Dienstag, 6. Mai 2008
El Burgo Ranero (273 Einwohner), 878 m üdM, Provinz León
22. Etappe bis Puente de Villarente, 25,2 km
Heute werde ich zärtlich von vorbeifahrenden LKW geweckt. Da wir uns in einem kleinen idyllischen Dörfchen befinden und diese Pension nicht an der Hauptstraße liegt, wird sich hier in gemäßigtem Tempo fortbewegt und folglich relativ geräuscharm. Es dauert einen Moment bis ich richtig zu mir komme und mich sortiert habe. Ich habe außergewöhnlich fest geschlafen und bin etwas verunsichert, was die Tageszeit angeht. Der Himmel ist strahlendblau. Draußen herrscht schon rege Betriebsamkeit. Auf dem Flur hingegen ist nicht ganz so viel los, aber immerhin bin ich nicht die Letzte. Und solange noch andere Pilger in einer Pension sind, kann es noch nicht Mittag sein.
Das wäre fatal, denn die heutige Etappe wird hart, lang und heiß. Wir befinden uns für die nächsten zirka 40 Kilometer im “páramo”, im Ödland. Ich habe vor, bis Puente de Villarente zu laufen. Insgesamt wären das dann 25,2 Kilometer. Mal sehen was der Tag so bringt und wie weit meine Füße mich tragen.
Den Blick auf die Uhr mache ich um kurz nach sieben. Puh, das ist nochmal gutgegangen. Beruhigt und gelassen mache ich mich am Fußende meines Bettes am Waschbecken zu schaffen. Tja, Anziehen ist erst mal nicht. Oh Mann, wo mögen meine sieben (oder acht) Sachen sein? Um das zu erfahren, bleibt mir nichts anderes übrig, als zunächst die Wirtin zu kontaktieren. Bin mal gespannt, wo ich sie auftreibe. Die hat doch jetzt alle Hände voll zu tun! Es ist Frühstückszeit!
Fest entschlossen, sie zu finden und dann auch noch mit meiner Wäsche zu belästigen, betrete ich den Flur. Meinem Zimmer gegenüber steht eine Kommode. Darf ich meinen Augen trauen? Auf diesem Möbel liegen doch tatsächlich - getrocknet und fein säuberlich zusammengefaltet - meine Pilgerklamotten. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Diese Wirtin muss ein Engel sein. Das muss ich ihr gleich noch sagen, falls sie es selbst noch nicht gemerkt haben sollte.
Der Morgen beginnt wie der Abend geendet hat. Meine vier Österreicher sitzen am gleichen Tisch wie gestern und winken mich fröhlich ran. Der freie Stuhl ist meiner. Den Tellern nach zu urteilen sitzen sie schon länger hier, haben auch schon aufgehört zu essen. Mir zuliebe trinken sie aber noch einen Kaffee, bevor sie losmarschieren. Wir sind alle fünf gespannt, wann und wo wir uns das nächste Mal wiedersehen. “Buen Camino!”
Nicht ohne mich persönlich von meinem “Engel” zu verabschieden und ihr herzlich für die himmlischen Taten an mir und meiner Wäsche zu danken, verlasse ich El Burgo Ranero so gegen halb neun. Nun liegt der gleichförmigste und zugleich längste Abschnitt von dreizehn Kilometern vor mir. In eintönigem Gleichmaß geht es auf den ständig zurückweichenden Horizont zu. Die tausende von Bäumen, die am Wegesrand gepflanzt wurden, sind noch nicht groß genug, um Schatten zu spenden. Wenigstens verläuft neben der markierten Route eine Bahnlinie, so können sich meine Augen ab und zu mal etwas Abwechslung gönnen.
Bevor ich weiter in Negativität abrutsche, suche und finde ich einen positiven Gedanken: Der Weg ist schön einfach. Ohne aufzupassen kann ich die ganze Zeit einen Fuß vor den anderen setzen. Ich nehme das als Entspannungs- und Wellness-Wandern. Den Kiesweg betrete ich erst gar nicht, gehe gleich auf die Straße. Ich lasse einfach die rhythmische Gleichmäßigkeit meines Schrittes durch meinen ganzen Körper fließen. Das kann, wenn ich will, eine Meditation werden. Einfach gar nicht denken, ist doch auch mal was, oder? Mal sehen, was dabei rauskommt.
