Gleicher Tag (insgesamt 251,6 km gelaufen)
Villafranca Montes de Oca (191 Einwohner), 948 m ÜdM, Burgos
Casa Rural, Doppelzimmer, 18 Euro pro Person ohne Frühstück
Der Ort ist sehr überschaubar. Zunächst komme ich an einem riesigen Parkplatz vorbei, an dessen Ende sich einige Geschäfte und - soweit ich das aus der Feme erkennen kann - ein Restaurant befinden. Vielleicht gehe ich da heute Abend essen. Aber zuerst muss ich mal sehen, wo ich übernachten kann. Und danach, ohne Rucksack auf dem Rücken, muss ich Futternachschub für Ruddi besorgen. Es ist ja noch relativ früh, das sollte kein Problem sein.
Direkt an der Hauptstraße ohne Bürgersteig quetsche ich mich, vor den vorbeidonnernden LKW Schutz suchend, in einer Kurve an der Hauswand entlang und falle fast in die offenstehende, sehr breite, uralte Eingangstür. Na ja, wenn ich schon mit einem Fuß drin bin, dann soll der zweite wohl auch noch hinterher. Ist das hier privat oder für die Öffentlichkeit zugänglich? Ich stehe in der ziemlich langen Diele ein wenig ratlos herum, als eine junge Frau aus einem Zimmer tritt. Bevor ich mich entschuldigen kann, begrüßt sie mich herzlich und fragt nach meinem Anliegen. Ich mache ihr klar, dass ich ein Zimmer für eine Nacht suche und sie schlägt sofort ein dickes Buch auf, schaut kurz hinein und nimmt einen Schlüssel aus der Schublade eines antiken Sekretärs. Sie bittet mich, die Treppe hinauf zu gehen. Völlig überrascht, auf diese Weise eine Unterkunft „gefunden“ zu haben, zeige ich fragend auf Ruddi, den sie bis jetzt nicht sehen konnte, weil er in der schmalen, dunklen Diele hinter mir stand. Sie lacht und schubst mich freundlich auf den Weg nach oben. Unterm Dach angekommen präsentiert sie mir ein kleines gemütliches Zimmer. Das gepflegte Bad befindet sich auf dem Flur. Es gibt noch zwei weitere Zimmer auf dieser Etage, dessen Bewohner sich mit mir das Bad teilen. Ich frage nach dem Preis. Sie erklärt mir, dass es sich um ein „Casa Rural“ handelt und die Übernachtung lediglich 18 Euro kostet. Im Erdgeschoss gibt es eine Gemeinschaftsküche, die ich benutzen dürfte. Casa Rural bedeutet: Haus mit mehreren Zimmern und gemeinschaftlichen Einrichtungen wie Küche, Bad und Wohnzimmer. Teilweise wohnen die Besitzer mit privatem Bereich im Haus. Diese Häuser werden meist zimmerweise, teils mit, teils ohne Verpflegung vermietet. Prima, dann weiß ich das jetzt auch. Da hat sich mir eine neue, sehr angenehme und dazu preiswertere Möglichkeit aufgetan.
Nachdem ich meinen Rucksack abgestellt und die Schuhe gewechselt habe, begebe ich mich wieder nach draußen und laufe die Hauptstraße weiter entlang. Ruddi verlangt morgenfrüh sein wohlverdientes Futter. Nach zirka 500 Metern finde ich auf der rechten Seite einen kleinen Laden. Vor der Tür sitzen an einem Bistrotisch drei Spanierinnen in meinem Alter und amüsieren sich köstlich. Worüber weiß ich noch nicht so genau. Lachen die mich etwa aus? Ich höre mehrmals das Wort „rata“. Wollen die etwa meinen tapferen kleinen Hund als Ratte beschimpfen? Sollten die wirklich so bösartig sein? Das kann ich mir nun auch wieder nicht vorstellen. Ich bleibe freundlich, binde Ruddi an einen Pfahl unweit ihres Tisches und betrete den Laden.
Nach einigen Anlaufschwierigkeiten versteht der freundliche Verkäufer, dass ich Futter für meinen Hund benötige. Er erklärt mir wild gestikulierend: „No Futter para el perro, pero Futter para la rata.“ Da! Schon wieder dieses Wort! Dann kann das nicht Ratte heißen, es heißt bestimmt Katze. Die Frauen finden also meinen Ruddi so süß wie eine Katze. Na klar, das Wort hat der sympathische „in-Schluppen-Verkäufer“ in Lorca doch auch benutzt! Also übersetze ich das mal mit: „Kein Futter für den Hund, aber Futter für die Katze.“ Meine Antwort lautet also: „Si, si, okay, Futter para la rata.“ Er sieht mich erstaunt an und fängt laut an zu lachen. Also, wenn die jetzt hier so weiter machen, kauf ich gar nichts! Ich lass mich doch nicht hochnehmen! Hab ich vielleicht ne Spaghetti im Gesicht? Wo bin ich denn hier gelandet? Bevor ich mich entschließe den Laden einfach zu verlassen, hat er mir das Trockenfutter eingepackt und nennt mir den Preis. Ich gebe ihm den gewünschten Euro und treffe draußen wieder auf die gut gelaunten Frauen.
