gleicher Tag (insgesamt 687,6 km gelaufen)
Vilachá (ca. 20 Einwohner), ca. 500 m üdM, Provinz Lugo
Privat, unterm Dach, 0 € (nada, nikkese, niente) inkl. Abendessen/Frühstück
In Vilachá habe ich von jetzt auf gleich das Gefühl, dass meine Füße keinen weiteren Kilometer mehr mitspielen. Mit jedem einzelnen Schritt in dieses Dörfchen hinein verlässt mich auch ein Stück meiner Kraft. Eigentlich will ich heute in Portomarin übernachten. Krieg ich das noch hin? Momentan könnte ich mir sogar vorstellen, mitten auf dem schmalen Weg in meinem Schlafsack zu übernachten. Meter für Meter schleppe ich mich weiter. Allein der Gedanke daran, ein schickes Hotel in dem großen Portomarin zu finden, hält mich noch auf den Beinen. Wie weit mag es denn wohl noch sein?
Ich spreche einen Mann an, der sich unter der geöffneten Motorhaube seines Autos zu schaffen macht. „Quantós kilómetros está a Portomarín (wie viele Kilometer sind es bis Portomarín)?“ Lachend wendet er sich mir zu und strahlt mich an: „Sólo dos millas (nur noch zwei Kilometer)!“ Seine ganze Aufmerksamkeit gilt mir und vor allem Ruddi. Nach wenigen Minuten höre ich englische und sogar deutsche Worte von ihm. Da fällt das Sich-Mitteilen gleich leichter. Ich zappele von einem Fuß auf den anderen, weil die stetige Belastung im Stehen zu sehr schmerzt. Der Señor nimmt das wahr. „Du solltest Dich ausruhen. Es ist nicht gut, wenn Du die Warnzeichen des Körpers ignorierst. Dann steigt die Unfallgefahr. Ich fahre Dich runter in die Stadt!“ sagt er und lässt seine Motorhaube schwungvoll runter klappen. Dankbar, aber wie immer entsetzt darüber, wie einer denken kann, ich würde mich fahren lassen, lehne ich das natürlich ab. Er macht mir klar, dass der Weg zwar kurz, aber ganz heftig steil bergab geht und er den Eindruck hat, dass ich das nicht mehr schaffe. Er ist selbst viermal den Camino gelaufen und weiß, wie es ist, wenn einen am Ende des Tages die Kräfte verlassen. Während des Gesprächs habe ich immer intensiver das Gefühl, mich mit einem „aktuellen“ Pilger zu unterhalten. Normalerweise frage ich einen Einheimischen bei einer kurzen Unterhaltung auf der Straße nicht nach seinem Namen, aber dieser Fall liegt anders.
Gordon ist 60 Jahre alt und ein witziger Typ. Er bringt mich problemlos immer wieder zum Lachen. Wir stehen so ungezwungen an sein Auto gelehnt, dass man meinen könnte, wir kennen uns bereits seit Jahren. Ich bitte ihn, für mich in Portomarin ein Zimmer zu reservieren. In diesem Moment kommen zwei Señoras vom Hof gegenüber zu uns und begrüßen mich genauso herzlich wie vor wenigen Minuten Gordon es getan hat. Eine der beiden Frauen arbeitet in einem Hotel in Portomarín und macht mir die entsetzliche Mitteilung, dass im ganzen Ort kein einziges Bett mehr frei ist. Wie bitte? Und jetzt? Dann muss ich heute noch mindestens zehn Kilometer zurücklegen und hoffen, dass sie mich in der Herberge in Gónzar mit Hund überhaupt nehmen. Unmöglich!
Gordon will mich retten und bietet mir tatsächlich an, bei ihm zu übernachten. Er hätte sowieso vor, nächstes Jahr eine Herberge zu eröffnen, dann wär ich eben sein erster und vorerst einziger Pilger- Gast. Mit ungläubigen Augen und völlig verunsichert sage ich: „Nein, das kann ich nicht machen. Wir kennen uns doch gar nicht. Was sagt denn Deine Frau zu dieser Idee?“ Er hat keine Frau. Er lebt allein auf diesem Hof und meint sein Angebot sehr ernst. Hilfesuchend wende ich mich den beiden Nachbarinnen zu. Die lachen unbekümmert und geben mir zu verstehen, dass ich bleiben solle.
