Gleicher Tag (insgesamt 372 km gelaufen)

Villalcázar de Sirga (229 Einwohner), 809 üdM, Palencia

Casa Rural, Doppelzimmer, 20 Euro pro Person ohne Frühstück

Das erste Hotel finde ich direkt am Ortseingang. Es ist schnuckelig, lädt zum Verweilen ein. Mir fallen sofort die vielen Fahrräder auf, die hier abgestellt wurden. Ich werde mit Ruddi an der Leine lachend und herzlich empfangen, aber auch unverzüglich und dringlich weitergeschickt. Frei übersetzt sagen sie mir: „Du musst sofort woanders ein Zimmer suchen, wir sind voll belegt. Gegenüber die Herberge ist auch schon gnadenlos überfüllt. Beeilung, sonst wird es eng! Venga, venga!!!“ Die nette Frau schiebt mich quasi zum Ausgang. Schade, hier würde ich so gerne bleiben, dieses Haus strahlt so viel Liebe zum Gast aus. Das haben wohl viele andere vor mir auch schon erkannt. Es hilft nichts! Ich gehorche.

Enttäuscht und vollkommen am Ende angesichts so viel Stresses setze ich mich auf die breite Treppe vor der Herberge, die tatsächlich genau gegenüber angesiedelt ist. Ich bin damit beschäftigt mich zu sammeln, als mich der Herbergsvater anspricht: „Ich habe Dich doch eben noch in Villarmentero gesehen. Da warst Du aber schnell unterwegs.“ Ich staune nicht schlecht, als der autoritäre Radfahrer vor mir steht. Ich bin erstaunt, dass er meine Sprache so gut spricht und erfahre, dass er Holländer ist. Er nimmt neben mir Platz und sieht sofort wie fertig ich bin - dass da gar nichts mehr geht. Mit seiner beruhigenden Hand auf meiner Schulter höre ich ihn sagen: „Ich fahre jetzt mit dem Fahrrad durch den Ort und guck mal was ich für Dich tun kann. Bleib einfach hier sitzen. Bin gleich wieder da.“

Eine Viertelstunde später ist er zurück: „Es ist kein Bett mehr frei. Du musst per Anhalter nach Carrión fahren. Hier kannst Du nicht bleiben.“ Mit Tränen in den Augen gebe ich ihm zur Antwort: „Ich will unter keinen Umständen fahren, ich will laufen. Ich will nicht weiter und ich kann auch nicht mehr.“ Meine Botschaft ist bei ihm angekommen: „Moment, ich fahr noch mal.“ Schwungvoll radelt er erneut von dannen. Nach einer halben Stunde ist er wieder bei mir und sagt: „Ich habe ein Bett für Dich gefunden. Allerdings steht das in einem Doppelzimmer. Es ist schon belegt von einem älteren Señor. Wenn Du da kein Problem mit hast, kannst Du Dir mit dem Mann das Zimmer teilen. Es ist im Casa Rural.“ „Das ist also gar kein Hospitalero, sondern ein Engel“, denke ich und antworte spontan: „Kein Problem! Mir egal! Hauptsache ein Bett!“

Er fackelt nicht lange, zieht mich von der Treppe hoch, auf der ich mich mit dem Rucksack auf dem Rücken Dreiviertelstunde lang steifgesessen habe und bietet mir an, mein Gepäck auf dem Fahrrad zu transportieren. Das lehne ich natürlich ab, obwohl es für einen Moment sehr verlockend war. Er begleitet mich im rasanten Tempo zu diesem Haus. Ich habe Mühe mitzuhalten. Aber es pressiert nun mal, nicht dass mir jemand zuvorkommt und auch mit diesem spanischen Pilger-Señor schlafen will. Ruddi läuft an der Leine neben mir. Verstecken und tragen ist jetzt nicht mehr drin. Das muss so klappen! Ich habe auch keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Wir durchqueren den ganzen Ort, mehrmals höre ich bestätigend: „Qué buena compañía.“ Wenn die Leute am Straßenrand meine Begleitung entzückend finden, wird das die Wirtin des Casa Rural genauso sehen.

Tatsächlich empfängt sie uns sehr freundlich und erwartungsvoll. Sofort führt sie mich zu dem Zimmer, in dem der mir unbekannte Spanier bereits wohnt. Sie macht einen gehetzten, dennoch freundlichen Eindruck auf mich. Sie musste heute bestimmt schon viele Pilger enttäuschen, weil sie keine freien Zimmer mehr anbieten kann. Meinen kleinen vierbeinigen Begleiter nimmt sie lächelnd zur Kenntnis. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wir laufen auf dem Bürgersteig um das ganze Anwesen herum und auf der Rückseite angekommen, schließt sie ein Holz-Tor auf. Wir stehen auf einer Veranda, von der aus man in fünf Zimmer gelangt. Jedes hat seine eigene Tür.

