Donnerstag, 24. April 2008
Navarrete (2211 Einwohner), 512 m üdM, La Rioja
10. Etappe bis Azofra 23,8 km
Ich stehe frohen Mutes gegen halb acht auf. Hermann ist seit einer guten Stunde weg. Die Wäsche ist natürlich noch ziemlich nass. In jeder Hand ein Kleidungsstück tanze ich verzweifelt durch die Küche. Es sind wilde Tänze, die ich aufführe. Die Hose und das T-Shirt wirbeln durch die Luft. Mein Lied heißt „ich kriege euch schon trocken - ihr werdet sehn“. Nach einer Viertelstunde höre ich mit dem Wahnsinn auf und setze mich zum Luftholen auf einen Stuhl. Der Wäscheständer ist voll mit meinen frisch gewaschenen Sachen, gibt mir Applaus und schreit nach Zugabe. Ich hoffe nur, dass mich niemand durch die offene Balkontür beobachtet hat. Es würde Stunden dauern, alles zu trocknen. So geht das nicht! Ein Blick aus dem Fenster verspricht mir das schönste Sommerwetter. Das ist doch die Lösung: Das Zeug muss in „Etappen“ am Rucksack weitertrocknen!
So schön dekoriert verlasse ich um halb neun mit Ruddi an der Leine das Haus. Ich muss den Wohnungsschlüssel noch in den Postkasten der Herberge werfen und hoffe, dass mich die Hospitaleros nicht sehen. Mit einem flauen Gefühl gehe ich auf die Eingangstür zu, öffne ganz leise den Briefkastendeckel, stecke meine Hand soweit es geht hinein und lasse dann den Schlüssel erst los. Mit einem lauten Scheppern fällt er auf den Grund des Blechkastens und über mir öffnet sich prompt ein Fenster. Ich tue mal so, als bemerkte ich das nicht - vielleicht sind wir ja unsichtbar, wenn wir jetzt Weggehen?! Nee, leider klappt das nicht. Die Frau spricht mich mit einem fröhlichen „buenos días“ an. Ich drehe mich zu ihr um, erwidere „total locker“ den Gruß und bin gespannt wie das Urteil für einen nicht angemeldeten Hund ausfällt. Es lautet: „Buen camino, señora!“ Mir fällt ein Stein vom Herzen. Entweder hat sie Ruddi nicht wahrgenommen oder es ist ihr egal, dass er in ihrem Haus übernachtet hat. Mit einem gut gelaunten „Gracias por todo y adiós“ biegen wir um die nächste Ecke.
Am Ortsausgang treffe ich auf Sabrina. Besorgt frage ich nach Edit, Achim und Oliver. „Ich will heute mal alleine laufen. Den anderen geht es gut. Alles okay. Außer bei Ina. Sie hat wohl in den letzten Tagen zu wenig getrunken, Kreislaufprobleme und fürchterliche Kopfschmerzen. Der Herbergsvater hat ihr angeboten eine weitere Nacht zu bleiben, damit sie sich erholen kann. Sie nimmt dieses Angebot an, bleibt heute im Bett und geht morgen erst weiter.“ teilt sie mir mit. Diese Nachricht wirft mich aus der Bahn. Gebietet es der Anstand, nach ihr zu sehen, ihr beizustehen? Ich bin auf dem Jakobsweg. Wenn ich jetzt zurückgehe, schaffe ich meine Etappe nicht. Ich kämpfe mit meinem Gewissen, entschließe mich aber auf „meinem Weg“ zu bleiben. Ich sende Ina Gedanken der schnellen Besserung und von Herzen alles Gute. „Jeder hat sein Tempo auf dem Camino“. Es wird für sie einen besonderen Sinn haben, heute noch in Navarrete bleiben zu müssen. Ich möchte weitergehen. Bin ich nicht hier unterwegs, um nach meinem Wohlbefinden zu schauen?