Nach langem Zögern und Sich-zieren lasse ich mich zumindest mal darauf ein, dass er mir das Zimmer zeigt, in dem ich schlafen könnte. Die beiden Frauen gehen mit ins Haus. Was mich da erwartet, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Gordon wohnt in einer Ruine. Dieses ziemlich große Haus ist mindestens tausend Jahre alt. Die waagerecht-zweiteilige Eingangstür erinnert an einen Pferdestall. Der Lehmfußboden ist uneben, die Wände schief und die Ecken rund. Ich habe so ein Haus noch nie gesehen. Überall stehen Sachen rum, die eigentlich in Kellern, Garagen oder Scheunen aufbewahrt werden. Über eine schiefe steinerne Treppe gelangen wir ins obere Stockwerk. Bei jedem Schritt gibt der Boden nicht nur nach, sondern ächzt auch noch laut unter unserer Last. Ich habe Angst einzustürzen. Immerhin betreten wir nun den ersten Raum, der wenigsten annähernd Hinweise darauf gibt, dass hier überhaupt jemand wohnt. Sehr, sehr karg, mit wenigen zusammengewürfelten, uralten, schäbigen Möbeln bestückt, stellt sich Gordons Wohn-Schlaf- gemach dar. Alles ist überhäuft mit Büchern und Blättern, Kleidern und Schuhen. Ich trau mich gar nicht, genauer hinzusehen.
Von hier aus gelangen wir in ein riesiges Zimmer mit Spitzdach. Es ist im Gegensatz zum Rest des Hauses sehr übersichtlich. Ein übergroßes Bett und ein kleines Nachtschränkchen ergeben die Einrichtung. Die uralten Holzdielen singen bei der kleinsten Bewegung ein Lied aus längst vergessenen Zeiten. Ich bin fasziniert, von Gordons Freude darüber, mir helfen zu können. Rat- und ahnungslos wie ich aus dieser Nummer wieder rauskommen könnte, springt Ruddi mit Anlauf auf das Bett und schläft schon vor dem Aufschlag.
Empört will ich ihn runter scheuchen. Gordon stellt sich mir aber in den Weg: „Wenn Dein Hund sich hier sicher fühlt, was hält Dich dann davon ab, zu bleiben?“ Mir fallen die Krafttiere wieder ein, die mir heute Morgen schon gesagt haben, dass ich im Hier und Jetzt leben, Geben und Nehmen ins Gleichgewicht bringen soll, neue Erfahrungen und Situationen erleben werde. Ich begegne ausnahmslos Menschen die es gut mit mir meinen. So kommt es, dass ich als Pilger privat bei einem mir völlig unbekannten Mann in einem mehr als baufälligen Haus übernachte.
Als ich meinen Rucksack endlich vom Rücken auf die Holzdielen rutschen lasse, führt Gordon einen Freudentanz auf. Es ist fast so, als ob ich ihm aus der Patsche helfen würde und nicht umgekehrt. Den Señoras geht ebenfalls das Herz auf, angesichts des Vertrauens das ich ihnen allen entgegenbringe. Auf mein mittlerweile nicht mehr zu unterdrückendes Bedürfnis und Verlangen nach einer Toilette wird mir das Bad gezeigt, das genau so schief ist wie der Rest des Hauses. Gordon hat blitzschnell ein „frisches“ Handtuch parat und bietet mir sofort an, die Dusche zu benutzen. Ich soll mich einfach wie zu Hause fühlen.
