Montag, 19. Mai 2008
Castañeda (ca. 50 Einw.), ca. 400 m üdM, Provinz La Coruña
35. Etappe bis Rúa, 24,2 km
Obwohl ich mit offenem Fenster direkt an der Nationalstraße übernachtet habe, war es erstaunlich ruhig. Im dösigen Zustand brauche ich einen Moment, um die Wochentage zu sortieren. Klar! Heute ist Montag. Deswegen sind gestern Abend nur wenige Autos vorbeigerauscht und ich konnte außergewöhnlich fest schlafen. Ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich mein schönes Zimmer und warmes Bett schon verlassen will. Freu ich mich darüber, dass ich das vorletzte Mal eine Tagesetappe auf dem Jakobsweg antrete? Wie sieht Ruddi das eigentlich? Sicher ist, dass ich meine Familie sehr vermisse. Kann ich ab Samstag wieder ganz normal meiner Arbeit in der Sportredaktion nachgehen? Ich werde es erleben, wie es sich ohne Rucksack auf dem Rücken anfühlt.
Das erste, was ich wahrnehme, ist, dass die Sonne scheint. Welch seltener Anblick in Galicien! Ein Blick aus dem weit geöffneten Fenster versetzt mich regelrecht in Euphorie. Der Himmel ist strahlend blau, mit wenigen schneeweißen Wolken. Es ist ein malerischer, vielversprechender Morgen. Ich muss weg! Katzenwäsche, Anziehen, Ruddi’s Frühstück hinstellen, Handy und Reiseführer in das obere Rucksackfach legen, Wasserflasche ins Außennetz stellen, Regenponcho ins separate untere Rucksackfach legen, Perritos Bett einpacken, Wassernapf füllen und in das Notfallnetz stecken, Schuhe anziehen, Feierabend-Sandalen zuunterst einpacken, Wäsche drauf... Vollbremsung! Moment mal, wo ist denn meine Wäsche? Ach ja! Die hatte ja einen Wellness-Abend mit allem Drum und Dran bei der Vermieterin! Dass das die ganze Nacht geht, war mir nicht klar. Mein Kopfkino hat geöffnet: Hoffentlich ist die Señora zuhause und nicht beim Großeinkauf. Wer weiß, wann sie zurückkommt! Jetzt steck ich hier fest! Das fand ich doof. Ich muss weg! Die Sonne scheint! Und ich habe keine Ahnung, wie lange das anhält.
Bevor mir meine Fantasie ein Schnippchen schlägt, mach ich mich lieber auf die Suche nach der Frau oder meiner Wäsche. Aufgeregt steige ich die breite Treppe hinunter. Alles still hier unten. Die Eingangs- und Terrassentüren sind fest verschlossen. Ich werfe vorsichtig einen Blick in die Küche. Gott sei Dank! Ihr Mann sitzt gemütlich bei einer Tasse Kaffee über der Tageszeitung. Es dauert eine Weile, bis er versteht, was ich überhaupt von ihm will. Der Señor hat jedoch keine Ahnung, wo seine Frau meine Wäsche hingelegt haben könnte. Er weiß noch nicht mal, wo seine Frau ist. Na super! Bedröppelt will ich Ruddi runterholen und zunächst einmal Frühstücken. Selbstgespräch: „Ja, ich weiß! Ist doch eigentlich gar nicht so schlimm! Mir ist es aber lieber, wenn ich nach dem Frühstück sofort und ohne Umwege meine Etappe beginnen kann.... Ja! Ist ja gut, ich bin flexibel und geschmeidig!“ Ganz langsam beruhige ich mich wieder, gebe mich der Situation hin. Und siehe da! Auf einem Stuhl liegt fein säuberlich zusammengelegt und frisch duftend mein großer Wäschestapel. Wie konnte ich auch nur einen Moment daran zweifeln, dass die herzensgute Wirtin unbedacht handeln könnte!