Ich lasse Sabrina einen kleinen Vorsprung. Wir wollen beide heute alleine laufen. Das erste Stück des Weges führt an der Nationalstraße entlang. Nach weniger als einem Kilometer erreiche ich einen kleinen Friedhof. An dieser Stelle ist fraglich, ob es weiter geradeaus oder links in einen Feldweg geht. Mein Wanderführer gibt mir ebenfalls keine klare Ansage. Sabrina ist links abgebogen. Sie ist bereits zu weit weg, um sie zurückzupfeifen - ich kann auch gar nicht pfeifen. Geht sie auf dem richtigen Weg? Mein Gefühl sagt: „Nein!“ Ich bin unentschlossen. Es ist kein anderer Pilger in Sicht. Innere Stimme oder Herdentrieb? Nach einigen Minuten „warten auf eine Eingebung oder ähnliches“, nehme ich den gleichen Weg wie Sabrina. Mal sehen was passiert.
Über eine große Strecke finde ich keine typischen Camino-Hinweise. Unsicher halte ich immer wieder Ausschau nach anderen Peregrinos. Tatsächlich entdecke ich weit von mir entfernt auf einem Parallelweg den einen oder anderen fröhlich wippenden Rucksack. Und jetzt? Ich habe keine Lust zurückzulaufen. Beherzt wähle ich ein besonders schönes Feld aus, um es zu durchqueren. Hoffentlich werde ich nicht von einem Bauern erwischt oder gar von seinem Hund verjagt. Es sind viel größere Felder hier in Spanien, als ich das von zu Hause kenne. Ruddi findet es toll, vom Weg abzukommen und springt abenteuerlustig durch die Gräser. Es dauert eine Weile bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Es war anstrengend über den aufgelockerten, steinigen Acker zu stolpern. Wieder auf einem normalen Weg, fühle ich mich „zuhause“ und entdecke sofort die Fußspuren, wie sie nur Pilger hinterlassen. Sehr bald erscheinen die unentbehrlichen und beruhigenden gelben Pfeile auf dem angenehmen Pfad. Da sonst niemand in der Nähe ist, klopfe ich mir selbst auf die Schulter für meine - wenn auch verspätete - weise Entscheidung und genieße die weite Landschaft.
Es gefällt mir sehr, alleine unterwegs zu sein. Der Rhythmus stimmt. Ich habe das Gefühl, zu tanzen. Ist es ein Wunder? Nein! So habe ich doch meinen Tag begonnen. Es ist alles so leicht. Meinen Rucksack nehme ich immer weniger wahr, obwohl der durch die nasse Wäsche schwerer ist als sonst. Nach zwei Stunden sind die Wäschestücke, die hinter mir her wehen, trocken. Prima! Dann können die jetzt Platz für die nächsten Teile machen und wieder in ihren Beutel einziehen. Meine Füße sind besser gelaunt, als in den letzten Tagen. Allerdings knallt die Sonne gnadenlos vom Himmel. Ich creme immer wieder mein Gesicht ein, damit mir die Nase nicht komplett verkohlt. Nach acht Kilometern erreichen wir Ventosa.
Ich laufe schnurstracks in die erste Bar und genieße den redlich verdienten Café con leche. Ruddi und ich machen eine ausgedehnte Pause. Glücklich und zufrieden gucke ich aus dem Fenster. Der Sonnenschein aus dem wolkenlosen Himmel verzaubert die Landschaft. Alles sieht so freundlich aus. Jedoch ist es eine Herausforderung für unser beider Kreislauf, in der Mittagshitze zu laufen. Wir haben uns zwar den Temperaturen angepasst und gehen schön langsam, aber Ruddi ist überglücklich, in einer kühlen Bar auf den Fliesen liegen zu dürfen.
