Freitag, 25. April 2008

Azofra (328 Einwohner), 559 m üdM, La Rioja

11. Etappe bis Grañón, 22 km

Durch das rege Treiben in unserer Box und vor der Schwingtür wach geworden, sehe ich Hermann in voller Montur vor mir stehen. Er ist ausgehfertig und verabschiedet sich kurz und schmerzlos. Wir wünschen uns gegenseitig einen guten Weg und sind gespannt, ob wir uns noch einmal treffen. Die Möglichkeit besteht, denn Hermann will auch bis nach Santiago de Compostela laufen. Das ist ja doch eher außergewöhnlich. Die meisten Pilger haben gar nicht so viel Zeit, um den gesamten Jakobsweg am Stück zu gehen. Sie machen es wie zum Beispiel Achim und Oliver und gehen jedes Jahr für zwei Wochen auf den Weg.

Nun bin ich alleine, sammle mich ein paar Minuten und überlege mir, wie ich Ruddi hier wohl wieder rausschmuggeln kann. Bevor die Panik mich übermannt, gehe ich ganz kurz ins Bad zum Zähneputzen. Mehr ist nicht drin, denn Ruddi wartet in seiner geschlossenen Tasche hoffentlich ruhig auf mich. Immer wieder schicke ich ihm in Gedanken die Botschaft, auf kein Geräusch - sei es noch so spannend für ihn - Laut zu geben. Das scheint zu funktionieren. Ich höre jedenfalls keinen Ton. Nun noch schnell den Schlafsack im Rucksack verstauen und nix wie raus hier. Ich setze Ruddi in sein Notfallnetz, das ich jetzt nur am linken Karabinerhaken eingehängt habe. So kann ich ihn hinter meinem linken Arm und dem Rucksack auf dem Rücken ein bisschen verstecken. Husch, husch an der Rezeption vorbei und mit einem fröhlichen „Adiós y gracias por todo“ bin ich aus der Nummer und der Herberge raus. Ich atme tief durch als ich das Gelände verlassen habe und nach der ersten Ecke lasse ich Ruddi aus dem „Sack“.

In einer kleinen Bar nehme ich ein Frühstück in Form eines Kaffees und Croissants zu mir. Zu meiner großen Freude leisten mir Sabrina und einige andere Pilger Gesellschaft. Wir haben Spaß und freuen uns auf den bevorstehenden Tag. So kann ich den Ärger und die Belastung des letzten Tages endgültig abschütteln. Nach einer Stunde beginne ich die heutige Etappe. Was wird wohl auf mich zukommen?

Es liegen bis Cirueña knapp zehn Kilometer vor uns. Mein Schnurzel hat sich über Nacht wieder erholt und läuft munter drauf los. Der Himmel verspricht uns einen wunderschönen Tag. Es ist sehr warm, aber die Sonne scheint nur abgeschwächt durch eine dünne Wolkendecke. Perfekt! Über gute Landwirtschaftswege wandern wir durch die Rioja, ein international renommiertes Weinbaugebiet. Ich muss immer wieder an meinen Vater denken, weil er so gerne ein gutes Glas Rotwein trinkt. Nach elf Tagen ohne den üblichen Kontakt zur Familie habe ich manchmal ein bisschen Heimweh und fühle ich mich durch den Anblick dieser Felder meinen Eltern sehr nah. Sie würden diese Landschaft auch genießen. Beeindruckend, wie intensiv Gedanken das Gefühl für Raum und Zeit beeinflussen. Ich weiß natürlich, dass das immer so ist, aber das Bewusstsein dafür fehlt oft im Alltagsleben oder es gerät in Vergessenheit, dass Gefühle, Gedanken, Taten und Worte unser Leben und Wohlbefinden bestimmen.

Aus meinem Reiseführer wusste ich bereits, dass wir vor Cirueña einen Golfplatz und die dazugehörige neu errichtete Siedlung umlaufen müssen. Ich weiß gar nicht warum, aber dieses Stück Camino zieht sich wie Kaugummi. Wieso wundert es mich eigentlich? Ich habe immerhin schon fast zehn gelaufene Kilometer bezwungen. Es ist keine Bar in Sicht - ich brauche doch so dringend eine. Die Golfplatz-Lokalität ist geschlossen.

In Cirueña mit seinen knapp 130 Einwohnern angekommen, erhoffe ich mir den wohlverdienten Café con leche und mittlerweile genauso sehnsüchtig ein weiteres frisches Croissant. Es soll nicht sein. Na dann, auf geht’s nach Santo Domingo de la Calzada. Es wird ja wohl unter 5600 Einwohnern einen geben, der eine Bar betreibt.

