Samstag, 17. Mai 2008

Vilachá (ca. 20 Einwohner), ca. 500 m üdM, Provinz Lugo

33. Etappe bis Palas de Rei, 27,4 km

Tiefer, fester, erholsamer Schlaf wäre schön gewesen. Dauernd bin ich wachgeworden, konnte es kaum erwarten, dass die Nacht endlich vorbei geht. Vier Etappen liegen noch vor mir. Dann bin ich in Santiago de Compostela. Ich weiß gar nicht, ob ich das gut oder schlecht finde. Einerseits habe ich oft Heimweh nach meinen Eltern und Kindern, andererseits habe ich mich an das Wanderleben gewöhnt. Ich genieße es sehr im Hier und Jetzt zu sein. Ein Wanderer kann keine Termine machen. Er weiß nie, was ihm auf seinem Weg begegnet - ob er schnell oder langsam vorankommt. Alles passiert einfach. Und dieses ALLES ist Überraschung pur und verlangt ausschließlich Hingabe, sonst nichts.

Um 7.15 Uhr traue ich mich aufzustehen. Seit ungefähr einer Stunde versuche ich zwischen Dösen und Wachen irgendwelche Geräusche wahrzunehmen, die darauf hindeuten, dass Gordon auf den Beinen ist. Ich muss ja durch sein Zimmer und es wäre mir sehr unangenehm, wenn ich ihn im Bett erwischen würde.

Nach einer Katzenwäsche komme ich weniger gestriegelt, aber gespornt in die Küche und traue meinen Augen nicht. Gordon muss die ganze Nacht hindurch unter Volldampf geputzt haben. Alles blitzt und blinkt. Nichts steht mehr rum, was hier nicht reingehört. Auf dem geschrubbten Tisch ist liebevoll ein Frühstück vorbereitet. Frischer Tee ist gekocht. Mit strahlenden Augen und einem Geschirrtuch über der Schulter begrüßt Gordon mich gut gelaunt.

Über seinen gestrigen Annäherungsversuch sprechen wir nicht mehr. Noch nie fand ich das Sprichwort „Schwamm drüber“ so treffend. Uns würde auch nach Stunden noch nicht langweilig, aber ich habe heute 27,4 Kilometer vor mir und mach mich gegen halb neun vom Acker. Gordon lässt es sich nicht nehmen, mich noch ungefähr einen Kilometer aus dem Dorf heraus zu begleiten. Er gibt mir mit auf den Weg: „Lass Dich nicht unterkriegen von den letzten hundert Kilometer. Sie werden ganz anders sein, als Dein bisheriger Camino. Ab jetzt sind deutlich mehr Pilger unterwegs, die nur die geforderte Strecke laufen, um die Compostela zu bekommen. Die sind ganz anders drauf, hatten ja noch keine Zeit oder haben prinzipiell kein Interesse daran, inneren Frieden und Gelassenheit zu finden.“

Zum Abschied umarmen wir uns herzlich und tief berührt. Selten habe ich eine Umarmung als so ehrlich empfunden. Er guckt mir offen und tief in die Augen: „Danke, dass Du bei mir übernachtet und mir vertraut hast. Das werde ich nie vergessen. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht.“ „Ich bin die, die sich bedanken möchte. Hättest Du mich nicht aufgenommen, wäre ich heute Morgen im Straßengraben wachgeworden. Außerdem hast Du mich vor dem Hungertod bewahrt. Ich werde Vilachá nie vergessen, ich kenne dank Dir schließlich das ganze Dorf. Ich wünsche Dir viel Kraft und Durchhaltevermögen beim Aufbau Deiner Herberge und viel Spaß mit den Pilgern, die zukünftig bei Dir übernachten werden. Ich glaube, ich werde den Camino Francés noch einmal gehen und dann bei Dir einkehren.“ Mit einem Küsschen auf die Wange trennen sich unsere Wege. Immer wieder drehen wir uns um und winken uns nochmal zu. Gäbe es eine Bar in der Nähe, würde ich gerne noch einen Café con leche mit ihm trinken, um den Abschied noch ein bisschen hinauszuzögern. Ich glaube, wir sind so was wie Seelenverwandte.

Die zweieinhalb Kilometer runter nach Portomarín haben es wirklich in sich. Das ist wieder so eine Straße, die besser als Treppe zur Welt gekommen wäre. Die Federung in den Knien muss schon gut in Schuss sein! Der Blick auf Portomarin mit dem davorliegenden Stausee ist ein Traum. Die kleine Stadt hat 2237 Einwohner und ist voller Leben. Genau genommen ist es eine versunkene Stadt. Das alte Städtchen Portomarin fiel dem Bau eines Wasserkraftwerks zum Opfer. Es verschwand unter den Fluten des Belesar-Stausees. Die Bauwerke von historischem, kulturellem Interesse wurden aber glücklicherweise gerettet und in die Anfang der 1960er Jahre erbaute neue Stadt versetzt. Es ist ein seltsames Gefühl auf diesen großen See zu schauen und sich vorzustellen, dass auf seinem Grund eine ganze Ortschaft steht.