Hinter Ventosa wird der Weg anstrengender. Der Boden in Nordspanien ist fast überall steinig. Eine Zeitlang habe ich ja geglaubt, die Wege würden von Zeit zu Zeit von Menschenhand präpariert, damit wir Pilger abends auch wissen, was wir getan haben. Aber ich weiß schon seit ein paar Tagen, dass hier alles - ob Matsch, Schnee, Wurzeln, Schotter, Kieselsteine, Felsbrocken, Sonne, Regen und Wind - von der Natur so vorgesehen ist.
Es folgt nun ein relativ langes Wegstück, das ganz besonders viele Steine aufweist. Die meisten Wallfahrer errichten kleine und große Figuren aus ihnen. Viele gingen sicher als Kunstwerk durch. Das ist wunderschön anzusehen. Jedes einzelne Steinmännchen symbolisiert die Gedanken und Gefühle der Person, die es gebaut hat. Vor lauter Begeisterung vergesse ich, zu fotografieren.
Mein Hund ist plötzlich ganz aufgeregt und läuft bellend an mir vorbei. Ich drehe mich um und sehe wie er sich mit einem Artgenossen unterhält. Die beiden beschnuppern sich ausgiebig, sind sich sympathisch und beschließen, ein bisschen zusammen zu gehen - ohne mich zu fragen. Na ja, ich will mal nicht so sein. Es macht mir Freude, die zwei so einträchtig nebeneinander herlaufen zu sehen.
Es geht weiter durch Weingärten, breite Täler und sanfte Berge. Dahinter, in der Feme sehe ich schon eine ganze Weile schneebedeckte Gipfel. Bis Nájera sind es gute zehn Kilometer ohne eine Versorgungsmöglichkeit. Es gibt keinen Schatten. Ich muss an Ina denken. Jetzt weiß ich, warum sie heute nicht laufen soll. Das hätte ihr Kreislauf nicht mitgemacht! Mir fällt ein, dass sie flachliegt, weil sie zu wenig getrunken hat und setze mir erst mal die Wasserflasche an den Hals und Ruddi‘s Wasserschale auf den Boden. Das tut verdammt gut und ist das wichtigste, das ich regelmäßig zu tun habe.
Ein paar hundert Meter weiter gesellt sich ein dritter Hund dazu. Er ist wesentlich größer, als „meine beiden“ und total lieb. Er hat sogar den Anstand, sich mir vorzustellen. Von nun an sind wir zu viert. Die Jungs können ihr Tempo selbst bestimmen. Ich laufe ihnen in meinem hinterher. Der Große ist der Anführer. Er zeigt den Kleinen, wo es was zu schnuppem und zu markieren gibt. Vorbeiziehende Pilger fragen mich erstaunt, wie es funktioniert, mit drei Hunden den Camino zu laufen. Sie sind durchweg beruhigt, als sie erfahren, dass mir nur der Kleinste gehört.
Nach ungefähr einem Kilometer verlässt der erste Hund uns wieder. Auf einmal ist er nicht mehr da. So leise wie er gekommen ist, verschwindet er auch. Ich glaube allerdings, dass er Ruddi „Tschüss“ gesagt hat. Der selbsternannte Anführer hingegen macht den Eindruck auf mich, als wäre es seine Aufgabe, auf uns aufzupassen. Er ist sehr umsichtig. Manchmal versteckt er sich, um dann doch wieder aufzutauchen. Er hat Ruddi und mich ständig im Auge. Wenn ich Pause mache, wartet dieser wunderschöne und gepflegte Hund auf uns. Ich möchte gerne wissen, was dem so durch den Kopf geht. Mindestens sieben oder acht Kilometer begleitet er uns. Ein paar Mal denke ich: „Jetzt ist er wieder zurückgelaufen.“ Und dann taucht er doch nochmal auf. Bin ein bisschen traurig, als ich feststelle, dass er uns endgültig verlassen hat.
