Mittwoch, 7. Mai 2008

Puente de Villarente (154 Einwohner), 804 m üdM, Provinz León

23. Etappe bis Virgen del Camino, 20,2 km

Zum Frühstück gibt es heute nur auf die schnelle einen Café con leche und ein Croissant. Ich bin ein bisschen nervös. Nach den nächsten dreizehn Kilometern führt meine geplante Etappe durch León. Meine Liebe gilt den Weilern, allenfalls den großen Dörfern. Mehr brauche ich nicht. Die Großstadt, in diesem Falle mit fast 131.000 Einwohnern ist mir viel zu anstrengend. Bin jetzt schon froh, wenn ich dadurch bin.

Dem Himmel sei Dank, hinter einer Tankstelle am Ortsausgang führt der gelbe Pfeil den Pilger ein Stück von der Nationalstraße weg durch die Felder. Ich schweige und genieße. Nach fast fünf Kilometern erreichen wir Arcahueja. Der Weg dahin ist ganz schön steil. Das bin ich gar nicht mehr gewöhnt. Aber ich kann es noch. Ich genieße die abwechslungsreiche Landschaft und höre nur wenige hundert Meter von mir entfernt die Autos auf der Schnellstraße vorbeirauschen. Im Gegensatz zu gestern, sind die meilenweit entfernt.

Ich beschließe, hier keine Bar aufzusuchen. Ich müsste einen kleinen Umweg machen. Das widerstrebt mir wie immer sehr. Ach, hab ich doch gar nicht nötig! Ich steuere eine Großstadt an, da wird sich die Gelegenheit bestimmt schon bald wieder bieten.

Bei einem Blick auf den Kirchturm habe ich schon wieder das Vergnügen, ein Storchenpaar zu beobachten. Scheint eine beliebte Region bei den großen Vögeln zu sein. Ihr Flug ist beeindruckend, so elegant und trotzdem kraftvoll. Erstaunlich, dass sie beim Landeanflug auf das Nest nicht alles an die Erde reißen. Weit gefehlt: Sie schweben förmlich heran und lassen sich in Zeitlupe punktgenau vor ihrem im Nest wartenden Partner nieder.

Ungefähr drei Kilometer später geht es wieder ab auf die Nationalstraße N-601. Sie führt über den Alto del Portillo (890 m), den es also zu „bezwingen gilt”. Es ist ein Horrortrip. Die Straße ist insgesamt vierspurig und zweimal zu überqueren. Es gibt keinen Fußgängerüberweg oder ähnliches. Es ist, als ob ich mich in Deutschland trauen müsste, zu Fuß mit einem Rucksack und einem kleinen Hund bekleidet, eine Autobahn im Ruhrgebiet während des Berufsverkehrs zu überqueren. Zunächst halte ich andächtig inne, spreche ein Stoßgebet nach dem anderen und beobachte andere Pilger, ob und - wenn überhaupt - wie sie die andere Seite erreichen. Irgendwann hab auch ich den „Absprung” geschafft und „renne”, so schnell ich kann.

Heil drüben angekommen finde ich mich auf einem Etappenabschnitt des Caminos wieder, der für Schwerverbrecher, die ganz viel Buße tun müssen, angelegt sein muss. Hier laufe ich nun durch die nur halbwegs befestigte Regenrinne auf der linken Seite der Autobahn und ein Ende ist nicht in Sicht. Wie lange muss ich das wohl durchstehen? Ich weiß es nicht wirklich, aber ich schätze, dass es so zwei Kilometer waren, als ich endlich aus diesem Albtraum erwachen darf.

Ab hier bewege ich mich zumindest wieder auf einem, durch eine Leitplanke von den vielen Autos getrennt, befestigten, nicht asphaltierten Weg. Was für ein Luxus! Es ist zwar immer noch ohrenbetäubend laut, aber wir sind außer Lebensgefahr. Nun liegt mir León zu Füßen. Es ist zum Greifen nah und riesengroß. Ich lasse meinen Blick über die ganze Stadt schweifen und kann kaum glauben, dass ich sie heute noch bezwingen werde und anschließend immer noch fast acht Kilometer vor mir liegen, wenn ich mein Etappenziel erreichen will.

Ruddi und ich sind uns einig, dass wir uns einen Moment hinsetzen müssen, auch wenn es gerade sehr unromantisch ist. Genießen geht anders. Ich halte das nicht lange aus. Ich muss weg! Es ist laut und stinkt. Ich möchte zaubern können, einmal blinzeln und schon sind wir durch. Das wäre toll.

