gleicher Tag (insgesamt 200,8 km gelaufen)
Azofra (328 Einwohner), 559 m ÜdM, La Rioja
Herberge, Doppelbox, 6 Euro pro Person
Am Ortseingang treffen wir aufeinander. Die Wiedersehensfreude ist groß, aber kurz. Mein Pilgerfreund eröffnet mir als erstes, dass Ruddi unentdeckt bleiben muss. Wenn es nach ihm ginge, dürfte er sich im gesamten Ort nicht auf die Straße begeben. „Hier kennt jeder jeden. Der Ort ist winzig. Es gibt nur diese eine Herberge und die ist voll belegt. Hunde sind verboten. Ihr fliegt raus, wenn der Hospitalero Wind davon bekommt.“ Mein Sonnen geplagter Vierbeiner hat jedes Wort verstanden, klettert nur zu gern wieder in seine Tasche und lässt sich von Hermann tragen. Meinen Rucksack gebe ich nicht nochmal ab. Der gehört in jedem Fall auf meinen Rücken!
Ich bin am Ende meiner Kräfte. Nichts geht mehr! Die meiste Energie raubt mir die Angst vor dem vorzeitigen Ende meines Abenteuers. Einen weiteren Sonnentag übersteht Ruddi nicht. Ich hoffe, dass der Wettergott gerade Zeit für uns hat und einsieht, dass das so nicht weitergehen kann.
Auf dem Dorfplatz von Azofra stehen einige Bänke. Hermann steuert ihn zu meiner Verwunderung an. Ich traue meinen Augen nicht, als mir Mary und Lynn mit ausgebreiteten Armen entgegengelaufen kommen. Dieses Wiedersehen gibt mir augenblicklich Kraft. Aufgeregt schnattern wir in verschiedenen Sprachen, begutachten uns gegenseitig mit großen, leuchtenden, aufmerksamen Augen. Es ist unbeschreiblich, was in einem vorgeht, wenn man Pilgerfreunde trifft, die man weit voraus vermutet und mehrere Tage nicht gesehen hat. Ruddi wird von den Kanadierinnen - wie jedes Mal - zärtlich unter die Lupe genommen, geherzt und geküsst. Ganz Macho, genießt er die Situation in seinem tragbaren Appartement regungslos und völlig relaxed auf dem Rücken liegend, lediglich mit seinem Schwänzchen wackelnd.
Diesen kurzen, jedoch sehr gefühlvollen Moment unterbricht Hermann mit den Worten: „Wir müssen sofort in die Herberge! Ich habe Angst, dass unser Zimmer doch noch anderweitig vergeben wird. Du musst Dich anmelden und bezahlen. Lass Ruddi hier und beeil Dich!“ Ich bin so wütend, dass ich platzen könnte. Es ist nicht das, was er sagt, sondern wie er es sagt. Ich komme mir vor wie beim Militär.
Meine Reaktion nach außen ist sehr gelassen. In aller Ruhe spreche ich noch ein paar Sätze mit den beiden Frauen, die ich von der ersten Minute meines Caminos an kenne. Sie sind über Hermanns Verhalten sehr erstaunt, schauen mich fragend, sichtlich irritiert und kopfschüttelnd an. Sie verstehen kein Wort Deutsch, sie nehmen lediglich seine Haltung und den Tonfall war. Nach Fassung ringend und mit entglittenen Gesichtszügen bitte ich die beiden auf Englisch, meinen Hund für ein paar Minuten zu beaufsichtigen. Mary und Lynn sind sofort bereit - ach was! - sie sind begeistert. Unverzüglich, aber sehr vorsichtig, nimmt die eine die Tasche auf ihren Schoß und die andere kramt in ihrem Rucksack nach etwas Essbarem für ihr „Baby“, schüttet Wasser in ihre Hand und ist gerührt, als ihre Gaben dankbar angenommen werden. Beruhigend reden sie auf mein „krankes Häschen“ ein. „Don’t worry, go with Hermann. (Mach Dir keine Sorgen, geh mit Hermann.) We are waiting for you here. (Wir werden hier auf Dich warten.)“
Die Herberge ist etwa 100 Meter weit weg. Es ist ein Neubau - sieht ein bisschen aus wie ein Schulgebäude in Deutschland. Optisch passt das nicht in dieses kleine Dorf. Andererseits spricht einiges dafür, in einem modernen Haus zu übernachten und vor allen Dingen nach der Hitze des Tages, zu duschen. Mehr kriechend als aufrecht gehend folge ich Hermann.