Kurz nachdem ich Cirueña verlassen habe finde ich einen schattigen Platz, der zum Ausruhen einlädt. Ruddi und ich setzen uns vor dem alten Gemäuer, das vielleicht mal eine Fabrik war, an den Wegrand. Wir trinken Wasser und genießen die kurze Pause. Da kommt Pia, die mit Sören unterwegs ist, setzt sich zu uns und erzählt mir ein bisschen von sich. Ihr Mann ist vor kurzem verstorben und sie ist auf dem Jakobsweg, um damit klar zu kommen. Normalerweise spricht sie nicht darüber, aber in diesem Moment muss es wohl sein. Ich nehme sie in den Arm und lasse mich auf ihren Schmerz ein. Ich verstehe: Deswegen ist sie meistens lieber alleine und -obwohl sie sehr gerne lacht - manchmal plötzlich traurig. Mir wird wiedermal klar, dass jeder Mensch sein Päckchen zu tragen hat und man dem anderen immer nur vor die Stirn gucken kann und nicht dahinter. Nach einiger Zeit mache ich mich wieder auf den Weg. Sie bleibt noch ein bisschen sitzen, möchte auch jetzt für sich sein. „Wir sehen uns!“ sagt sie.

Es sind noch fünf Kilometer bis nach Santo Domingo de la Calzada. Wir gehen immer weiter über sehr angenehme Landwirtschaftswege. Von einem Hügel aus kann ich die Stadt schon sehen, aber es dauert noch gute 40 Minuten bis wir sie erreicht haben. Ich genieße die Aussicht und drehe mich noch einmal langsam im Kreis. Dieses Zeitlupen-im-Kreis-drehen mache ich in unregelmäßigen Abständen. Wie bereits erwähnt kommt der Pilger nicht wieder zurück, wie bei einem Ausflug, sondern geht stetig insgesamt fast 800 Kilometer Richtung Westen. Da gilt das Motto: Jetzt oder nie hingucken. Manchmal, eher selten entdecke ich auch einen herannahenden Pilger. Es ist und bleibt allerdings ein Phänomen, dass während des Laufens in freier Natur kilometerweit niemand zu sehen ist (ich staune immer noch beim Anblick meiner Fotos) und kaum betritt man eine Bar, befinden sich dort zu 98 Prozent Rucksäcke mit ihren dazugehörigen Trägern.

Diesmal entdecke ich tatsächlich Pia. Dann hat sie gar nicht mehr so lange an der Fabrik gesessen. Wir lächeln uns an und ich lasse sie Vorbeigehen. Als sie weit genug entfernt ist, um sich alleine fühlen zu können, setze ich mich auch wieder in Bewegung.

Geschafft! Gegen 15 Uhr sind wir in Santo Domingo. Ich bin ganz damit beschäftigt die herrliche Altstadt zu bewundern, als jemand meinen Namen ruft. Ich bleibe stehen, hebe meinen Kopf und blicke geradeaus in eine weit geöffnete Bar, in der die Leute sitzen, die mich anscheinend kennen. Von jetzt auf gleich wieder topfit eile ich hinein.

Zu meiner großen Freude handelt es sich um Edit, Sabrina, Achim, Oliver, Sören und Pia. Die Stimmung ist grandios.

Ruddi und ich werden empfangen als wären wir Megastars. Sieben Menschen finden Platz an einem Zweiertisch. Zwischen den Stühlen stehen die Rucksäcke und vor dem meinigen liegt Ruddi auf seiner weichen himmelblauen Siesta-Decke und schlummert selig vor sich hin. Er hat alle seine Lieben in der Nähe, sollen wir doch ausgelassen und albern sein so viel wir wollen. Wären wir nicht zum Pilgern unterwegs, würden wir wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen durchmachen und fürchterlich abstürzen. Nach einer guten Stunde machen wir uns aber nach und nach wieder auf den Weg. Das hat unglaublich gut getan. Die richtigen Pilger zur richtigen Zeit am richtigen Ort bewirken Wunder.

In der City pulsiert das Leben. Einige von uns haben sich schon einen Herbergsplatz gesichert und ich habe große Lust ebenfalls hier zu bleiben. Bis nach Grañón sind es noch fast sieben Kilometer. Der Nachmittag ist schon fortgeschritten. Mit Edit zusammen begebe ich mich in die nächste Herberge. Wir fragen nach, wo man heute Nacht noch ein freies Bett finden kann. „Alles belegt, in der ganzen Stadt“, lautet die Auskunft des freundlichen Herrn. Edit und ich müssen also weiterlaufen. Außerhalb des Ortes gehen wir wie gewohnt getrennt weiter. „Buen Camino!“

Es ist doch noch sehr heiß geworden. Die Sonne hat bereits seit Stunden den puren Durchblick. Ruddi kann nicht mehr. Er ist total im Eimer. Ich trage ihn ungefähr zwei Kilometer, obwohl ich selbst nur noch wenig Kraft habe. Ich schicke wieder Stoßgebete an den Wettergott. „Lass bitte in den nächsten Wochen immer ein paar Wolken am Himmel sein. Ich will den Jakobsweg bis nach Santiago gehen, und zwar an einem Stück. Das geht nur, wenn mein kleiner Hund nicht leiden muss. Danke!“

5 1/2 Wochen
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