Was mache ich hier eigentlich. Wie weit will ich mich denn noch selber runterziehen? Sofort höre ich auf zu denken und konzentriere mich einzig und allein auf den Takt meiner Schritte. Ich kriege tatsächlich so etwas Ähnliches wie eine Meditation hin. Nach einer guten Stunde machen wir einen Boxenstopp in einer Bar in Puente Castro, dem ersten Stadtviertel Leons. Es ist sehr unpersönlich hier. Eben Großstadt. Trotzdem brauchen wir beide eine halbe Stunde, um unsere Akkus wieder aufzuladen.

Gegen 14 Uhr erreichen wir die Altstadt von León und ich finde schon seit einiger Zeit keine gelben Pfeile oder sonstigen Camino- Hinweisschilder mehr. Ich fühle, dass ich mich verlaufen habe. Immer wieder spreche ich Menschen an, wie ich denn wohl wieder auf den rechten Weg kommen könnte. Sie wollen es mir auch erklären, aber es ist so verwinkelt hier, es gibt so viele Gässchen, dass ich immer im Kreis laufe. Irgendwann gehe ich einfach meiner Nase nach, nur um hier wegzukommen - egal wo ich auskomme, Hauptsache nicht wieder an der gleichen Stelle.

Hoppla! Das ist aber eine große Kirche, ob das die Kathedrale ist? Dann wäre ich ja wahrscheinlich schon mitten in der City und hätte die Hälfte des Stadtmarathons hinter mir! Ich schau mir das gewaltige Gebäude gerade interessiert an, da spricht mich eine Frau auf Englisch an. Sie pilgert auch, übernachtet aber hier in der Stadt. Sie zeigt auf ihre Herberge auf der anderen Straßenseite. Ich sehe ihr an, dass auch sie froh ist, für heute mit ihrem Pensum durch zu sein. Als sie von meinem Dilemma hört, bringt sie mich wieder auf die markierte Route und weist mir den Weg Richtung Kathedrale. Okay, ich bin also noch nicht durch die halbe Stadt gelaufen, aber wieder auf dem Camino Francés. Das fühlt sich gleich ganz anders an. Denken Sie von mir, was sie wollen, aber der Pilger kann fühlen, ob er sich auf dem richtigen Pfad bewegt. Es müssen die Energien der Millionen Pilger sein, die sich hier im Laufe der Jahrhunderte fortbewegt haben.

Nach zwanzig Minuten stehe ich dann vor der wahrhaftigen Kathedrale. Wie imposant! Einen Moment überlege ich, hinein zu gehen. Aber das lässt die Zeit nicht zu. Ich habe noch mindestens zehn Kilometer vor mir und will auf keinen Fall morgen früh in einer Großstadt aufwachen und den Tag im Verkehrschaos beginnen. Also weiter!

Ich finde schon wieder keine gelben Pfeile. Das gibt es doch gar nicht. Gerade hier müssen welche sein. Obwohl tausende Menschen unterwegs sind, kann mir niemand zeigen, wo ich weiter gehen muss. Ich fasse es nicht. Ich weiß nicht, was mir das sagen will: Jede Großstadt auf dem Pilgerweg ist mein persönlicher Irrgarten. Das kann nur daran liegen, dass ich mich innerlich so gegen sie sperre. Also folge ich wieder meiner Nasenspitze und laufe blind drauflos. Mir kommt der Gedanke, dass ich hier in León große Chancen hätte, mich in einen Zug zu setzen, der Richtung Flughafen fährt. Warum wollte ich den Jakobsweg gehen? Muss ich mir das wirklich antun? Ich könnte auch nach Hause fliegen und es mir gemütlich machen. Vielleicht mache ich das heute noch. Ich mag nicht mehr. Es reicht!

Wenn ich mich so umschaue, muss ich Ihnen sagen, dass es fast unfair ist, so von León zu schreiben. Diese Stadt, die im 11. und 12. Jahrhundert unter Alfons V. zur Hauptstadt des christlichen Spaniens aufstieg, ist wunderschön. Mit Sicherheit ist sie eine Drei-Tage-Reise wert, um all ihre geschichtsträchtigen Sehenswürdigkeiten genießen zu können.

Auf einer breiten vierspurigen Straße, immer noch mitten in León betrete ich ein Café. Es ist keine der üblichen Bars, es ist ein richtiges Stadtcafé, so wie ich es auf der Kölner Schildergasse oder der Düsseldorfer Kö auch finden würde. Leckere Torten werden angeboten. Der Kellner ist schwarz-weiß gekleidet und frisch geduscht. Er hat seinen Job gelernt, das sieht man an seiner ganzen Haltung und Bewegung. Auf den vielen Tischen stehen Blumen und Kerzen auf geplättetem Leinentuch.