Durch ein Tor betreten wir eine riesige Terrasse mit gemütlichen Gartenmöbeln. In der Mitte befindet sich ein kleiner Swimmingpool, der von großen Pflanzen umgeben ist. Hier sitzen so einige Pilger bei einem Bierchen zusammen und haben einen Riesenspaß. Ich bin ganz aus dem Häuschen, als ich Oliver und Achim unter ihnen ausfindig mache. Sie rufen mir gut gelaunt zu: „Nee, ne?! Das gibt’s doch gar nicht! Du hier? Komm, setz Dich!“ Natürlich lasse ich mich von nichts und niemandem davon abhalten, sie zu begrüßen. Sofort fällt ihnen auf, dass Ruddi fehlt. Hermann bleibt in einiger Entfernung stehen und scharrt mit den Hufen. Er ist nervös, unruhig und ungehalten.
Nach nur wenigen Sekunden werde ich zurückbeordert. Wieder dieser Befehlston! Auch hier werde ich deswegen fragend angeschaut. Ich nehme meinen General in Schutz, indem ich erkläre, dass er so nett war, für mich ein Bett zu reservieren und nun befürchtet, dass das vergeben wird, wenn die Anmeldung nicht unverzüglich erfolgt. Um die Situation nicht eskalieren zu lassen, gehorche ich und melde mich an. Tatsächlich hat der Hospitalero mein von Hermann gewünschtes Bett vergeben und mich mit einem anderen Menschen zusammengelegt. Mein Pilgerfreund beschwert sich resolut. Wir müssen wegen Ruddi zusammen untergebracht werden, aber das weiß der arme Mann ja nicht. Nach langem Hin und Her bekommen wir das gewünschte „Doppelzimmer“. Puh, das war knapp! Ruddi ist zwar mucksmäuschenstill, aber ein Fremder würde ihn trotzdem bemerken. Ob der dann beim Hunde-Schmuggel mitspielen würde, ist fraglich.
Ich bezahle das Bett mit 6 Euro und der Herbergsvater geht mit uns durch das Treppenhaus auf die erste Etage. Wir laufen einen langen Gang hinunter. Zu meiner Rechten befindet sich eine Fensterfront, die den Blick auf den Eingang und die Terrasse freigibt. Zu meiner Linken befinden sich die durchnummerierten Boxen, wie ich sie mal nennen möchte. Jede Box hat eine Doppel-Schwingtür, die oben und unten einen relativ breiten Schlitz vorweist. Na, das kann ja heiter werden! Es gibt keine richtige Tür, die geschlossen werden kann. Bin sehr gespannt, wie Ruddi damit klar kommt, alle anderen Pilger hautnah zu hören und zu riechen. Ich muss es darauf ankommen lassen. Mehr, als dass ich mitten in der Nacht rausfliege, kann ja nicht passieren.
Der Mann zeigt uns den zugewiesenen Schlafplatz. Es ist tatsächlich die drittletzte Kammer, die wir bekommen haben. Am Ende des Ganges befinden sich das Bad und die Toiletten. Na super! Dann herrscht hier die ganze Nacht reger Verkehr. Mein Hund wird seine helle Freude daran haben. Die Box selber ist winzig - schätzungsweise sechs Quadratmeter. Direkt hinter den Schwingtüren befindet sich jeweils ein eingebautes Regal in dem der Rucksack Platz findet. Daran anschließend stehen links und rechts je eine Liege, die höchstens 190 lang und 80 Zentimeter breit sind. Der Mittelgang ist einen guten Meter breit. Der Schwingtür gegenüberliegend gibt es ein vom Boden bis zur Decke reichendes Doppelfenster, in dessen zirka 30 Zentimeter großem Zwischenraum zum Beispiel die Schuhe lüften können.
Ich bin fix und fertig, kann mich kaum noch bewegen und auch nicht mehr stehen. Meine Füße versagen ihren Dienst. Sie drohen mir an, bei weiterer Belastung auseinander zu brechen. Ich muss mich kurz setzen, bevor ich zu Ruddi zurückgehe. Ich bin wütend. In der letzten halben Stunde wurde ich getrieben, gehetzt und auch jetzt drängelt Hermann wieder. Er hat Hunger, will endlich ein Bier trinken. Es gefällt mir gar nicht, wie er mit mir umzuspringen versucht. Es ist zwar bequem, wenn am Etappenziel bereits ein Bett für mich reserviert ist, aber ich fühle mich ihm gegenüber verhältnismäßig hoch verpflichtet. Hinzu kommt, dass er nicht ertragen kann oder will, wenn ich Zeit mit den anderen verbringe. Er benimmt sich so, dass ich ihn und mich rechtfertigen muss. Ich werde diesen Spießrutenlauf nicht länger mitmachen. Der spinnt wohl ein bisschen! Ich bin durchaus in der Lage, abends selbst eine Unterkunft für mich und Ruddi klarzumachen.
