Dienstag, 29. April 2008
Atapuerca (147 Einwohner), 956 m üdM, Burgos
15. Etappe bis Villalbilla de Burgos, 27,8 km
Hungrig und mit Vorfreude auf das Frühstück, packe ich nach einer sehr angenehmen, ruhigen Nacht meine Sachen in den Rucksack. Für heute sind fast 28 Kilometer geplant und es geht wieder mit einem Anstieg los. Diesmal durchlaufen wir die Sierra de Atapuerca auf 1060 Meter über dem Meeressspiegel. Die Bergsteigerei zieht sich also durch den gesamten Jakobsweg in Nordspanien oder wie ist das? Na ja, die Berge verlieren immer mehr an Schrecken und ich freue mich jetzt schon auf die Belohnung für die Kletterei: es wird wieder einen atemberaubenden Fernblick geben.
Hoch motiviert mache ich mich erst mal an den Treppen-Abstieg zum Frühstücksraum mit Ruddi in der Tasche. Ich nehme am selben Tisch Platz, an dem ich gestern einen so amüsanten „irischen“ Abend erleben durfte. Ich bin völlig in sehr positive Gedanken versunken, als mich die vierköpfige Familie vom Nebentisch anspricht. Es handelt sich um ein französisches Ehepaar mit seinen beiden halbwüchsigen Kindern. Zunächst freue ich mich natürlich - wie immer - neue Pilger kennen zu lernen. Sie sprechen ziemlich gut meine Sprache. Nachdem sie kurz abgecheckt haben, wo ich meinen Camino gestartet habe und seit wann ich unterwegs bin, erzählen sie mir überaus begeistert, ohne nachzufragen, wie mein Weg bisher verlaufen ist, dass sie die gesamte Strecke mit dem Auto abfahren. Natürlich befinden Sie sich immer brav auf den dafür zugelassenen Straßen. Das scheint, zu meiner Überraschung, super spannend zu sein, sie reden und reden über einen langen Zeitraum ohne Punkt und Komma, ohne dass ich auch nur die geringste Chance hätte, irgendetwas dazu zu sagen. Ich höre ihnen schon lange nicht mehr zu, weil dies eine Art des „Pilgerns“ und des »Sich-Mitteilens“ ist, mit der ich nun so gar nichts anfangen kann.
Nur mit konsequenter Ignoranz meinerseits und dem Kopf in deinem Wanderführer kann ich dem Monolog ein Ende setzen. Ina schreibt mir eine SMS: „Ich warte in Burgos auf Dich.“ Da ich nicht vorhabe, mich während meiner Pilgerzeit durch Verabredungen unter Druck zu setzen, antworte ich: „Warte nicht. Wenn wir uns sehen, freue ich mich. Wenn nicht, treffen wir uns an einem anderen Ort wieder. Buen Camino. Liebe Grüße.“ Nachdem ich mir den zweiten Café con leche gegönnt und mich überaus dankbar und herzlich von meinem „Vermieter“ verabschiedet habe, beginnen Ruddi und ich unsere heutige Etappe. Ich atme auf, als ich den Strolch, der mir gestern die Zimmersuche so schwer gemacht hat, nirgendwo entdecke. „Qué suerte (was für ein Glück)!“ Dann ist er wohl wieder nach Hause gelaufen.
Gespannt auf den Tag steige ich mit kurzen entschlossenen Schritten hinauf zur Sierra de Atapuerca. Es ist eine karge, raue Landschaft, durch die sich ein sehr steiniger Weg nach oben schlängelt.
Es erfordert viel Konzentration, die Füße an der richtigen Stelle aufzusetzen, um nicht umzuknicken und rückwärts den Berg wieder runter zu rollen. Die tolle Nebenwirkung ist, dass ich keine Zeit mehr habe, an das ungemütliche, französisch angehauchte Frühstück zu denken. So heftig der Anstieg auch ist, so kurz ist er. Ein bisschen aus der Puste gekommen, erreiche ich das riesige Plateau.