Sie zeigen auf die Tüte und ich habe nichts Besseres im Sinn als ihnen zu erklären: „No Futter para el perro, pero Futter para la rata esta bien.“ Frei übersetzt: „Kein Futter für den Hund, aber Futter für die ,Katze´ ist gut.“ Sie halten sich den Bauch vor Lachen: „Rata... hahahihihaho... rata!“ Boah, ich muss hier weg, was denken die sich bloß?! Unverschämtheit! Verärgert trete ich den Rückweg an. Mit einiger Anstrengung lenke ich meine Gedanken wieder in eine positivere Richtung.
„Zuhause“ angekommen, stelle ich mich erst mal ausgiebig unter die Dusche. Dann mach ich mich so „schick“ es geht und suche mit Ruddi in der Tasche das Restaurant am Parkplatz auf, das ich bei der Ankunft in Villafranca entdeckt hatte. Das vornehme Lokal ist gerammelt voll. Alle Tische sind besetzt. Also stelle ich mich in zweiter Reihe an die Theke und bestelle mir ein „lecker Bier“.
Damit ich das Getränk überhaupt annehmen kann, macht der Mann neben mir Platz. Er prostet mir zu und spricht mich auf Englisch an. Er heißt Paul, ist 45 Jahre alt und kommt aus Colorado. Wir beide verstehen uns auf Anhieb. Mein Schulenglisch von vor 35 Jahren funktioniert wie von Geisterhand. Wir können uns gut verständigen und haben eine Menge Spaß. Nach einer Stunde wird endlich ein Tisch frei und wir stürzen uns fast gleichzeitig darauf. Wir haben beide mittlerweile sehr großen Hunger und bestellen uns eine Suppe. Das übliche Pilgermenü wird hier leider nicht angeboten. Das ist mehr ein Café als ein Restaurant. Es werden nur einzelne Tapas angeboten. Na ja, ist nicht so schlimm. Ein komplettes Menü habe ich mir heute nach schlappen 12,2 Kilometern auf dem Camino auch nicht wirklich verdient.
Nach dem Essen trinken wir ein weiteres Bier, bei dem Paul mir erzählt, dass er am 11. September 2001 in New York drei Freunde verloren hat. Sie hielten sich in den Türmen des World Trade Centers auf, als der Anschlag verübt wurde. Er weint, als er sich erinnert. Während er damals im Fernsehen das Geschehen verfolgte, bekam er die Nachricht über das wahrscheinliche Schicksal seiner Freunde per Telefon von seinen Eltern, die sich zu der Zeit in New York aufhielten. Er berichtet mir von seiner Angst, dass dort noch mehr passieren könnte und kam fast um vor Sorge um seine Eltern. Dass es seine Freunde tatsächlich getroffen hatte, erfuhr er einige Tage später. Mein Gott, muss das schockierend gewesen sein! Die ganze Welt war erschüttert über diese Anschläge. Wie verkraftet ein Mensch so eine Nachricht? Ich umarme ihn wortlos und nach einigen Minuten hat er sich wieder gefangen.
Um unsere Stimmung wieder anzuheben suche ich nach einem anderen Thema. Mir fällt meine „Shoppingtour“ vom Nachmittag wieder ein. Ich frage ihn nach seinen Spanisch-Kenntnissen. Er hat mal ein bisschen Spanisch gelernt. Prima! „Was heißt rata auf Deutsch?“ Er antwortet: „Ratte“, und sieht mich fragend an. In meinem Hirn „rattern“ die Maschinen. Wie Ratte? Was hat Ruddi’s Fressen denn mit Ratten zu tun? Ist das etwa gar kein Katzenfutter, das ich für einen einzigen Euro gekauft habe? Deswegen war das so preiswert! Haben die Frauen etwa insgeheim meinen Hund als Ratte beschimpft? Wenn die mir morgen über den Weg laufen, hau ich die um! Paul will endlich wissen, was es mit den Ratten auf sich hat. Aufgeregt und entsetzt über die Unverschämtheiten des Nachmittags erzähle ich ihm die Geschichte. Voller Mitgefühl meint er: „Ich habe schon oft gelesen und gehört, dass die Spanier keine Hunde mögen. Nimm das doch nicht so ernst. Morgen gehst Du hier weg und siehst die nie wieder.“ „Aber ich bin jetzt schon seit fast zwei Wochen auf dem Jakobsweg und bis heute Nachmittag habe ich gegenteilige Erfahrungen gemacht. Sie lieben meinen Hund und das geht auch gar nicht anders.“ Zu allem Überfluss fällt mir Lorca wieder ein und berichte Paul auch von diesem Hundefutter-Einkauf. „Ich will und kann nicht glauben, dass dieser nette Mann mich und meinen Hund hinterrücks beleidigt hat. Außerdem: Wenn man Ruddi mit einem anderen Tier vergleichen will, dann hat er die Statur einer Katze. Mit einer Ratte hat der rein gar nichts gemein.“ Ich bin zutiefst enttäuscht. Paul fragt noch einmal genauer nach dem Wortlaut und grübelt über die Sache nach. Plötzlich fängt er an zu lachen: „Du hast Dich bestimmt verhört. Katze heißt auf Spanisch ,gata´. Rata und gata kann man doch leicht verwechseln.“ Natürlich, jetzt wo er das so sagt... die haben die ganze Zeit von gata gesprochen. Niemand hat uns runter gemacht! Keine Geringere als ich selbst war es, die den Frauen draußen von „Rata“-Futter erzählt hat. Kein Wunder, dass die sich köstlich amüsiert haben. Ich werde im Nachhinein rot und schäme mich meiner schlechten Gedanken. Wow! Gut dass wir mal drüber gesprochen haben!
