Gleicher Tag (insgesamt 270,2 km gelaufen)
Atapuerca (147 Einwohner), 956 m üdM, Burgos
Casa Rural, Doppelzimmer, 40 Euro pro Person ohne Frühstück
Mit Ruddi unterm Poncho mache ich mich auf die Suche. Höre ich da meinen Namen? Tatsächlich! Ich raste aus vor Freude, als Paul vor mir steht. Mit dem Schalk im Nacken sieht er kritisch an mir herab und sagt: „Wie siehst Du denn aus? Hast Du ein begehbares Zelt, aus dessen Kamin Du den Kopf stecken kannst, um den Überblick zu behalten? Und einen ,Extra-Hund’ hast Du auch noch dabei! Wie konnte das passieren?“ Wir brechen gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. So eine Frechheit, ich versuche hier unseren Arsch zu retten, und der Ami macht sich lustig über mich!
Paul will mir sofort „seine“ Herberge zeigen, weil er weiß, dass es noch freie Betten gibt. Er zieht mich einfach an der Hand mit dorthin, ich habe keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen. Er ist fest davon überzeugt, dass sie mich mit Hund nehmen. Es handelt sich um eine schnuckelige kleine Herberge. Die Leute sind sehr lieb, aber mit zwei Hunden kann ich dort nicht übernachten. Der Neue tut aber auch wirklich so, als kenne er Ruddi und mich bereits seit seiner Geburt. Woher wissen die eigentlich, dass es einen zweiten Hund gibt? Meiner ist doch inkognito unterwegs.
Ein prüfender Blick an mir herab klärt das Phänomen augenblicklich auf. Bei dem Dauerlauf, den Paul mit mir hingelegt hat, ist mir dummerweise nicht aufgefallen, dass der triefnasse, zuckersüße Ruddi-Kopf aus dem, nicht ganz geschlossenen Poncho- Halsausschnitt gerutscht ist. Ich kann es den Herbergsleuten nicht klar machen, dass mir lediglich dieser kleine Schwarze gehört. Sie schicken mich zu ihren Nachbarn in ein Casa Rural. Die haben bestimmt noch ein Zimmer frei. Ich bin begeistert und begebe mich sofort dorthin.
Bevor ich eintrete, kontrolliere ich nochmal mein Erscheinungsbild. Ruddi ist vollständig im „Zelt“, dann kann ja nichts mehr schief gehen. Ich werde ihn vorsorglich verschweigen. So selbstsicher es geht, wage ich es, das einladende Gebäude zu betreten. Mit all meinem Hab und Gut am Körper, fülle ich einen sehr großen Teil des Eingangsbereichs aus - bin sehr präsent. Der Wirt sieht also erst mal angesichts meines weit ausladenden, klitschnass glänzenden Ponchos nur „rot“. Hinter mir bildet sich vom abtropfenden Regen ein klitzekleiner Wasserlauf von der Tür bis zur Rezeption, die gleichzeitig auch den Thekenbereich darstellt. Es ist eng hier und als ich mich zur Seite drehe, um mich meinem Gegenüber zuzuwenden, rücke ich zunächst ungewollt und lautstark mit meinem Rucksack die Barhocker in eine völlig andere Position. Nun habe ich die volle Aufmerksamkeit aller, auch jener, die sich im angrenzenden Schankraum befinden. Ich bin peinlich berührt. Ich möchte vor Scham im harten Bruchstein-Dielenboden versinken.
Die Begrüßung fällt zu meiner Erleichterung dennoch sehr herzlich aus. „Buenas tardes, señor. Busco una habitación (ich suche ein Zimmer).“ Natürlich hat er noch genau ein Zimmer frei. Sofort schreibt er mich in sein Gästebuch ein und fragt mich nach meinem Personalausweis. Er entnimmt alle Daten, die für ihn wichtig sind und ich, nicht faul, bezahle auch sofort die Miete inklusive vorbestelltem Abendessen. Ich habe einfach die Hoffnung, dass er, sollte mein Hund doch noch auffallen, mich nach getaner Arbeit und kassierten Euros nicht mehr wegschickt. Und da kommt auch prompt die freundliche, aber resolute Durchsage, dass er mich durch das Fenster beobachtet hat und der Hund, der hinter mir herlief, natürlich draußen bleiben muss. Mir wird sehr heiß unter meinem Poncho. „Ruddi, bloß nicht bewegen, sonst...“, schießt es mir durch den Kopf. Okay, der Hund, den er gesehen hat, kommt damit klar, der findet schon einen Schlafplatz.