Startklar begebe ich mich in den Comedor und staune über das reichhaltige Frühstück. Zusammen mit meinen Pilgerkollegen von gestern Abend lasse ich es mir so richtig schmecken. Es gibt von allem bis zum Abwinken. Gerade als ich das Haus verlasse, bekomme ich noch die Gelegenheit mich bei der besten Hospitalera des gesamten Caminos zu bedanken. Ihre Augen strahlen vor Lebensfreude und sie schenkt mir eine mütterliche Umarmung. „Gracias, por todo!“ „Buen camino!“
Nach ein oder zwei steil ansteigenden Kilometern auf dem Randstreifen der Nationalstraße, die jetzt sehr stark befahren ist, stoße ich erleichtert wieder auf den offiziellen Weg. Bis Arzúa geht es ständig kurz aber heftig auf und ab. Ein paar Mal muss die Nationalstraße überquert werden.
Hinter Arzúa geht es auf Waldwegen weiter. Ich atme tief durch und genieße die frische Luft und Stille in der Natur. Ruddi läuft mal vor und mal hinter mir. Das kann er sich hier locker erlauben. Als er mich mal wieder überholt, bekomme ich einen Riesenschreck. Wie sieht der denn aus? Es ist nur ein Bruchteil einer Sekunde, aber er kommt mir mutiert und völlig verwahrlost vor. Die Ohren hängen so komisch runter! Was ist passiert? Hatte er eine Begegnung mit einem wilden Tier? Und plötzlich sehe ich zwei Hunde! Ruddi beschnuppert den Mutanten interessiert. Das einzige was er mit Schnurzel gemeinsam hat, ist das schwarze Fell. Er ist deutlich größer als meiner. Außerdem handelt es sich um eine Hündin. Ihr Bauch und ihre Zitzen hängen schlapp herunter. Sie muss vor kurzem Junge bekommen haben. Ich schau mich um, kann aber keine Hundewelpen entdecken oder hören. Von jetzt an läuft die Schwarze neben mir her, als gehörten wir seit Jahren schon zusammen. Sie macht nichts, sie beschnuppert mich noch nicht einmal, sie läuft einfach nur brav und lässig bei Fuß. Ruddi findet das absolut in Ordnung, normal eben. Ich denke mir nichts dabei. Die wird schon gleich wieder umkehren. Sie hat ja schließlich ein paar Babies zu versorgen.
Einige Pilger wundern sich darüber, dass ich gleich mit zwei Hunden auf dem Jakobsweg unterwegs bin. Manche schütteln sogar verständnislos den Kopf. Den ein oder anderen frage ich, was ich tun könnte, um einen zugelaufenen Perro wieder loszuwerden. Sie haben gute Tipps für mich. Ich soll das Tier mit Gewalt verjagen, Steine nach ihm werfen, treten oder heftig erschrecken. Entsetzt über diese Herzlosigkeit und ungläubig, das überhaupt gehört zu haben, trotten wir weiter zusammen durch den Wald. Meine neue Begleiterin denkt gar nicht daran, zurückzulaufen. Ich werde echt unruhig. Von Entspannung keine Spur mehr.
Nach ungefähr vier Kilometern komme ich an einer gemütlichen Bar vorbei. Ich trau mich aber nicht, mit zwei Hunden dort einzukehren. Was weiß denn ich, wie sich die Hundemama so benimmt! Am Ende legt sie noch einen Haufen unter den Tisch oder benimmt sich sonst wie daneben. Das muss ich mir nicht geben. So verzichte ich auf meinen Café con leche.
Wir bleiben noch weitere vier Kilometer zusammen und die Belastung wird für mich immer größer. Ich will das nicht mehr. Ich fühle mich nach den letzten gemeinsamen Stunden fast schon verantwortlich für diesen fremden Hund. Immer noch im Wald, erreiche ich die nächste Bar. Wie schön! Mitten in der Natur stehen unter großen Bäumen gemütliche Stühle an Tischen. Es haben sich sehr viele Pilger eingefunden. Ich bin es ja gewöhnt, schon allein wegen Ruddi aufzufallen. Aber für eine Pilgerin mit zwei Hunden, holen die Leute erstrecht ihre Kameras raus. Ruddi legt sich lässig ins Gras, die „Neue“ jedoch hat nichts Besseres zu tun, als die anderen Gäste zu belästigen. Ich stelle deutlich klar, dass dieser Hund nicht zu mir gehört.