Mir fällt auf, dass Paul Jeans trägt. Das ist völlig untypisch für Pilger. Eine Jeans kann man nicht mal eben waschen und trocknen. Außerdem ist sie auch noch relativ unbequem und hat viel Gewicht. Paul findet es „funny“, dass mir das auffällt. Er wird täglich darauf angesprochen. Er glaubt, dass er der einzige Pilger ist, der in Jeans den Jakobsweg läuft. Darauf noch ein Bier und dann geht es ab in die Kojen. Erst als wir das Café verlassen und ich die Ruddi-Tasche öffne, merkt Paul, dass er den ganzen Abend neben einem Vierbeiner gesessen hat. Perrito hat bei all dem Trubel regungslos und ruhig in seinem „Bett“ gelegen. Mein Begleiter ist sehr von „mi rata“, wie er die völlig ahnungslose „Katze“ nun zärtlich und ganz leise nennt, angetan und begrüßt ihn liebevoll.
So erfahre ich, dass mein Hund und ich Thema sind, wenn sich die Pilger in den Bars treffen und erzählen, was sie außergewöhnliches gesehen oder erlebt haben: „Es gibt eine Frau die mit einem kleinen schwarzen Hund auf dem Weg ist.“ Ab morgen gibt es ein weiteres Thema: „Ein Mann namens Paul läuft in Jeans den Jakobsweg.“ Da werde ich höchstpersönlich für sorgen.
Paul bringt mich noch bis vor die Tür meines Casa Rural. Zum Abschied nimmt er mich sehr herzlich und ausgiebig in den Arm: „Ich möchte Dich gar nicht wieder loslassen. Dieser Abend hat mir so gut getan. Versteh mich bitte nicht falsch, aber diese Umarmung genieße ich gerade sehr. Darf ich Dich noch ein bisschen festhalten?“ Ich schaue ihm in die Augen und erkenne, dass er es genauso meint, wie er es gesagt hat. So stehen wir noch einige Minuten eng umschlungen da und genießen die menschliche Nähe und Wärme. Zum Abschied gibt es noch ein Küsschen und die Gewissheit, dass wir uns, bis wir Santiago de Compostela erreicht haben, mit Sicherheit nochmal wiedersehen. „Buen camino.“
Bevor ich einschlafe, wird mir wieder bewusst, wie facettenreich das Leben ist: Ich bin außer mir vor Freude und fühle mich geborgen und glücklich wenn ich mit Sabrina, Edit, Oliver und Achim zusammen bin. Wir sind ausgelassen, albern und lachen über alles, was sich dafür anbietet. Ich genieße die Unbeschwertheit und Leichtigkeit in ihrer Gesellschaft. Wir umarmen uns jedes Mal wenn wir uns treffen oder verabschieden. Aber das, was Paul mir eben vermittelt hat, war eine ganz andere Nähe. Auch Hermann hat mir so viel gegeben. Ich liebe seinen Humor, der meinem so ähnlich ist. Wir haben vor Lachen so manches Tränchen vergossen und uns eine Zeitlang gegenseitig versorgt, bis er dann zu meinem Bedauern zu vereinnahmend wurde. So einige Spanier haben mir selbstlos aus der Patsche geholfen und Mary und Lynn, meine Kanadierinnen, haben immer ein Auge auf mich, da bin ich mir sicher. Die Aachener, Franz- Josef und Gabi sorgen dafür, dass ich kleine Überraschungen, wie zum Beispiel eine Nachricht im Schnee, finde. Ina macht mir klar, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss, um mit schweren Diagnosen weiterleben zu können. Aus Sören spricht Ruhe Gelassenheit und Humor in jeder Situation. Er hat den Schalk im Nacken. Pia ist die, die deutlich macht, dass zu gegebener Zeit auch Trauer wichtig und angebracht ist. Dagmar-die-Negative erinnert mich daran, dass man sich auch mal entziehen muss um nicht in Negativität zu ertrinken. Und nicht zuletzt haben mir die drei Spanierinnen heute Nachmittag gezeigt, dass man schon genau hinhören muss, was der andere sagt. Ruddi erinnert mich so oft daran, immer schön im Hier und Jetzt zu leben. Ein Hund findet im Moment irgendetwas doof bellt und knurrt wie wild. Dann schüttelt er sich kräftig und läuft schwanzwedelnd fröhlich weiter. Alles zusammengenommen ist es das, was eine funktionierende Familie ausmacht. Jeder hat seinen Part und alle zusammen sind eins.