Ich beschließe in diesem Moment, heute keine Wäsche zu waschen, sondern das Gespräch mit ihm zu suchen. Ich kann nicht mehr. Er nimmt mir durch sein Verhalten das einzigartig belebende Glücksgefühl, das ich immer am Etappenziel habe: Der körperliche Schmerz ist wie weggeblasen, die Zweifel des Tages sind ausgeräumt. Ich habe dann das Bewusstsein, dass ich alles schaffen kann; Grenzen überschritten habe, von denen ich vor zehn Tagen nicht einmal wusste, dass es sie gibt; meine Seele und mein Kopf sind befreit. Es ist geschafft! Die Krönung dessen ist der Austausch mit anderen entspannten Pilgerfreunden. Das ist durch nichts zu toppen. Dieses Gefühl darf mir niemand nehmen. Es ist zu wichtig für mich. Deswegen bin ich hier. Und wie fühle ich mich jetzt, in diesem Moment? Ausgepowert, wütend, enttäuscht und das schlimmste ist, dass ich mich Hermann gegenüber verpflichtet fühle. Nein! Das kleine Kind in mir schreit mich an: „NEIN! Das tut mir nicht gut!“
Ich will eigentlich nur noch essen, duschen, meinen Körper entlasten und endlich schlafen. In diese Gedanken hinein, tönt völlig unvorbereitet Hermanns Frage, ob ich seine Wäsche mitmachen kann. Es ist ihm klar, dass es hier keine Waschmaschine gibt. He? Fremde Socken und was-weiß-ich-noch-für-Teile auf der Hand waschen? Ich halte das für eine Zumutung und lehne entschieden ab. Er ist beleidigt und sagt: „Dann nicht, dann schmeiß ich die eben weg.“ Ich höre wohl nicht richtig und glaube, er macht einen Witz. Weit gefehlt. Er bleibt todernst bei seiner Aussage. Naja, ist mir doch wurscht, oder?! Muss ich nicht verstehen! Ich sage hier in dieser Box nichts dazu, denn jeder in den umliegenden Ställen kann sogar geflüsterte Worte - selbst einen tiefen Atemzug - des anderen wahrnehmen. Ich fühle mich plötzlich wie eine Gefangene, kann nicht mehr durchatmen. Als mir das klar wird, weiß ich, dass das heute wahrscheinlich unser letzter gemeinsamer Abend sein wird. Ich muss jetzt sofort hier raus, zu Mary, Lynn und Ruddi.
Nach ungefähr 20 Minuten bin ich wieder zurück bei meinen Lieben. Ich bin den Frauen dankbar, dass sie so lange auf mich gewartet und Ruddi beaufsichtigt haben. Ihm geht es wieder viel besser. Wir unterhalten uns sehr angeregt über die Erlebnisse der letzten Tage, als Hermann erscheint und sofort mit mir zum Essen gehen will. Ich lehne das ab: „Ich komme gleich. Wir unterhalten uns, das siehst Du doch. Komm zu uns oder geh! Ich bleibe noch ein paar Minuten.“ Beleidigt zieht er ab mit den Worten: „Ich brauch jetzt ein Bier.“ Gesagt - getan - weg ist er. „Laufen lassen.“ denke ich. Mary und Lynn wundern sich erneut über sein Benehmen. Er sei vor meiner Ankunft ganz anders gewesen. Locker, fröhlich und unterhaltsam habe er mit ihnen in der Bar etwas getrunken. Es bleibt sein Geheimnis, warum er so nicht mit uns dreien umgehen kann. Schade!
Nach einiger Zeit verabschieden sich die beiden von mir. Sie wollen ebenfalls nur noch schlafen und außerdem morgen relativ früh los. Ich bleibe alleine mit Ruddi auf der Bank sitzen und versuche runterzukommen. Nach ein oder zwei Minuten steht Hermann vor mir. Gut gelaunt bittet er mich erneut, mit ihm gemeinsam zum Essen zu gehen. Wir gehen in das nächste Restaurant. Drei Tische sind besetzt. Als unsere Getränke vor uns stehen, spreche ich ihn an: „Was ist mit Dir los? Ich möchte Dich bitten, mich nicht immer so zu hetzen. Das tut mir nicht gut. Ich bin hier, um jede Situation, die sich mir bietet, bewusst auszuleben. Du benimmst Dich mir und den anderen gegenüber so merkwürdig, dass es allen unangenehm ist. Wir müssen das ändern.“ Ich erkläre ihm die Vorfälle der letzten Stunden aus meiner Sicht. Er ist entsetzt: „Wenn wir jetzt schon Probleme haben, wie soll das denn dann noch werden?“ Bitte? Wie soll ich darauf reagieren? „Bleib ruhig“, meldet sich meine innere Stimme. Mit dem Bewusstsein, dass ich ab morgen durchaus auch ohne ihn weitermachen kann, antworte ich: „Wir sind wohl doch zu unterschiedlich. Sei mir bitte nicht böse. Versuche mich auch zu verstehen. Wir haben in den ersten Tagen so viel Spaß zusammen gehabt. Was ist passiert! Wo ist Dein Humor?“ Alles was ihm einfällt ist: „Okay, ich bin Dir nicht böse. Ist schon gut.“ Den Rest des Abends verbringen wir mehr oder weniger schweigend. Das Essen ist schnell im leeren Magen. Wir können es wohl beide kaum noch erwarten, hier raus zu kommen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.