Die heutige Etappe lässt mich so richtig zur Ruhe kommen. Zwischen den Orten liegen viele Kilometer und ich genieße die Einsamkeit. Mitten in dieser gottverlassenen Gegend tauchen - vollkommen fehl am Platze - zwei braune Ledersessel auf und ich fürchte mal wieder, Halluzinationen zu haben. Ich muss lachen und frage mich, wer die dahin gebracht. Das war doch bestimmt ein Pilger-Liebhaber! Einer, der aus lauter Mitgefühl hier an dieser Stelle ein kleines Wohnzimmer für die erschöpften Wanderer bauen wollte. Mir fällt ein, dass ich diese Sitzmöbel auch schon mal im Fernsehen gesehen habe. Die stehen also schon sehr lange hier. Ob sich manchmal jemand darauf setzt? Ich bin davon überzeugt.
Ich kann es nun kaum noch erwarten, in Nájera anzukommen. Die Hitze schafft mich, ich brauche dringend ein kühles Plätzchen und ein kaltes Getränk. Das Wasser, das ich bei mir trage, hat ungefähr 35 Grad. Die zehn Kilometer bewältige ich unerwartet schnell. Trotz des vermeintlich langsamen Gehens erreiche ich den Ort bereits um halb fünf. Von hier aus sind es noch fast sechs Kilometer bis Azofra.
Nájera ist mit über 7000 Einwohnern - wenn man aus der Einsamkeit kommt - eine Großstadt. Ich will eine halbe Stunde Pause in einer der vielen Bars machen. Ich bin enttäuscht, dass in diesem Lokal keine anderen Pilger sind - ein bisschen Quatschen würde mir schon gut tun. Es drängt sich die Frage auf: „Wozu habe ich jetzt Lust? Wie vertreibe ich die Langeweile? Wie befriedige ich mein Mitteilungsbedürfnis?“ So komme ich auf die Idee, das bis jetzt Erlebte schriftlich festzuhalten. Meine Tochter hatte mir bereits beim Abschied ans Herz gelegt, Tagebuch zu führen. Bis eben hatte ich keinerlei Interesse daran. Ich hatte mir vorgenommen, abends meine Erlebnisse als Tonaufnahme in meinem Handy festzuhalten. Das ist mir bisher nur ein Mal gelungen - im Hotel in Roncesvalles. Danach war ich abends nie mehr alleine und hatte keine Gelegenheit, ungestört meine Erfahrungen aufzusprechen.
Und jetzt - aus dem Nichts heraus - verspüre ich den starken Drang, genau das zu tun was ich mir zuhause nicht vorstellen konnte. Ich habe allerdings kein Papier und keinen Stift. Auf die Hilfsbereitschaft der Spanier setzend, frage ich an der Theke nach den Schreibutensilien. Die freundliche Señorita reicht mir sofort einen kleinen Block und einen Kugelschreiber. So verbringe ich die Zeit damit, die letzten Tage Revue passieren zu lassen und Stichpunkte direkt in meinen Reiseführer zu schreiben. Nach den ersten Notizen erscheint mir das praktischer und übersichtlicher als auf dem Block. Ich vergesse die Zeit und aus der halben wird eine ganze Stunde. Ich muss daran denken, mir gleich einen Kuli zu kaufen, damit ich während der nächsten Pause weiter schreiben kann.
Ruddi schläft richtig fest, der könnte noch ein Stündchen dranhängen. Mit guten Worten lotse ich ihn von seiner Decke. Er schüttelt sich kräftig durch und ist nun wieder startklar. Als ich beim Bezahlen Block und Stift zurückgeben möchte, lacht die junge Frau hinter der Theke mich an und gibt mir zu verstehen, dass ich die Sachen doch noch brauche und einfach mitnehmen soll. Ist das nicht toll? Ich freue mich sehr über die Geschenke und ziehe dankbar weiter.