Sie klopft an die dritte und ein Señor öffnet. Wir stellen uns kurz gegenseitig vor. Er heißt Manel, ist 75 Jahre alt, ein „abgebrochener Meter“ - so wie ich - schmächtig, hat unglaublich gütige, fröhliche Augen und ist gut drauf. Er bittet mich sofort hinein. Bevor ich das Angebot annehme, zeige ich auf Ruddi und schau ihn fragend an. Er macht mir klar, dass ihn der Hund nicht stört, wenn er in der Nacht nicht bellt. Das kann ich ihm hundertprozentig versichern. Mein Kleiner ist zurzeit so was von ausgelastet, der hat nachts anderes zu tun, als sich von irgendetwas zum Bellen animieren zu lassen. Das ist auf dem Camino nicht sein Job.

Kaum bin ich drin, ist er auch schon mit einem freundlichen „hasta luego“ raus. Wie anfangs Hermann hat er mir ebenfalls klargemacht, dass ich in Ruhe duschen kann, er würde mich nicht stören. Ich bin tief beeindruckt von so viel Gastfreundschaft mir gegenüber. Ich genieße die große Massagedusche, wasche meine Klamotten auf schmerzenden, zappelnden Füßen und entdecke auf der Terrasse eine Wäscheleine, die mit unzähligen Klammern versehen ist. Meine Sachen können also ganz gemütlich an der frischen Luft trocknen. Beim Aufhängen der Wäsche blicke ich in den liebevoll angelegten großen Garten, der zum Haus gehört. Ich setze mich auf einen der vielen Stühle und kann mein Glück kaum fassen. Allem Anschein und aller Voraussagen nach, sollte ich heute mit dem Auto nach Carrión fahren, weil es hier kein einziges freies Bett mehr gibt. Ich wollte es aber von ganzem Herzen - und nun sitze ich frisch geduscht auf einer Veranda und werde die Nacht mit einem spanischen Señor verbringen, der mit mir, einer ihm vollkommen Fremden Person MIT HUND, sein Zimmer teilt. Manchmal wird mir schwindelig, von der prompten Wunscherfüllung seitens des Universums. Herzlichen Dank, ihr da oben.

Gegen halb neun kommt Manel zurück, um mir mitzuteilen, dass er jetzt noch schnell zum Essen gehen wolle. Leider haben wir nur einen Schlüssel für das Zimmer. Ich gehe also mit in den Gastraum und trinke ganz in Ruhe einen Café con leche, während mein neuer Pilgerfreund isst. Um 21 Uhr bringe ich Manel zum Zimmer zurück, weil er schlafen gehen will. Bei Manel passiert immer alles sofort. Kaum sind wir drinnen, liegt er auch schon im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, ein gegähntes „buenas noches“ und schon sind die Augen zu. Ich bin davon überzeugt, dass er bereits eingeschlafen ist, bevor er die beiden Worte zu Ende gesprochen hat. Leise verlasse ich die Unterkunft, schließe wie von ihm gewünscht die Tür ab und freue ich mich nun mit einem Zimmerschlüssel in der Tasche auf mein wohlverdientes Pilgermenü.

Ich genieße alleine das traumhafte Essen. Bei einem Glas Wein läuft der Tag noch einmal wie ein Film ab. Der hatte ja mal ganz extreme Höhen und Tiefen. Ich hoffe die ganze Zeit, dass ich meinen Retter, den holländischen Herbergsvater irgendwo entdecke, um ihm für seine aufopfernde erfolgreiche Hilfe danken zu können. Das ging ebenso schnell. Auf einmal war er weg. Zum Abschluss des Tages schlendere ich noch ein bisschen durch den Ort, aber er ist nirgends zu sehen. Wahrscheinlich liegt er schon in den tiefsten Träumen, denn der Herbergsbetrieb geht schon mit dem Sonnenaufgang los.

Gegen halb elf betreten Ruddi und ich mucksmäuschenleise „unser“ Zimmer. Manel liegt noch genauso da, wie vor anderthalb Stunden, als ich ihn verließ. Das ist so göttlich: allgemein wird ja behauptet, dass Männer, vor allem im Alter, alle laut schnarchen. Manel, holt noch nicht einmal tief Luft, macht keine Schmatz-Geräusche, brummt und pfeift auch nicht im Schlaf. Wenn sich die Bettdecke vom Atmen nicht leicht heben und senken würde, müsste ich mir Sorgen machen. Leise lege ich mich in mein Bett, das durch ein Nachttischchen von seinem getrennt steht, singe in Gedanken ein Loblied auf diesen Señor, der mich so unkompliziert aufgenommen hat und falle in einen tiefen Schlaf. Ruddi’s Tasche steht ausnahmsweise mal am Fußende, damit Manel morgenfrüh nicht darüber stolpert.

5 1/2 Wochen
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