Um Viertel vor eins erreichen Ruddi und ich - fix und fertig von der Hitze, mental aber komplett entspannt - Reliegos. Ein Dörfchen mit knapp 300 Einwohnern. Es sieht ziemlich verlassen und arm aus. Ich fühle mich gerade wie zwei in einem. Einerseits habe ich eine unglaubliche innere Ruhe erlangt, andererseits ist mein Bewegungsapparat völlig im Eimer. Alles, wirklich ALLES tut weh! Da geht gar nichts mehr. Es ist brüllend heiß. Meine Wasserflasche haben Ruddi und ich bereits vor zwei Kilometern gekillt. Ich bin heilfroh, dass “Schnurzel” so gut durchgehalten hat. Zwischendurch habe ich ihn - zwar gegen seinen Willen, aber mit guten Worten - immer wieder nass gemacht, damit sich sein Körper nicht so aufheizt. Ich bin auch nass - allerdings in Schweiß gebadet. Das Wasser hat nicht für uns beide gereicht.
Ich brauche sofort und auf der Stelle einen Stuhl, lieber noch eine Pritsche und einen Tropf, der die verlorene Flüssigkeit direkt in meinen flach hingelegten Körper hineinlaufen lässt. Ein Stündchen schlafen wäre schön! Dann ginge es bestimmt wieder munter weiter!
Keine Menschenseele ist zu sehen, als wir uns durch die Gassen dieses Kaffs schleppen. Wo ist die Bar? Es muss eine geben! Mein Reiseführer lügt nicht! Wo ist sie denn nur? Sie ist doch meine persönliche rettende Oase hier im Páramo. Plötzlich höre ich Gemurmel von mehreren Menschen. Ich zwinge mich Schritt für Schritt weiter und komme diesem himmlischen Geräusch immer näher. Und da ist die Rettung: Eine Bar! Ein paar Tische vor einer Lehmhütte! Zirka acht Menschen sitzen hier und lassen kühle Getränke ihre Kehlen hinunterlaufen. Ich kenne niemanden, aber sie winken mir zu - wie es nur Pilger tun - und sind total ausgelassen. „Die waren schon am Tropf,” denke ich.
„Uns ging es allen so, als wir hier ankamen. Geh mal um die Ecke in die Bar rein und hol Dir was Kaltes. Dann fühlst Du Dich gleich wieder besser.” Eine der Frauen fackelt nicht lange, springt voller Elan aus ihrem Plastikstuhl hakt sich bei mir ein, als ob wir alte Freunde wären, und führt mich an die Tränke. Auf den geschätzten 15 Metern sagt sie mir auf astreinem Deutsch, dass sie Liz heißt und aus Norwegen kommt. Sie kennt mich. “Wieso?” “Ich kenne Hermann und er hat ganz viel von euren gemeinsamen Etappen erzählt. Da Du die einzige Frau mit einem kleinen schwarzen Hund bist, kannst ja wohl auch nur Du die Birgit mit dem Ruddi sein.” Sie ist ganz aus dem Häuschen, mich persönlich kennenzulernen. Ich freue mich aber auch sehr darüber, dass sie Hermann kennt. Obwohl man sich noch nie gesehen hat, ist man sich nicht mehr fremd, wenn es jemanden gibt, den beide Seiten kennen. “Ich habe Dich gestern in Sahagún mit einer Frau beim Abendessen gesehen. Da kam doch Hermann zu Dir an den Tisch und hat Dich begrüßt. Ich saß mit an seinem Tisch”, sagt Liz ganz begeistert. Es fasziniert mich immer wieder, wie die Dinge so zusammenhängen.
Diese Bar, die wir jetzt betreten, ist so karg, wie ich es noch nie gesehen habe. Karg ist noch untertrieben, sie ist völlig baufällig und heruntergekommen. Hier drinnen sitzt eine Frau einsam an einem der Tische und an der Bar bestellen drei oder vier Pilger ihre Getränke bei einem gelangweilt und müde wirkenden Wirt, der aussieht, als gehörte er in einen Western-Saloon mit allem was dazu gehört. Ja, das trifft es ganz gut: ein uralter, völlig verwahrloster Saloon aus längst vergangenen Zeiten - es fehlen nur noch die rollenden Steppenbüsche vor der Tür.
Es läuft eine Platte - es kann nur eine Platte sein! - von Elvis. Der hatte ja, wie alle wissen, echt Rhythmus im Blut. Die Musik ist laut. Liz und ich gucken uns an, lachen, nicken uns zu und los geht’s. Wild und hemmungslos tanzen wir nach den, der ganzen Welt bekannten, Hits des Kings. Wir vergessen alles um uns herum. Nichts tut mehr weh. Der ganze Körper spielt auf einmal wieder mit. Der Cowboy dreht seine alte Anlage bis zum Anschlag auf - YEE HA! - und feuert uns im Takt klatschend laut lachend an. Er fliegt hinter seinem Tresen hin und her, macht hier einen Handgriff und da einen, wie es einer tut, der 100 Gäste auf einmal zu bewirten hat. Ja, ja! Die Energien verbinden sich mal wieder miteinander. Immer mehr Pilger kommen rein, um zu sehen, was hier passiert und bleiben staunend stehen.