Ohne meinen heißgeliebten Café con leche kann ich mich nicht in die Büsche schlagen. Bis Gónzar sind es acht Kilometer und für die muss ich mich vorher stärken. Das große Café ist tatsächlich voll mit

Pilgern, die ganz anders sind. Sie sehen mehr aus, wie Campingplatz- Bewohner, die auf dem Weg ins Freibad sind. Der Rucksack ist kleiner und ihre Demut auch. Naja, sie haben eben keine 800 Kilometer vor sich, sondern nur drei oder vier Etappen zu laufen. Da braucht man nicht viel Kram und macht sich auch kaum Gedanken darüber, ob man an seine Grenzen stößt. Oder doch? Hätte mir vor fünf Wochen jemand gesagt: „Lauf mal eben 100 Kilometer, wären sie für mich auch noch deutlich gewaltiger rübergekommen als jetzt, nach fast 700, mit meinen eigenen Füßen, bezwungenen Kilometern.

Kurz hinter Portomarín steht auf einem Parkplatz ein Reisebus mit offenen Gepäckraumklappen. Ich schätze, dass so um die fünfzig Menschen damit beschäftigt sind, ihre Rucksäcke zu identifizieren und fachgerecht auf den Rücken zu schnallen. Einige essen hastig das wohl letzte Stückchen Obst ihres Lebens. Manche trinken, mit weit aufgerissenen Augen und Blick in Richtung Startpunkt Camino, so gierig aus Wasser- und Saftflaschen, als wären sie jetzt schon total ausgetrocknet. Sie reden viel zu laut und laufen wirr durcheinander. Eine Schlagzeile in einem Revolverblatt würde wohl lauten: REISEBUS SETZT PILGER AUS! Aus sicherer Entfernung schaue ich mir das Schauspiel unbemerkt an.

Zwei Reiseführer erklären dem außer Kontrolle geratenen Haufen das Wichtigste zum Jakobsweg. „Achtet unbedingt peinlichst auf die gelben Pfeile, Schilder mit der abgebildeten Jakobsmuschel und die Kilometersteine, damit Ihr nicht vom Weg abkommt. Bleibt möglichst mindestens zu zweit; falls was passiert, kann einer Hilfe holen. Einer von beiden sollte jeweils ein Handy griffbereit haben. Esst beim Laufen nicht zu viel. Vergesst aber nicht, genug Flüssigkeit zu Euch nehmen. Mit vollem Bauch seid ihr unbeweglich. Mein Kollege geht voran und ich bleibe der Letzte in der Schlange, damit keiner von Euch verloren geht. Wir treffen uns spätestens alle zusammen wieder heute Abend in der Herberge in Palas de Rei. Viel Spaß!“

Ich habe den Startschuss zwar nicht gehört, aber es muss einen gegeben haben. Alle rennen zur selben Zeit los, schubsen, drängeln, schimpfen: „Mach Platz! Lass mich doch mal vorbei!“ Vielleicht hab ich aber auch was Wichtiges verpasst und die sind auf der Flucht! Oder gibt es einen wertvollen Preis für den Ersten? Damit wir uns richtig verstehen: Es ist keine Schulklasse. Diese Menschen, die hier „pilgern“, sind so zwischen 30 und 60 Jahre alt.

Eine Frau stolpert ihrem Mann hinterher, dem es völlig egal ist, dass seine Beine doppelt so lang sind und sie einen Weltrekord im Rucksack-Laufen-für-Damen hinlegen muss, um an ihm dranzubleiben. Er dreht den Kopf nur so weit nach hinten, dass der Schall seiner Worte auch bei seiner Frau ankommt: „Komm schon! Mach voran! Sonst schaffen wir das heute nicht!“ Sie ist so außer Atem, dass sie kein Wort herausbekommt. Die Schritte der kleinen älteren Dame sind völlig unbeholfen und unsicher. Es ist nicht zu übersehen, dass sie untrainiert ist. Sie hat keine Ahnung, wie sie den Pfützen, Steinen und Wurzeln auf dem Weg ausweichen soll, ohne ihr Tempo zu verringern. Ihre Wanderstöcke hat sie unter einen Arm geklemmt. Es bleibt keine Zeit sie einzusetzen, ohne darüber zu stolpern. Das Pilgerfeld wird zusehends länger. Die „Besten“ kristallisieren sich sehr schnell heraus. Die „Schlechteren“ straucheln verzweifelt, teilweise schimpfend mit immer größer werdendem Abstand hinterher.

Es ist eine Farce. Was hat das denn mit Pilgern zu tun? Ich bin heilfroh, dass der Reisebus sich nicht nach mir auf diesem Parkplatz eingefunden hat. Die hätten mich garantiert beim Überholen gnadenlos überrannt. Die Kuhherde von gestern kommt mir jetzt gar nicht mehr so angsteinflößend vor. Die Viecher - also die von gestern - waren echt diszipliniert und die Ruhe selbst.

Ich brauche eine Weile, bis ich dieses Schauspiel verarbeitet habe. Der Weg nach Palas de Rei ist überwiegend gut und leicht zu gehen. Die Bars am Jakobsweg-Rand sind heute allerdings nicht zu empfehlen. Hier finden sich in großen Gruppen die ausgesetzten Pilger ein. Sie lamentieren und diskutieren. Auf zwei von ihnen lasse ich mich, an ihren Ambitionen interessiert, ein. Dieses „Vergnügen“ währt aber nur kurz. Sie wollen MIR gute Ratschläge geben, wie man sich am besten auf dem Pilgerweg zurechtfindet. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als sie mich daran erinnern, dass es in Galicien oft regnet und mein Regenschutz immer griffbereit sein sollte. Sie raten mir, auf meine Füße zu achten und Blasen rechtzeitig zu behandeln. Da kennen sie sich nämlich mit aus! Als ob das nicht schon genug wäre, erzählen sie mir, was sie schon alles erlebt haben. Beide wollen nichts von dem hören, was mir bisher so widerfahren ist. Na denn: „Buen Camino!“

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