gleicher Tag (insgesamt 568,6 km gelaufen)

Molinaseca (771 Einwohner), 590 m üdM, Provinz León

Hotel, Einzelzimmer, 40 Euro inklusive Frühstück

Die Sonne strahlt auf diesen Ort und ich kann Mister Starkie nur zustimmen. Träume oder wache ich? Hier herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Ich nehme Ausgeglichenheit, Frieden, Ruhe, Glück und Gelassenheit wahr. Molinaseca hat eine magische Anziehungskraft. Alles scheint zu glitzern und mir zuzurufen: „Fühl Dich einfach wie zuhause. Wir haben auf Dich gewartet und freuen uns, dass Du gesund und munter angekommen bist. Wir haben alles für Dich vorbereitet. Lass Dich einfach überraschen!“

Ich kann mein Glück kaum fassen. Darauf einen Café con leche! Glücklich und zufrieden setze ich mich vor einer der vielen Bars in einen bequemen Stuhl, genieße die untergehende Sonne und das Ende der überaus strapaziösen, abenteuerlichen, fünfzehn Kilometer kurzen Etappe. Ganz tief in Gedanken versunken blicke ich auf den Berg, den ich eben heruntergekommen bin. Mir wird noch einmal bewusst, wie gegensätzlich gerade die letzten beiden Tage waren. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt war ich unterwegs. Mir fällt das Ehepaar aus dem schicken Café in León ein. Ich bin so dankbar für ihre aufbauenden Worte: „Es wird auch wieder leichter. Sie erwarten noch einzigartige Landschaften und mit Sicherheit großartige zwischenmenschliche Erfahrungen.“ Wie wahr! Hätte ich in León ein Taxi zum Flughafen bestellt, blickte ich jetzt, unendlich enttäuscht von mir selbst, auf die Nachbarhäuser in Dormagen. Nicht auszudenken! Auch ohne genau zu wissen, was ich verpasst hätte, könnte ich mir den Abbruch des Jakobswegs niemals verzeihen.

So langsam sollte ich mich um ein Bett für die Nacht kümmern. In einer Gasse entdecke ich den Hinweis auf ein Hotel. Aber wo ist der Eingang? Ich finde lediglich eine Klingel neben einer sehr großen, antiken Stadthaus-Tür. Ein Hoteleingang sieht anders aus. Da ich keine Lust habe, weiter durch die Straßen zu irren, lass ich mich nicht irritieren und drücke fest entschlossen auf die Klingel. Nichts, keine Regung. Na dann, gleich nochmal! Immer noch nichts! Schön dranbleiben, sagt mir mein Gefühl und ich gehe in die dritte Runde. Na also, geht doch! Die obere Hälfte der gewaltigen Holztür öffnet sich und eine typische Flamenco-Tänzerin begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln.

Ja, sie haben Zimmer frei. Der Eingang befindet sich um die Ecke. Es sind wohl so hundert Meter - ich will schon aufgeben - da entdecke ich zwei schöne spanische Tänzerinnen auf einem riesigen Balkon, der von aufwendig verzierten Säulen gestützt wird. Sie winken mir temperamentvoll zu und rufen mich lachend heran. Über eine breite Treppe erreiche ich den Eingang. Es dauert eine Weile, bis sich eine der Señoritas bei mir einfindet.

Ich stehe in einem riesengroßen und sehr hohen Raum. Ich bin tief beeindruckt, fühle mich wie in einem Schloss. Der Boden ist mit sehr großen Kieselsteinen geschmackvoll gefliest. In regelmäßigen Abständen findet man kleinere Kiesel, die einen Rahmen um die größeren bilden. Riesige Bruchsteine zieren von oben bis unten die Wände. Schwere und wertvolle Holzmöbel wurden um einen wunderschönen Kamin herum großzügig angeordnet. Dazwischen befindet sich ein offenes Rotweinfass für alle Gäste, die es sich auf den großen, weichen Kissen auf den Bänken, die den Kamin abgrenzen gemütlich machen wollen. Etwa zwanzig Zentimeter dicke Holzregale sind mit etlichen Weinflaschen bestückt. Runde Glastische, deren Grundgerüst Wagenräder sind, schmiegen sich ebenfalls umlaufend mit dem nötigen Abstand zu den Bänken um den Kamin. Auf antiken, schweren Sideboards wird morgens das Frühstücks-Buffet angerichtet. Im ganzen Raum verteilt findet man landwirtschaftliche Gerätschaften aus längst vergangenen Zeiten. Ich sehe auf den ersten Blick, dass dieses Haus ungewöhnlich gut gepflegt ist. Ich kann fühlen, dass es seit Jahrhunderten aus tiefstem Herzen geliebt wird.