Völlig außer Atem bestellen wir nach ungefähr zehn Minuten das kalte Getränk und Liz lacht: „Als Du eben auf uns zugekrochen kamst, dachte ich, Du würdest jeden Moment aus den Latschen kippen. Und dann machst Du so was. Ich glaub es ja wohl nicht!” Ich auch nicht. Ich lasse Liz wieder nach draußen zu ihren Freunden gehen und bleibe im kühlen inneren des Saloons. Ruddi ist völlig irritiert und möchte ganz gegen seine Pilger-Hund-Gewohnheit vorsichtshalber auf meinem Schoß ein Schläfchen halten. Na, ich bin ja gar nicht so! Er strahlt zwar eine Hitze aus, wie ein Lagerfeuer am Wigwam, aber wenn er’s braucht, dann kriegt er’s auch.
Genauso schnell wie die Partystimmung eben in mir aufkeimte, ist sie wieder verschwunden. Das war kurz, aber heftig und sehr wirkungsvoll. So gut hätte mir eine Tropfinfusion auf einer Pritsche nicht helfen können. Und doch staune ich nochmal für mich ganz alleine und in mich hinein: „Also, dass ich - völlig fertig mit der Welt mittags in einem gottverlassenen Dorf im leónesischen Spanien in einer der letzten Bars tanze...”
Eine Dreiviertelstunde später mache ich mich unglaublich gestärkt wieder auf den Meditationsweg, aber diesmal sind es nur sechs
Kilometer bis zum nächsten Ort, Mansilla de las Mulas. Die Bahnstrecke wird mir fehlen, die hat kurz vor Reliegos eine scharfe Linkskurve gemacht. „Sechs Kilometer, die machen wir doch auf einem Bein, oder Ruddi?“ Er antwortet nicht, sondern schnuppert kopfschüttelnd an der Hauswand rum.
Ungefähr 20 Meter weiter, immer schön dem gelben Camino-Pfeil folgend, biege ich um die Häuserecke und staune nicht schlecht. Ich befinde mich direkt vor einem - nach den Eindrücken der letzten Stunde - vornehmen Café. Das ist eine ganz andere Welt. Etwas oder jemand muss mich weggebeamt haben. Der ganze Straßenzug passt nicht zu dem, was ich bis vor zwei Sekunden gesehen habe. Eine frisch polierte, neue Luxuskarosse parkt vor dem Haus. Es gibt einen Bürgersteig - der ist sogar heruntergeklappt und frisch gefegt!
An einem rot lackierten, sauberen Tisch sitzt eine junge Frau mit einem kleinen Hund auf dem Schoß. Das freut meinen Schnurzel ganz besonders. Er läuft direkt über Los - und muss drei Felder zurück, denn der fremde Mitspieler ist ihm gar nicht gut gesonnen. Der knurrt und schnauzt ihn hündisch warnend an: „Kommst Du mir näher, beiß ich Dir die Nase ab, mein Freund!“ Die Frau findet das witzig und meint: „Der tut nur so, da passiert nichts weiter. Helmut ist halt ne kleine Giftnudel.“
Ich erfahre von ihr, dass sie auch pilgert. Ich staune, weil ich sie noch nie gesehen oder von ihr gehört habe. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man ein Star ist, wenn man mit Hund auf dem Jakobsweg unterwegs ist. Also irgendwie sieht sie anders aus, als der herkömmliche Pilger. So frisch gewaschen, obwohl es schon Nachmittag ist. So nach Parfüm riechend, obwohl sich ein Pilger jedes Gramm mehr im Rucksack erspart. So frisch gebügelt, obwohl es so heiß ist, dass die Klamotten beim Laufen Falten kriegen. So relaxt, obwohl es auch für sie dreizehn lange Kilometer durch die Mittagssonne gewesen sein müssen. Und der Hund: So kratzbürstig und aufgedreht, obwohl er viel zu müde für solche Eskapaden sein dürfte. Ich frage genauer nach und komme schnell dahinter, dass sie fast immer mit dem Zug oder Bus - manchmal sogar mit einem Taxi - fährt. Sie läuft nur ab und zu mal den einen oder anderen halben Kilometer.