Ich lasse mich auf einem der ledergepolsterten Stühle nieder und nehme tatsächlich zu meinem Café con leche ein Stück Kuchen. Trotz der ungewohnt feinen Räumlichkeiten ist Ruddi auch herzlich willkommen. Er liegt wie immer eingekringelt auf seiner hellblauen Decke. „Die hätte auch mal wieder eine Wäsche verdient!“ schießt es mir durch den Kopf. Ich blättere in meinem Reiseführer, um herauszufinden, wo der direkte Weg aus der Stadt führt. Völlig überraschend und mich aus meinem „Studium“ reißend, spricht mich ein junges Ehepaar an. Dankbar für die Abwechslung und gespannt darauf, was das für Menschen sein mögen, biete ich ihnen die freien Plätze an meinem Tisch an.

Ganz ungewöhnliche Situation: Ich habe gar nicht das Bedürfnis großartig zu reden, sondern das seltene und eigenartige Gefühl, das in diesem Moment „Schweigen Gold ist“. Friedlich und gelassen schweigen, kann man nur mit sehr engen Vertrauten. Ich sehe diese beiden aber zum ersten Mal, und trotzdem fühle ich mich sauwohl in dieser ungewohnten Stille. Ich habe das angenehme Gefühl, dass um uns herum gar nichts mehr ist. Sie sehen sehr sympathisch aus, haben leuchtende Augen, freundliche Stimmen. Sie sind sehr gepflegt und gut gekleidet. Sie strahlen Harmonie, Freude und Frieden aus. Aber auch sie fragen mich gar nichts. Sie sehen mich einige Minuten nur an, schauen gedankenverloren auf Ruddi und auf meinen Rucksack, der hinter ihm steht. Sie müssen in den Schweigeminuten meine Gedanken und Gefühle telepathisch empfangen haben. Ohne große Umschweife, leise und ganz klar, fangen sie an zu erzählen: „Wir sind vor drei Jahren ebenfalls den Jakobsweg komplett durchgelaufen. Wir waren damals, hier in León, genau wie Sie, fix und fertig und wussten gar nicht mehr, warum wir uns das alles antun. Wir überlegten ernsthaft, den Weg abzubrechen. Der viele Verkehr hatte unser Gehirn vernebelt. Zum Glück haben wir es nicht getan. Wir versprechen Ihnen, wenn Sie jetzt durchhalten, werden Sie tausendfach entschädigt. Der Weg hat Ihnen noch so viel zu bieten. Es wird auch wieder leichter, wenn Sie durch dieses Großstadt-Getümmel durch sind. Sie erwarten noch einzigartige Landschaften und mit Sicherheit großartige zwischenmenschliche Erfahrungen. Wir wissen, dass Sie es sich nie verzeihen würden, wenn Sie heute, nach so vielen gelaufenen Kilometern und den unterschiedlichsten Erlebnissen, einfach aufgeben würden.“

Mit Tränen in den Augen schau ich sie an: „Ich kann grad nicht mehr!“ Sie lächeln, stehen vom Tisch auf und verabschieden sich mit den Worten: „Hinter uns liegen drei wunderschöne Urlaubstage hier in León. Unser Flieger geht gleich, wir müssen los. Wir denken an Sie und Ihren kleinen treuen Freund und schicken Ihnen jeden Tag ganz viel positive Energie. Buen camino!“ Was war das denn? Ich schaue ihnen hinterher und mir ist schlagartig klar, dass ich niemals den Camino einfach verlassen werde. Diese Leute hat mir der Himmel geschickt. Sie haben mir wieder Mut gemacht. Wie einfühlsam muss ein Mensch sein, einem völlig Fremden so wirkungsvolle Worte zu sagen.

Nur wenige Minuten später verlasse auch ich das Café mit frischem Mut. Auf einmal sehe ich die Wegweiser wieder und verliere sie auch nicht mehr aus den Augen. Und noch etwas springt mich förmlich an: Eine Boutique für Hunde! Sofort erinnere ich mich an mein fehlgeschlagenes Unternehmen, in Pamplona für Ruddi ein Regencape zu kaufen. Möglicherweise klappt das hier und jetzt, so völlig aus dem Nichts heraus.