Die alten, engen Gassen und Häuser im Ortskern konnten ihr mittelalterliches Erscheinungsbild bewahren. Ich gerate ins Träumen. Wenn ich mir die vielen Menschen wegdenke, müsste gleich mein schöner Prinz auf einem großen, braunen Pferd um die Ecke geritten kommen, um mich zum Ball zu begleiten. Oh! Da muss ich mich aber noch schnell umziehen! So, wie ich momentan aussehe, nimmt der mich nicht mit! Ich war in einem früheren Leben mit Sicherheit mal eine Prinzessin. Immer wenn ich durch mittelalterliche Orte spaziere, kommt mir alles so vertraut vor; ich fühle mich beschützt und aufgehoben - eben wie Zuhause. Aber ich sollte so langsam wieder wach werden und das Hier und Jetzt wahrnehmen. Es ist gemütlich in dieser gepflegten Stadt. Mein Hund und ich gehen die letzten Kilometer erfrischt an.
Nájera zu verlassen ist gar nicht so einfach. Die Calle Costanilla hat es in sich. Ich dachte schon, die heutige Etappe hätte keine nennenswerten Anstiege. Zu früh gefreut. Das hier ist einer der „steilsten Wege“, die ich je betreten habe. Hätte ich mir auch denken können, denn er wird im Reiseführer sogar angekündigt. Das will schon was heißen. Beim Überqueren der Straße muss ich meinen Oberkörper dem Berg zuwenden, um nicht in Richtung Tal zu kippen und wieder runter zu rollen. Nach dem Verlassen des Ortes geht es weiter steil bergauf durch einen Pinienwald.
Mein Hund und ich genießen das „Laufen“ im Schatten. Einige Meter vor mir gehen zwei Männer ohne Rucksack. Sie sind in ein Gespräch vertieft, als plötzlich mit einem Höllenlärm ein Quad-Fahrer den Berg hinunter geschossen kommt. Ich gerate in Panik! Wo ist Ruddi? Hoffentlich befindet er sich auf der gleichen Seite wie ich! Ich habe Angst, ihn zu mir zu rufen. Wer weiß, aus welchem Gebüsch er herauskommt. Hektisch überfliegen meine Augen das Terrain hinter mir. Die jahrelange Erziehungsarbeit bewährt sich jetzt. Ich habe ihm beigebracht, sich an meine Fersen zu heften, wenn irgendetwas Fahrbares in unserer Nähe ist. Wahrscheinlich hat er lange vor mir bemerkt, dass diese Situation auf uns zukommt. Ich habe in diesem Wald mit vielem gerechnet, aber bestimmt nicht mit einem motorisierten Irren. Die beiden Fußgänger sind ungefähr 50 Meter vor mir, springen zur Seite und schimpfen was das Zeug hält. Aber der Wahnsinnige bremst nur kurz ab, fliegt an uns vorbei und dreht sofort wieder voll auf. Meine butterweichen Knie drohen zu versagen. Ich muss einen Moment stehenbleiben, um den Schock zu überwinden.
Seit zehn Tagen genieße ich es, gefahrlos und sicher auf dem verkehrsfreien Camino unterwegs zu sein. Außer in den Städten, rechne ich nirgendwo mit Autoverkehr. Auf dem Camino ist man ja schon erstaunt, wenn jemand ohne Gepäck unterwegs ist. Nur selten begegne ich einem Bauer, der langsam mit seinem Traktor oder Auto an mir vorbeifährt. In Ortsnähe gehen ab und zu mal ein paar Einheimische spazieren, aber ansonsten gehört der Camino den Pilgern. Die „Gefährlichsten“ sind die Radpilger. Die erschrecken mich ja schon, wenn sie aus dem Nichts plötzlich und unerwartet an mir vorbeirauschen. Übrigens kümmern sich die fremden Männer um mich, erkundigen sich, ob alles in Ordnung ist. Danke!