Wenn es bergauf geht, kann sie nicht. Bergab ist für ihren Hund Helmut zu gefährlich. Wenn es nass ist, geht die Frisur kaputt und wenn es windig ist, wird’s sowieso anstrengend. Steine tun den Füßen nicht gut. Asphalt heizt sich zu sehr auf. Im Feld sind keine Bäume, die Sonne aber doch. Im Wald, da sind die Jäger... Okay, das hat nicht sie gesagt, sondern das ist meine Interpretation... Nein, ich bin nicht gemein! Ich versuche nur herauszufinden, ab wann man sich Pilger nennen darf. Ach ja, jeder macht den Weg auf seine Weise! Jahaaa!! Ist ja schon gut! Ich finde es erstaunlich, aber auch amüsant.
So, jetzt aber! Auf geht’s! Die Sonne scheint weiter. Wir haben frisches Wasser. Die Landschaft bleibt wie sie ist. Ruddi ist froh, dass er ohne Helmut unterwegs ist. Ich bin gut drauf. Und zack... Schon sind wir in Mansilla de las Mulas. Na gut: zwei, drei Stunden später.
Es gibt fast 1800 Einwohner, Herbergen, Bars, Pensionen, Hotels, Supermärkte und Apotheken. Alles was das Herz begehrt. Meins will momentan aber lediglich einen Café con leche - ich hatte heute erst einen. Bevor ich die City erreiche, betrete ich eine Gaststätte, in der ich mal wieder mit den Wirtsleuten alleine bin. Sie haben die Küchentür weit offen stehen und ich sehe, dass sie gerade beim Essen sind. Sofort kommt ein junger Mann, vermutlich der Sohn, und fragt nach meinen Wünschen. Auch hier bekomme ich einen besonders guten Milchkaffee. Hm, lecker!
Ich sitze an einem großen Fenster zu einer ruhigen Straße raus und habe einen guten Blick auf die Kirche. Auf der Kirchturmspitze gibt es zwei Storchennester. Die Vögel sind damit beschäftigt, die Nester weiter auszubauen und fliegen immer wieder weg, um nach Baumaterial zu suchen. Es ist schön, ihnen dabei zuzusehen. Das sind schon richtig gute Organisationstalente, diese Störche. Sie suchen sich eine schöne Stelle, finden in der Natur alles, was sie für ihr neues Zuhause brauchen und arbeiten dann Hand in Hand bis alles bereit ist, um gemeinsam Kinder zu bekommen und großzuziehen. Es handelt sich zwar um Vögel, aber trotzdem meine ich, eine Liebe zwischen ihnen zu spüren. Ach ja! Dieses Naturschauspiel macht mich ein bisschen sentimental...
Liefe es doch bei den Menschen auch so leicht und beschwingt ab. Aber wenn wir eine Familie gründen wollen, fangen wir ja zunächst einmal damit an, eine Bank zu finden, die unser zukünftiges Heim finanziert und wenn die gefunden ist, geht der Stress erst richtig los. Architekt, Baufirma, Zulieferer, nicht geplante Rechnungen, schlecht- Wetter-Phasen, Meinungsverschiedenheiten bei der Inneneinrichtung und so weiter und so fort. Und wenn das Haus dann fertig ist, wollen viele gar keine Kinder mehr, weil sie nicht mehr wissen, ob sie füreinander geschaffen sind. Gott sei Dank, läuft es nicht immer so - aber manchmal eben doch. Gewissermaßen ist auch das amüsant. Ist halt auch eine Möglichkeit herauszufinden, wie groß die Liebe ist.
Halb vier! Sechs Kilometer liegen noch vor uns. Ab jetzt führt der Camino an der Nationalstraße entlang. Das heißt: Viele Autos, viel Lärm, viel Staub. Egal, ich freu mich trotzdem auf den letzten Etappenabschnitt für heute und mache mich munter auf den Weg.
In der City gibt es vier oder fünf Bars, die auch draußen servieren. Hier ist richtig was los. Jede Menge Leute sind unterwegs. Ein Misch-Masch von Pilgern und Einheimischen tummelt sich in den Gassen. Herrlich! Immer wieder erkenne ich jemanden, den ich irgendwann einmal auf dem langen Weg von Saint Jean Pied de Port bis hierhin getroffen habe oder ich werde von den anderen wiedererkannt. Und die Freude ist immer so grandios. So viel Herzlichkeit, obwohl man sich nur in irgendeiner Bar mal kurz unterhalten hat. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es ist einfach zu schön. Wir stellen uns gegenseitig ein paar Fragen und freuen uns darüber, dass wir mit unseren Zweifeln, Schmerzen, kalten Duschen, Freudentänzen und Café con leche-Süchten nicht alleine sind.