Gordons große Küche ist ein Museumsstück. Sie stammt so ungefähr aus dem Jahr 1890. Schade nur, dass hier ein Junggeselle haust. Alles steht voll mit Geschirr und Krempel. Der große lange Tisch hat schwer an Sachen zu tragen, die ich nicht aufzählen kann und will. Bei einem Tee werde ich gewahr, dass Gordon halbjährlich zwischen Südafrika und Vilachá pendelt. Er war vor seiner Pensionierung Teilhaber einer Porzellanfabrik, hat vier Kinder und ist stolzer Opa von zwei Enkelkindern. Nebenbei erwähnt er, dass er ein Buch über den Camino Francés geschrieben. Gut gelaunt und temperamentvoll zeigt er mir Fotos zu allen Themen, die wir anschneiden. Ich merke ihm deutlich an, dass er selten Gesellschaft hat und meine gerade voll auskostet. Das Buch, das er geschrieben hat, holt er aber nicht freiwillig raus. Ich bitte ihn darum, einen Blick hineinwerfen zu dürfen. Sofort springt er auf und ist begeistert über mein Interesse an seiner Arbeit. Ich bin tief beeindruckt. Noch nie habe ich persönlich jemanden kennengelernt, der ein Buch geschrieben hat. Ich möchte es ihm unbedingt abkaufen, aber dieses Exemplar ist leider das letzte, das es noch gibt. Er ist jedoch gerade dabei, sein zweites Buch über den Camino zu schreiben. Ach, darum liegen oben so viele Bücher und Papier rum! Diesmal will er den Schwerpunkt auf die persönlichen Erlebnisse legen, weniger auf kulturelle Informationen, Kilometerangaben, Wegbeschaffenheit und Herbergs-Beurteilungen. Genau in diesem Moment entsteht in mir die ernsthafte Idee, auch meine Erlebnisse niederzuschreiben.
Diesen Hof hier in Vilachá, der 20 Jahre lang leer gestanden hat, will er zu einer schmucken Pilger-Herberge herausputzen. Das ist eine Lebensaufgabe. Das ganze Gemäuer muss zuerst einmal von Grund auf restauriert und saniert werden. Danach kann er dann mal an den Innenausbau und die Einrichtung denken. Die meiste Zeit arbeitet er alleine daran und kommt folglich nur langsam voran.
Damit ich nicht verhungere, kocht er mir persönlich Spaghetti mit Hackfleisch-Bohnen-Soße. Während er am Herd steht, mache ich unter seinem wilden Protest als Gegenleistung für seine unglaubliche Gastfreundschaft den längst fälligen Junggesellen-Abwasch. Wer viel arbeitet, darf zwischendurch auch mal einen Schnaps trinken. Wir haben eine Menge Spaß, albern rum. Einen Lachanfall vom allerfeinsten bekomme ich, als er einige Spaghetti aus dem kochenden Wasser fischt und an die gegenüberliegende Wand schmeißt. Das ist seine Art zu testen, ob die Nudeln gar sind. „Wenn sie kleben bleiben, sind sie perfekt!“ Er meint, das wüsste jede Hausfrau. Also, ich bin Nudelfreak, habe aber im Leben noch keine an die Wand geworfen. Oh Mann, wo bin ich hier nur gelandet? Bei einem Südafrikaner, der in Galicien aus einer Ruine eine Herberge macht, Spaghetti an die Wand wirft und fremde Frauen mit Hund im Schlepptau bei sich übernachten lässt.
Nachdem ich einen dritten Schnaps ablehne, gibt es zum Essen Rotwein. Ich muss sagen, wider Erwarten schmeckt es mir hervorragend und ich bekomme noch einen Nachschlag. Wir sitzen in seiner großen Küche wie alte Freunde, die sich seit zehn Jahren nicht gesehen haben. Die beiden Nachbarinnen kommen auch noch mal kurz vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sie erheben wie abgesprochen gleichzeitig ihre Zeigefinger, ich vernehme ein mahnendes „GORDON!“ als sie uns so albern vorfinden und nehmen kopfschüttelnd die Rotweinflasche aus unserer Reichweite. Einen Moment lang fühlen wir uns, wie von den Eltern erwischte Teenager.