In meinem Kopf herrscht Chaos, Panik macht sich breit. Wenn ich lüge merkt er das doch mit Sicherheit sofort. Ich bin da nicht gut drin, ich will das auch gar nicht. Aber habe ich denn eine andere Wahl? So, wie es aussieht nicht. Momentan bin ich zu allem bereit, wenn ich nur hier übernachten darf. Ich muss bleiben, es gibt keine andere Option- Oweia, mein Hund würde die Nacht in der Kälte da draußen und weit weg von mir nicht überleben. Was mach ich denn jetzt, um hier bleiben zu können? Das muss gut gehen, sonst kann ich mir von dem zugelaufenen Hund eine nette Scheune zeigen lassen. Ich entschließe mich zu einem improvisierten Theaterstück vom allerfeinsten.
Vorhang: Dramatischer Gesichtsausdruck, Text: „Der Hund ist mir zugelaufen und ich bin mit meinen Nerven und meinem Latein am Ende. Ich werde ihn nicht mehr los. Bitte helfen Sie mir. Ich bin völlig verzweifelt wegen ihm. Ich habe Probleme, ein Zimmer zu bekommen, nur weil er mit mir mitläuft. Was soll ich nur machen, wenn er für immer bei mir bleiben will? Können Sie mir helfen? Bitte!!“ Und das alles mit Händen und Füßen, weil er kein Wort Deutsch spricht und mein Spanisch zu „pequeña (klein)“ ist.
Entsetzt und voller Mitgefühl legt er seine Hand auf meinen Arm und macht mir klar, dass er den Hund gleich verjagen wird. Ich flehe ihn erschrocken an, ihm auf keinen Fall weh zu tun. Ich habe echte Tränen in den Augen, angesichts der Tatsache, dass dieser kleine, liebenswerte, klatschnasse Strolch da draußen vor der Tür, in irgendeiner Weise leiden muss, nur weil ich hier so ein „Theater" mache. Der Señor beruhigt mich, er kann keinem Hund was zu Leide tun. Er habe selbst einen. Er will den Zugelaufenen nur wegschicken.
Wie, der hat selbst einen Hund?! Wer Hunde mag und dazu noch einen so offenen, reinen Blick hat wie gerade dieser Señor, der kann nicht wirklich hartherzig sein. Mein Gewissen meldet sich: „Lügen haben kurze Beine, Birgit.“ Hat Ruddi vielleicht doch noch eine Chance? Eigentlich kann ihm doch niemand widerstehen, wenn er erst mal in sein Hundegesicht gesehen hat. Und er ist doch so klein, so süß, so hilflos und überhaupt... Ich kann diesen Mann, der mir so verständnisvoll gegenüber steht, einfach nicht weiter belügen und beschließe, ihm ganz schonend und Stück für Stück zu verraten, was da so unter meinem Poncho los ist.
Jetzt bin ich diejenige, die eine Hand auf seinen Arm legt, ich schaue ihm dabei tief in die Augen, lege die andere Hand auf mein Herz beziehungsweise auf den für ihn unsichtbaren Ruddi und sage voller Gefühl, also herzerweichend: „Mi corazón, señor, mi corazón. (Mein Herz, mein Herz).“ Ich will damit sagen, dass mein Hund mein Herz ist und bemerke dabei nicht, dass der nette Señor etwas ganz anderes wahrnimmt, als ich ihm sagen möchte. Ich verdrehe die Augen, aus Verzweiflung, weil ich nicht weiß, wie ich jetzt weitermachen soll. Er deutet mein Gebaren als drohenden Herzanfall. Kein Wunder, denn noch bin ich für ihn ja auch eine sehr übergewichtige Matrone in einem feuerwehrroten Poncho unter dem hinten ein Riesenrucksack und vorne ein Hund versteckt sind, die zudem auch noch den ganzen Tag gelaufen ist und so unglaublich unter einem zugelaufenen Hund leiden muss. Ich sehe ihm an, dass er zu allem bereit ist, mich aufzufangen, auch wenn er unter meinem, allem Anschein nach, unglaublichen Gewicht zusammenbrechen würde.
Ich fahre fort mit: „Señor, mira, mi corazón, mi pequeño...(schauen Sie mal, mein Herz, mein kleiner...)“ Mein Poncho reicht mir bis zu den Waden. Ich bücke mich, um den Saum greifen zu können und rolle Stück für Stück ganz langsam meinen Poncho auf. Zunächst bekommt er in Hüfthöhe einen Knubbel, den er mit Sicherheit in dem herunterhängenden Netz nicht zuordnen kann, zu sehen. Ich komme jetzt wieder in die Aufrechte und sehe ihm schweigend ins Gesicht, bevor ich das Geheimnis endgültig lüfte, eine Augen werden immer größer, die Spannung ist unerträglich, ich rolle und rolle Zentimeter um Zentimeter den tropfenden Poncho weiter hoch. Und da, in Brusthöhe, wo der Señor bestimmt den allergrößten Busen erwartet, den er je zu Gesicht bekommen hat, sehen ihn zwei unglaublich traurige, funkelnde, braune Hundeaugen verzweifelt an. Mir bleibt nur noch zu sagen: „Por favor, señor, mi corazón, mi pequeño perro, por favor! (Bitte, Señor, mein Herz, mein kleiner Hund, bitte).“ Mehr Worte braucht er nicht. Es dauert einen Augenblick, bis er realisiert, was hier gerade geschieht. Er ist wahrscheinlich unglaublich erleichtert, dass es sich unter meinem Poncho lediglich um einen kleinen Hund handelt und ich ihm nicht meine weiblichen Reize offenbart habe. Zu meiner großen Überraschung und totalen Erleichterung lächelt er Ruddi liebevoll an, spricht beruhigende spanische Worte zu ihm und streichelt ihm über das regennasse Köpfchen. Dann sieht er mich voller Verständnis an und macht mir klar, dass seine Frau auf keinen Fall etwas davon erfahren darf. Blitzschnell schließe ich „die Rollladen“ wieder. Die Wahrheit hat wieder mal gesiegt. Danke!