Ruddi wird mit mehreren Leckerchen und Streicheleinheiten begrüßt, als wir den Laden betreten - ich nicht. Mir sagt die Señorita lediglich, aber herzlich „Hola“. Mein Hund ahnt schon, was da auf ihn zukommt und zieht den Schwanz ein. Er hat nicht viel Zeit, Frust aufzubauen, denn die nette Frau hat sofort einen Regenmantel für meinen Gefährten griffbereit. Sie fackelt nicht lange, schmeißt sich ihm vor die Füße und innerhalb von Sekunden wird aus meinem kleinen schwarzen Vierbeiner ein knallrotes Feuerwehrauto mit Startschwierigkeiten. Das Modell passt zwar wie angegossen, aber Perrito ist wieder in eine plötzlich auftretende Starre verfallen. Die Verkäuferin versteht das gar nicht und ist entsetzt. Ich glaube, sie hat die Befürchtung ihren tierischen Kunden für immer geschädigt zu haben. Ich befreie ihn von dem Ding und pack es - nach dem Bezahlen und beruhigenden Worten in Richtung der Señorita - ganz tief in meinen Rucksack. Bin mal gespannt, wann und ob überhaupt dieses Accessoire zum Einsatz kommt.

Der Weg aus der Stadt will kein Ende nehmen. Er ist so lang, so steil nach oben, so verkehrsreich, die Bordsteine sind so hoch, dass kleine Kinder eine Leiter brauchen. Und es gibt viele Querstraßen, also auch viele Bordsteinkanten. Und es ist heiß, unglaublich heiß. Immer wieder rufe ich mir die Begegnung mit dem Ehepaar ins Gedächtnis. „Halt durch - es lohnt sich! Auch das geht vorüber!“

Das untrügliche Zeichen dafür, dass León endgültig hinter mir Hegt, sind die Bahngleise, die es zu überqueren gilt. Und genau da bin ich jetzt angekommen. Die allerletzte Kneipe Leons, direkt hier am Güterbahnhof, soll mir kurz ein bisschen Abkühlung und eine Erfrischung bringen. Sieht nicht gerade Vertrauen erweckend aus, aber ich betrete sie trotzdem. Ich brauche einen Stuhl, Flüssigkeit und etwas Salziges. Mein Körper schreit danach. Und wenn ich da drinnen mit irgendjemandem kämpfen muss, einfach weil ihm danach ist, dann mach ich das. Ich hau alle um, die sich mir in den Weg stellen.

Vor und hinter der Theke befinden sich ein paar durchtrainierte „harte Jungs“. Der Raum ist sehr dunkel und einfach eingerichtet. Die Rollladen an den Fenstern sind dreiviertel heruntergelassen. Ich besorge mir eine Cola und eine kleine Tüte Chips. Alleine sitze ich an einem langen Tisch, mit dem Rücken zur Tür und zu den Männern. „Lasst mich bloß alle in Ruhe! Ich bin gleich wieder weg!“ suggeriere ich ihnen. Da betreten fünf ausgeflippt bekleidete ganz junge und wilde Menschenkinder die Kneipe und fragen überraschend höflich, ob sie sich zu mir setzen dürfen. Ich überrasch mich selbst und stimme zu. Es gibt bestimmt wieder irgendeine Message für mich, die wichtig ist. Immer offen bleiben...!

Schon nach wenigen Minuten weiß ich worum es geht. Die jungen Wilden sind super gut drauf. Da sie nur Spanisch und ein bisschen Englisch sprechen, wissen wir alle nicht so genau, worüber wir lachen. Aber wir haben Spaß. Sie interessieren sich für meine Erlebnisse auf dem Pilgerweg und ich erzähle wieder mit vollem Körpereinsatz davon. Sie finden es riesig, dass ich mit dem kleinen süßen Ruddi unterwegs bin, der momentan von einem Schoß auf den nächsten wandert. Diese Begegnung hat meine gute Laune aus dem dunklen Keller wieder ans Tageslicht geholt.

Bis Virgen del Camino sind es gute vier Kilometer, die es allerdings in sich haben. Bergauf und bergab geht es weiter über die Nationalstraße und durch Industriegebiete. Kurz vor der Stadt, überholen mich vier Reiter. Eins der Pferde ist nicht gut drauf. Das macht mich ziemlich nervös, weil der Reiter so grob zu dem Tier ist. Das Pferd bockt immer wieder - auch auf der sehr stark frequentierten Hauptstraße noch. Ich hoffe inständig, dass da nichts passiert. Sie führen ihre Pferde am Halfter vor mir über den Bürgersteig und der Abstand zwischen ihnen und mir wird viel zu langsam größer. Es fällt mir schwer, dabei zuzusehen, wie der eine immer wieder sein Pferd schlägt. Gerade als ich mir vornehme, die Männer doch nochmal einzuholen, um meinen Kommentar dazu abzugeben, hat ein anderer der Reiter ein Einsehen und tauscht mit dem genervten sein Pferd. Danach biegen sie in eine Seitenstraße ab und sind verschwunden.

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