Der Weg mäßigt sich sehr bald wieder und es geht weiter über breite Landwirtschaftswege. Die Sonne gibt heute kein bisschen nach. Sie ist erbarmungslos. Ich mache weniger für mich, sondern viel mehr für Ruddi immer wieder eine kurze Pause am Wegesrand und lasse ihn dann für ein paar Minuten in meinem Schatten liegen. Er trottet seit einiger Zeit wie in Trance hinter mir her. Die Hitze macht ihm schwer zu schaffen. Es wird höchste Zeit, dass wir unser Ziel erreichen. Schade, dass der Wald nicht größer war.
Die letzten zwei Kilometer bis Azofra verlaufen über eine Nebenstraße. Von Schatten immer noch keine Spur. Links und rechts gibt es nur Felder. Ruddi bereitet mir mittlerweile ernsthafte Sorgen. Er kann nicht mehr laufen. Hechelnd und mit Tränen in den Augen guckt er mich flehend an. Er will noch nicht einmal Wasser trinken. Was soll ich jetzt machen? Ich setze mich auf seine Decke, lege ihn - vor der Sonne geschützt — vor mich und rede auf ihn ein. Er liegt vollkommen erschöpft und regungslos da. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Hat er vielleicht einen Sonnenstich? Dann fällt mir ein, dass ich es mit Reiki versuchen könnte. Zehn Minuten halte ich meine Hände über ihn und beobachte, wie er sich langsam erholt. Nachdem er ein bisschen Wasser aufgenommen hat, gehen wir Meter für Meter in Zeitlupe weiter. Er bleibt ständig hinter mir, sagt keinen Ton.
Ich kann das nicht mehr mit ansehen und setze ihn in das Notfallnetz. Das ist keine gute Idee. Der Jakobsweg verläuft von Osten nach Westen, folglich sitzt er in der prallen Sonne und bekommt von der anderen Seite zusätzlich meine Körperwärme ab. Ich packe also den Rucksack aus, um seine Tasche rauszuholen und ihn darin zu tragen. Sofort klettert er hinein und legt sich unverzüglich hin. Ich räume meine Sachen wieder ein, schnüre mein Bündel und trage ihn über der Schulter. Mein Arm drückt die Tasche zusammen. Die Hitze staut sich darin. Das geht also auch nicht. Ich möchte weinen. Meine Kraft ist ebenfalls kurz vor dem Ende. Der Versuch, die Tasche hinten am Rucksack zu befestigen ist fehlgeschlagen. Ein zweiter Mensch wäre vonnöten, um sie festzumachen nachdem ich den Rucksack angezogen habe. Weit und breit ist niemand in Sicht. Einsamkeit kann einem auch zum Verhängnis werden.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als die sechs Kilo schwere Hundetasche in der Hand zu tragen und darauf zu achten, dass sie so weit wie möglich aufsteht, damit genügend Luftzirkulation stattfindet. Azofra ist schon zu sehen und doch so weit weg. Ich bin wirklich verzweifelt. Es ist wahrscheinlich nur ein Kilometer bis zum Ortseingang, aber ob ich den schaffe? Ich rufe mich zur Ordnung und versuche nicht zu denken, sondern einfach zu funktionieren. „Wenn Du musst, hast Du auch die Kraft dafür!“ höre ich meine Mutter sagen. „Du machst immer Sachen, ohne vorher darüber nachzudenken!“ schimpft mein Vater - und ich will das so nicht stehen lassen. Beide Aussagen geben mir Kraft.
Ungefähr auf halber Strecke will Ruddi wieder selber laufen. Ich bin überglücklich, fühle mich von ihm verstanden und gerettet. Sekunden später ruft Hermann an. Er hat in Azofra in der einzigen Herberge zwei Betten klargemacht. Das Hotel ist ausgebucht. Er hat sich wieder für mich erkundigt und letztendlich auch gesorgt. Ich bin glücklich und erleichtert. Als er hört, was bei uns gerade abgeht, macht er sich sofort auf den Weg, um uns zu helfen.