Das wird mir jetzt zu blöd. Ich beschließe, den Wirt dieser Bar um Hilfe zu bitten. Ich lasse die Hündin draußen und geh mit Ruddi in den Gastraum. Temperamentvoll mit Händen und Füßen mache ich dem freundlichen Señor hinter der Theke klar, worum es geht. Er lächelt und gibt mir zu verstehen, dass er das für mich erledigt. Sofort kommt er hinter der Theke vor und will an mir vorbei nach draußen, um den Hund... ja, um was zu tun? Ich halte ihn auf, lege meine Hand auf seinen Arm und flehe ihn an, dem armen Tier kein Haar zu krümmen. Freundlich lächelnd beruhigt er mich, er wüsste schon, was zu tun ist. Das wäre nicht der erste Hund, den er vertreibt. Ich nehme ihm das Versprechen ab, dass er bestimmt aber herzlich mit dem Tier umgeht.
Nach wenigen Minuten kommt er zurück, lacht, zuckt mit den Schultern und sagt: „No hay perro (da ist kein Hund)!“ Ich vermute, dass einer der Gäste ihn bereits weggescheucht hat. Vorsichtshalber bleibe ich noch auf einen Kaffee und... ja! Ein Stück SANTIAGO TORTE! Die wurde im Moment frisch von der Wirtsfrau angeliefert. Das ist doch mal wieder ein Ding! Alles ist immer für irgendwas gut. Ohne den zugelaufenen Hund wäre ich im Außenbereich geblieben und hätte den Kuchen verpasst. Das war mir die Anstrengung wert.
Nach fast einer Stunde trau ich mich nach draußen und sehe mich verstohlen nach der Hündin um. Sie ist weg. Wieder im Wald unterwegs schau ich mich noch einige Male um. Sie ist wirklich weg. Ich kann wieder durchatmen und um viele Zentner leichter meinen Weg gehen.
Es liegen noch ungefähr zehn Kilometer vor mir. Im Wechsel zwischen Landstraße und Waldwegen laufe ich über sanfte Hügel. Die Nationalstraße ist in der Nähe. Sie verläuft deutlich höher als der Pilgerweg und versperrt die Aussicht. Ab und zu muss ich sie kreuzen oder durch Unterführungen gehen. Die Hündin ist tatsächlich zurückgelaufen - die wird gewusst haben, dass dieses Stück Weg nicht so romantisch ist.
Kurz vor Santa Irene treffe ich auf die vier Österreicher. Die Freude ist natürlich unbändig. Wir gehen zusammen bis zur nächsten Bar. Ich glaube, alle Pilger im Umkreis von 20 Kilometern haben sich genau hier verabredet. Wir müssen eine Weile warten, bis ein Tisch frei wird. Die Rucksäcke türmen sich an allen vier Wänden entlang. Ich finde kaum Platz für Ruddi’s Wassernapf. Luigi und ich bauen aus unseren Rucksäcken eine winzige Schutzmauer um ihn herum. Mein Hund findet in dem Gewimmel allerdings keine Ruhe. Ich nehme ihn auf den Schoß, damit er sich ausruhen kann. Wir fünf haben uns erstaunlich zu erzählen. Man könnte meinen, wir hätten uns seit mindestens vierhundert Kilometern nicht gesehen. Die beiden Klagenfurter Pärchen übernachten in der ansässigen Herberge. Ich habe noch gute zwei Kilometer vor mir. Wir sind gespannt, ob wir uns morgen in Santiago treffen.
Wir finden kaum Platz, uns zum Abschied zu umarmen. Es ist mittlerweile so eng in dieser Bar, wie in der ersten Reihe auf einem Rockkonzert. Mit geradem Rücken, leicht in die Knie gehend, rupfe ich meinen Rucksack raus. Anziehen kann ich den erst draußen, nachdem ich mir einen Weg durch die Menschen gebahnt habe.