Im Herbergshof sitzen immer noch viele Pilger zusammen. Edit, Sabrina, Achim, Oliver und Sören haben einen Riesenspaß. Ich kann heute leider nicht mitmachen, weil Ruddi ja auf keinen Fall entdeckt werden darf. Also trotte ich mit Hermann unbemerkt an den anderen vorbei. Hermann liegt innerhalb von Sekunden in seiner Koje. Ich melde mich zum Duschen ab. Er nimmt sich Ruddi aus der Tasche und in sein Bett. So hätte er ihn besser im Griff, falls er bellen wolle, wenn jemand an unserer „Tür“ vorbeigeht. Wahrscheinlich hat er damit Recht.
Das Badezimmer ist schneeweiß, modern und sauber. Es gibt vier oder fünf Duschkabinen, ebenfalls mit Schwingtüren. Zu so später Stunde bin ich hier fast alleine. Es ist das erste Mal, dass ich mich in einer Herberge ausziehe. Heute habe ich nicht das Gefühl, dass ich von jetzt auf gleich flüchten muss. Da ich immer noch nicht der Mensch bin, der nackt vor wildfremden Menschen herumspringt, lege ich meine Kleider erst in der Duschkabine ab. Dafür ist die aber gar nicht gebaut. Es ist ein Puzzlespiel, die Sachen absturzsicher auf der Schwingtür zu deponieren, ohne dass sie während des Duschens nass werden. Auch das Abtrocknen auf einem Quadratmeter mit einer nachtropfenden Dusche im Nacken stellt sich als hochkompliziert heraus. Da ich bekanntlich keine Nachtwäsche dabei habe, muss ich mich wieder komplett anziehen.
Als ich mit diesem Outfit aus der Nasszelle trete, sehe ich aus, als wolle ich die nächste Etappe antreten. Oliver kommt mir mit seiner Zahnbürste entgegen und guckt mich ein bisschen verwundert an. Ich tu so, als wär nix. Mit einem Küsschen auf die Wange wünsche ich ihm eine gute Nacht.
Nach dem Duschen fühle ich mich wie neugeboren. Hermann schläft tief und fest. Ruddi krabbelt in meinen Schlafsack. Es ist sehr warm hier drin. Mein vierbeiniger Freund zieht es daher vor, sich wieder in seine Tasche zu legen. Immer wieder gehen Leute an unserer Box vorbei ins Bad. Mein Hund ist vorbildlich ruhig. Er knurrt ab und zu ganz, ganz leise - nur für mich - um die „Bad-Pilger“ anzukündigen.
Nach einiger Zeit vernehme ich die Stimmen und das Lachen meiner Freunde. Die Party im Hof ist jetzt zu Ende und jeder sucht seine Box auf. Das ist die Härteprobe für meinen Schnurzel. Es ist bewundernswert, wie er sich beherrschen kann und seine Freude darüber, die anderen zu hören, unterdrückt. Ich streichele ihn beruhigend. Nach einiger Zeit kehrt Stille in der Boxen-Herberge ein. Nur noch das Atmen der anderen ist zu hören. So langsam komme ich auch zur Ruhe. Kurz bevor ich fest einschlafe, nehme ich einen wunderschönen, ganz leisen, aber klaren Gesang wahr. Es ist Edit, die aus tiefstem Herzen, zwei oder drei Boxen von mir entfernt, ein Kirchenlied singt. Mit Tränen der Rührung in den Augen genieße ich diesen friedlichen Moment sehr. Ich kann sogar die Rest-Wut loslassen und erleichtert in das Land der Träume hinüber gleiten.
Mitten in der Nacht werde ich von einem kurzen, aber lauten Bellen wach. Ich stürze mich wie ein abgeschossener Pfeil waagerecht auf Ruddi’s Tasche. Die ist weiter weg als ich dachte. Lediglich meine Unterschenkel mit den anhängenden Füßen befinden sich noch im Bett. Das muss ein Bild für die Götter sein. Ich muss lachen, nachdem ich den Schock überwunden habe. Bei dieser Aktion ist meinem Hund nichts passiert, aber ich habe mir das Handgelenk verstaucht. In den nächsten Minuten warte ich gespannt ab, ob wir jetzt hier rausfliegen oder nicht. Darüber schlafe ich mit meinem besten Freund im Arm wieder ein.