Es ist schon fast dunkel. Gordon will mir aber unbedingt noch das „ganze“ Dorf zeigen. Find ich gut, wann bekomme ich das wohl auf dem Jakobsweg nochmal geboten? Der Schnaps und Wein haben meine Füße geheilt. Ich kann wieder laufen! Naja, weit ist es ja nicht. Vilachá ist winzig klein. Einer der drei Nachbarn steht vor seinem Kuhstall und ist mehr als erstaunt, als er Gordon mit einer wildfremden Frau entdeckt. Enthusiastisch verfällt Gordon ins Spanische. Ich beschäftige mich derweil mit dem freundlichen Hofhund, dessen Kopf ich streicheln kann, ohne mich auch nur einen Zentimeter bücken zu müssen. Ruddi springt andauernd an ihm hoch, um eine standesgemäße hündische Begegnung hinzukriegen. Der große lässt sich das souverän gefallen und entscheidet sich nach der üblichen Zeremonie dafür, meinem Schnurzel das Dorf aus Hundesicht zu zeigen. Ich lass ihn ziehen.
Der sympathische Nachbar zeigt mir unterdessen stolz seine fünf Kühe, die müde im Stall stehen. Schon wieder finde ich mich unter Rindern wieder und diesmal laufe ich nicht Gefahr, dass sie auf mich drauf fallen oder mich umrennen. Ich kann sie gefahrlos streicheln und wir genießen es. Die Kühe nicht weniger als ich. Ich kenne jetzt das ganze Dorf inklusive seiner tierischen Bewohner. Als wir uns von dem Bauer verabschieden legt Gordon voller Stolz seinen Arm um meine Schultern und erntet einen anerkennenden Blick von ihm. Ich lass ihm die Freude.
Einen weiteren Schnaps oder Wein lehne ich ab. Ich will jetzt sofort ins Bett. Der Schlaf droht mich plötzlich im Stehen zu überwältigen. „Buenas noches, Gordon!“ Ich bin gerade dabei meine Schuhe auszuziehen, als er in „mein“ Zimmer kommt, mich ohne Vorwarnung und für meinen Geschmack viel zu intensiv, umarmt. Ich stoße ihn entrüstet mit aller Kraft zurück und zeige mit dem Zeigefinger in Richtung Tür: „Geh sofort raus! Gute Nacht!“ Hätte er auch nur einen Moment gezögert, wäre ich durch die dunkle Nacht nach Portomarín gelaufen. Ich finde es ein bisschen schade, dass der Abend so zu Ende geht.
Ich höre keinen Mucks mehr von meinem Verehrer. Vollständig angezogen, ungeduscht und jederzeit fluchtbereit lege ich mich ins Bett. Es dauert eine Weile bis ich mich wieder beruhigt habe. An Einschlafen ist erst mal nicht zu denken. Ich versuche mich in seine Lage zu versetzen und finde auch prompt eine Entschuldigung für ihn. Er hat sich den ganzen Abend rührend um mich gekümmert. Wir hatten wohl beide so viel Spaß wie lange nicht mehr. Er hatte in dieser Ruine wahrscheinlich noch nie Übernachtungsbesuch, ist ein wenig übers Ziel hinausgeschossen und hat blöderweise ungeschickt sein Interesse an mir bekundet. „Mann“ kann es ja mal versuchen! Als ich ihn aber barsch zurückgewiesen habe, hat er sich auch sofort wieder im Griff gehabt. Wie ich ihn einschätze, bereut er sein Verhalten längst. Ich will ihm das verzeihen.
Das Krafttier Pferd hat mir heute Morgen schon gesagt, dass ich neuen Situationen begegnen werde, die mich wachsen und reifen lassen. Ja, so ist es wohl! Klare Grenzen abstecken, daran wächst man immer.
Irgendwas ist mit meinem rechten kleinen Zeh nicht in Ordnung. Das drückt und tut ziemlich weh. Hab ich da etwa eine Blase? Tatsächlich! Mir wird ganz heiß vor Erstaunen. Das Pferd hat mir heute Vormittag in Form von Gedanken mitgeteilt: „Achte auf Deine Füße!“ Bis ins Detail hat es mir sogar gezeigt und „gesagt“, welcher Zeh an welchem Fuß besonders anfällig ist. Ich habe mal wieder ein Fazit des Tages: Alles - Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Himmel und Erde - ist EINS. Alles kommuniziert miteinander. Wir Menschen haben nur verlernt, hinzuhören.