Er zeigt mir mein Zimmer, lächelt mich noch einmal kopfschüttelnd an und lässt mich alleine. Das ganze „Paket“ ist auf jeden Fall sein Geld wert. Ich fühle mich sauwohl und bin unglaublich erleichtert, dass ich mit der Wahrheit herausgekommen bin. Nach dem Duschen gehe ich runter zum Essen. Dieses Casa Rural ist von allerhöchster Güte. Es ist sehr gepflegt und mit antiken Möbeln eingerichtet. Die Tische sind geschmackvoll eingedeckt. Die überaus resolute Dame des Hauses, weist mir einen Platz an einem Vierertisch zu. Hoffentlich bleibt Ruddi ruhig in seiner Tasche. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, die Señora würde mir gewaltig die Leviten lesen, wenn sie merkt, dass ich einen Hund dabei habe.
Mora, Eileen und Beatrice, drei reizende Ladies so um die 60 aus Irland, sitzen bereits bei einem Glas Rotwein und guter Laune hier. Sie beziehen mich sofort in ihr Gespräch mit ein. Ich erfahre, dass sie Schwestern sind, den Camino bis Burgos laufen und übermorgen die lockere Pilgerzeit für sie vorbei ist. Dann geht es wieder Richtung Heimat. Mora ging im Jahr 2004 den gesamten Camino.
Der Wein schmeckt heute besonders gut und wir genehmigen uns gerne zwei, drei Gläser mehr als üblich. Wir finden es alle vier sehr schade, dass wir uns nicht vorher schon mal begegnet sind. Zu vorgerückter Stunde verlassen wir den Comedor und machen, als die letzten Gäste heute Abend, das Licht aus. Niemand hat meine tierische Begleitung bemerkt.
Meine „Handtasche“ und ich gehen noch ein bisschen durch Atapuerca spazieren. Die Wirtin wundert sich zwar darüber, sagt aber nichts. Damit Ruddi nicht entdeckt wird, biege ich noch um die eine oder andere Ecke, bevor ich ihn freilasse. Er springt sofort heraus und rennt wie ein geölter Blitz hinauf zur Kirche. In der Dunkelheit dauert es einen Moment, bis ich voller Entsetzen erkennen kann, was mein Schnurzel denn so wichtiges zu erledigen hat. Sein Kumpel aus Agés hat doch tatsächlich hier auf uns gewartet. Er freut sich wie wild darüber, uns zu sehen. Wie selbstverständlich heftet er sich umgehend an meine Fersen. Wir gehen ein Stück Feldweg und dann spreche ich ernste Worte zu diesem geduldigen Tier: „Du gehst jetzt sofort wieder nach Hause. Wag Dich bloß nicht, uns zu folgen, sonst wirst Du von dem Señor verjagt. Das wollen wir beide nicht. Also, adiós, gracias por todo.“ Unglaublich, aber wahr: Vor der Kirche verlässt er uns wieder. Ich bin gespannt, ob er bis morgen auf uns wartet, der ist immerhin ungefähr sechs Kilometer von zu Hause entfernt.
Kurz vor dem Einschlafen erhalte ich noch eine SMS von Ina. Sie ist in Villafranca, also eine Tagestour hinter uns. Ich schreibe ihr kurz zurück, teile ihr meinen Aufenthaltsort mit. Sekunden später kommt doch tatsächlich noch eine weitere SMS: Achim, Oliver, Sabrina, Edit, Sören und Pia sind bereits in Burgos. Sie warten schon den ganzen Abend auf mich. Wann ich denn endlich ankäme? Sie feiern „nur“ zwanzig Kilometer von mir entfernt, Abschied. Oliver und Achim müssen morgen wieder nach Hause fliegen und Sören und Pia fahren von Burgos bis Leon mit der Bahn. Was!? Die machen Party!? Da wäre ich gerne bei. Ich bin sehr geknickt. Aber jetzt um 22 Uhr ist nichts mehr daran zu ändern. „Burgos! Da komm ich heut net mehr hin!“ Schade... Bevor ich in allzu tiefe Trauer falle, überwältigt mich der Schlaf.