Über eine breite Holztreppe erreichen wir die obere Etage und befinden uns nun in einem sehr großzügigen runden Raum, der ähnlich dekoriert ist, wie der untere. Einige Sitzecken mit gemütlichen Polstern laden zum Verweilen ein. Von hier aus erreicht jeder Gast sein Zimmer. Mir fällt auf, dass es ungewöhnlich viele gebundene Bücher gibt. Während die Señorita mit mir zu meiner Zimmertür schreitet - mein Gang ist nach der Bergwanderung leider nicht mehr ganz so graziös - erfahre ich, dass der Vater oder Großvater der Señorita Schriftsteller ist oder war. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Das Zimmer steht dem bisher gesehenen in nichts nach. Als erstes fällt mir mit einem Ausruf des Entzückens jedoch auf, dass auf dem riesengroßen Bett ein dickes, kuscheliges Plumeau liegt. Das ist für Spanien ungewöhnlich. Normalerweise deckt man sich hier mit mehreren dünnen Decken zu.

Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass ich diese Übernachtung vielleicht vor Antritt der Reise besser bei meiner Hausbank finanziert hätte. Ob ich das bezahlen kann? Ich will aber auch nicht mehr weg! Das Bett, die Dusche, der Ausblick, das ganze Ambiente faszinieren mich so sehr. Vorsichtig frage ich nach dem Preis und jubiliere innerlich. 40 Euro inklusive Frühstück und der Hund ist auch im Preis drin. Sofort rutscht mir der Rucksack von den Schultern.

Wie immer, will ich sofort die Zimmermiete bezahlen. Ach du Schande, ich habe nicht mehr genug Bargeld. Ich will ja auch noch essen gehen. Auf meine Frage, wo der nächste Geldautomat ist, bekomme ich ein klares „no hay cajeros automáticos (es gibt keinen Geldautomaten)“. Bevor ich in Panik verfallen kann, beruhigt mich meine Vermieterin. Sie macht mir mit Händen und Füßen klar, dass sie mir vertraut und ich morgen in Ponferrada zur Bank gehen und ihr den Betrag überweisen könnte. Ja, das außergewöhnlich gute Gefühl, als ich Molinaseca erreichte, hat mich nicht getrügt. Sie haben wohl tatsächlich auf mich gewartet und wollen, dass ich mich wirklich willkommen fühle. „Gracias de todo corazón, señorita (herzlichen Dank).“

Niemand kann sich vorstellen, wie sehr ich gerade die Dusche genieße. Lange - sehr lange! - stehe ich glücklich lächelnd unter dem warmen Wasserstrahl und lasse mich berieseln. Dann mache mich so schick, wie es die Ausrüstung eines Pilgers hergibt und schlendere durch die Gassen auf der Suche nach dem richtigen Restaurant. Dabei komme ich auch an dem Café vorbei, wo ich eben so gemütlich in der Sonne gesessen habe.

Ich führe schon wieder Freudentänze auf! Da sitzt doch tatsächlich Mary mit einer mir unbekannten Frau in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Wortlos falle ich in den freien Stuhl an diesem Tisch. Bruchteile einer Sekunde reichen, um Mary aus der Fassung zu bringen.

Nach einer stürmischen Begrüßung genießt sie Ruddi’s Nähe noch mehr, als er ihre liebevolle Zuwendung und ich muss mit ansehen, wie mein Hund auf ihrem Schoß sitzend, seine Schnauze auf den Tischrand legt und seine Augen zufrieden zu kleinen Schlitzen werden lässt.

Was soll ich viel erzählen... Mary, Lynn, Francine aus Belgien samt ihren Schwestern und ich verbringen den Abend in einem von ihnen ausgesuchten Restaurant. Die Stimmung ist grandios - das Lokal voll besetzt. Bei einigen Gläsern Rotwein und einem herzhaften Pilgermenü lassen wir es bis spät in die Nacht so richtig krachen.

Endlich im Bett, melden sich meine Muskeln ziemlich deutlich. Alles tut mir weh. Mein Körper schreit nach Erholung. Kein Wunder, nach den letzten beiden Tagen durch die Berge und alle Naturgewalten, die sie aufzubieten haben. Ich mache mir noch einmal bewusst, dass ich heute auf fünfzehn Kilometern über 900 Höhenmeter bewältigt habe. Das ist krass! Mann, bin ich gut! Ich decke Ruddi in seinem Taschenbett zu und hab Tränen in den Augen. Was dieser kleine schwarze Mischlingsrüde so drauf hat, ist gigantisch. Nach einem Küsschen auf seine Stirn und beruhigenden, dankbaren Worten zu meinem Körper schlafe ich glückselig ein.

5 1/2 Wochen
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