doch gar nicht! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Wie gewohnt und unvergessen tauschen wir uns mit Englisch, Spanisch, Händen und Füßen aus. Unter amüsierter Beobachtung der vielen anderen Gäste, gackern wir wie die Hühner, wenn endlich der Hahn aus dem Urlaub kommt.

Ruddi kann sein Glück auch kaum fassen. Wie „früher“ haben Lynn und Mary jede Menge Köstlichkeiten für ihn im Rucksack. Damit nicht genug, wandert er natürlich von einem Schoß zum anderen und genießt tausend Streicheleinheiten. Momentan ist er der glücklichste Hund auf der ganzen Welt und ich bin die glücklichste Pilgerin auf den gesamten 784 Kilometern Jakobsweg. Gerade diese beiden Frauen wiederzusehen...! Wir haben vom ersten Tag an für eine relativ kurze, aber umso intensivere Zeit die Tücken des Caminos zusammen bewältigt. Es ist zu vergleichen mit dem Gefühl, die gesamte Jugend gemeinsam verbracht zu haben und sich im Erwachsenenalter endlich wiederzusehen. Noch ein Moment mehr, den ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde.

Nach einigen Croissants und Cafés con leche machen wir uns gemeinsam auf den Weg aus dem wunderschönen El Acebo - übrigens das erste Dorf des Bierzo - mit seinen 50 Einwohnern heraus. In einer kleinen Tienda kaufen wir noch gemeinsam Wasser und ein paar Snacks für den nächsten Teil der Bergtour runter nach Riego de Ambrós und beginnen dann schweren Herzens, aber glücklich uns wiedergefunden zu haben, getrennt einen weiteren Abschnitt der heutigen Etappe.

Die folgenden 3,6 Kilometer beinhalten zwar auch wieder gute 200 Höhenmeter, aber zunächst über die Landstraße. Das ist ja einfach! Da muss ich lediglich die Handbremse leicht angezogen lassen, aber nicht mehr ständig auf meine Füße gucken. Ruddi muss zwar wegen des Autoverkehrs an der Leine laufen, aber auch er findet es momentan sehr entspannend.

Nach ungefähr zwei Kilometern verläuft der Camino dann weiter durch die wilde, ursprüngliche Berglandschaft. Dieser Abschnitt ist nicht ganz so steil, wie der von heute Morgen, aber trotz allem sehr tückisch. Weit und breit ist wie gewohnt - und doch immer wieder erstaunlich - keiner der vielen Pilger zu sehen, die sich in El Acebo getummelt haben. Wollen Sie es von mir schwarz auf weiß haben oder können Sie es sich schon denken, wer hinter der nächsten Kurve auf mich wartet? Nein, nicht Mary und Lynn! Mein Schutzengel! „Hola!“ „Buen camino!“ Mir kann heute nichts passieren, dessen bin ich mir sicher. Dieser Mann muss ein überzeugter Templer sein!

In dem kleinen Dorf Riego de Ambrós finde ich eine schöne Bar mit Außenterrasse. Da wir von Bergen umgeben sind, muss ich mit meinen, vom ständigen Bergablaufen, butterweichen Knien, gefühlte dreihundert Treppenstufen erklimmen, um an ein Getränk zu kommen. Stöhnend und ächzend schaffe ich auch das noch. Ich bin der einzige Gast, suche mir den schönsten Platz aus, atme ganz ruhig und tief durch und lasse meine Seele baumeln. Ich könnte den Rest des Tages einfach hier sitzen bleiben.

Eine junge Japanerin gesellt sich zu mir. Sie hat nur zwei Wochen auf dem Camino und ist sehr traurig darüber, dass die Hälfte der Zeit bereits rum ist. Genau wie mir, gefällt es ihr, einfach den lieben langen Tag zu laufen. Wir philosophieren darüber, warum uns das so gut gefällt, obwohl jeder Muskel und Knochen im Körper wehtut. Wir fühlen uns frei, wir haben keine Verpflichtungen, wir lassen uns auf wildfremde Menschen ein und sind fasziniert von der Vielfältigkeit des Wanderlebens an sich. Es gibt kein Zurück, es geht ständig voran. Nichts wünscht man sich so sehr, wie sein Ziel endlich zu erreichen und doch stimmt es einen unendlich traurig, dann nicht mehr weiter laufen zu müssen.

So, jetzt aber ab, den Rest des Berges bezwingen! Molinaseca wartet auf mich. Es sind noch gute vier Kilometer und 340 Höhenmeter. Es ist die Hölle! Was für ein Glück, dass ich nicht einen Tag früher hier unterwegs war. Bei dem Regen, der mich die letzten Tage beglückt hat, wäre dieser Weg definitiv nicht begehbar gewesen. Nein! Auf keinen Fall! Ich laufe über blanken Fels. Selbst im trockenen Zustand habe ich ständig Angst, aus- oder runterzurutschen. Es ist so unglaublich steil. Der irische Schriftsteller W. Starkie hat es mal so ausgedrückt: „Molinaseca ist eine bezaubernde kleine Oase auf einer furchterregenden Reise.“

Mir kommt der Gedanke, dass ich in Riego de Ambrós Millionen mit einem Laden für Bergsteiger-Ausrüstungen machen könnte. Auf dem Schild vor meinem Laden würde stehen: „Vorsicht! Nach Molinaseca muss der Pilger über eine 1000 Meter lange Rutschbahn aus Fels. Wenn ihm sein Leben lieb ist, braucht er Seil, Abseilachter, Karabiner und Steigeisen.“ Okay, bis hierher hab ich es auch ohne überlebt, aber es war schon einige Male sehr knapp. Die Adrenalinstöße haben mich wahrscheinlich am Leben gehalten. Es ist wie beim Skifahren, wenn die „rote“ Piste plötzlich Mörder-Buckel wie eine schwarze aufweist. Auf so einer Strecke funktioniere ich einfach, zu viel Denken macht nur Angst - weiter nichts. Augen auf und durch.

Für das Leichtgewicht Ruddi ist die Rutsche Gott sei Dank wie ein Spaziergang im Stadtpark. Er hat immer ein Auge auf mich und mein Treiben. Jedes Mal wenn ich denke „es geht nicht mehr“ feuert er mich an. Über die mittelalterliche Brücke Puente de los Peregrinos (Pilgerbrücke) überqueren wir den Fluss Meruelo. Mit letzter Kraft, aber überglücklich erreichen wir Molinaseca.

5 1/2 Wochen
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