Andächtig betrachte ich einen überdimensionalen Steinkreis, von dem ich nicht weiß, wie er entstanden sein könnte. Er ist wirklich gigantisch und vermittelt mir sofort eine unglaubliche Ruhe und das Gefühl: „Alles ist gut“. Allgemein will der Kreis als Zeichen versichern, dass alles im Universum seinen Sinn und Zweck hat - und dass ich gut daran tue, das Leben in diesem Zusammenhang zu sehen. Er deutet auf Vollkommenheit, Geborgenheit, Schutz, Verwirklichung seiner Vorhaben hin und teilt mir mit: „Es gilt jetzt, stark zu sein und unbeirrt bei Deinem Weg zu bleiben.“ Gedankenvoll betrachte ich dieses „Wunder“ eine geraume Weile, bevor ich mich an den Abstieg mache. Meine Akkus sind von diesem Energie geladenen Platz bis zum Rand voll.
Nach einigen Minuten erreiche ich das Ende dieser Plattform und es eröffnet sich mir ein wirklich toller Ausblick auf das gut 15 Kilometer entfernte Burgos.
Jetzt gilt es, einen sehr kurzen, aber umso steileren Wegabschnitt nach unten zu bewältigen. Danach hat der Kopf frei. Ab hier darf ich wieder in Trance laufen. Ich bin total begeistert. Soweit das Auge reicht, geht es so leicht weiter. Nichts und niemand könnte mich in diesem Moment vom Laufen abhalten, wer auch? Es ist weit und breit keiner in Sicht. Ich lasse mich wirklich komplett gehen und denke einfach mal an gar nichts mehr. Es fühlt sich an, als wäre ich nicht auf dieser Welt. Ich habe das Gefühl zu schweben und koste es gnadenlos aus.
Plötzlich und vollkommen unerwartet donnert etwas in einem Affenzahn an mir vorbei. Das geht so schnell, dass ich Mühe habe, diese Situation zu realisieren. Kommen mich jetzt die kleinen grünen Männchen holen? Vor Schreck zittern mir die Knie wie Espenlaub im Sturm. Die Erde hat mich in Bruchteilen von Sekunden zurück und ich erkenne, dass es sich um drei Fahrrad-Pilger handelt. Mann! Sind die denn wahnsinnig? Hätte ich einen Schritt zur Seite gemacht, hätten die nicht ausweichen können. Zum Glück läuft Ruddi in diesem Moment über die Wiese und nicht über den Weg. Sie haben ihn mit Sicherheit noch nicht einmal wahrgenommen. Die entfernen sich so rasend schnell von mir - meiner Einschätzung nach mit zirka 60 Stundenkilometern. Wenn die wüssten, was sie mir gerade angetan haben, würden sie mich zur Entschädigung mindestens zum Essen einladen. Jemand mit einem schwachen Herz, wäre bei dieser Aktion vor Schreck umgekippt. Okay, nun weiß ich, dass mit vorbeirasenden Pilgern zu rechnen ist und halte meine Ohren in Zukunft auch nach hinten weit offen.
Ohne weitere Zwischenfalle oder Begegnungen erreiche ich den kleinen Ort Cardeñuela. Es gibt eine einzige Bar, die von zwei jungen Männern betrieben wird. Ich kehre ein und bestelle mir mein Lieblingsgetränk. Ich bin der einzige Gast und die Jungs lassen es sich nicht nehmen, sich um mich zu kümmern. Mit Hilfe unserer Hände, Füße und jeder Menge Gestik und Mimik, bringen wir uns gegenseitig zum Lachen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Unterhaltung auf diese Art und Weise möglich ist. Sehr gut gelaunt verlasse ich den Ort nach einer halben Stunde.
Ich bin so gespannt wie der „Einlauf” nach Burgos ist. Die meisten Pilger fahren die letzten sechs Kilometer vor der Großstadt mit dem Bus bis mindestens zur Stadtmitte. Es ist bekannt, dass man sich durch ein endloses Industriegebiet auf einer viel zu stark befahrenen, vier- bis sechsspurigen Straße quälen muss, bevor der mehrere Kilometer lange Marsch durch die pulsierende „Metropole“ beginnt. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, mich darauf zu freuen, aber es hat sich nichts geändert: Ich laufe! Bus fahren? Was ist das? Meine Pilgerfreundin Edit hat mich auf Knien angefleht, es ihr nachzumachen und die „paar Kilometer“ zu fahren, ich solle mir den Stress ersparen usw... sie würde es auch niemandem verraten. Darum geht es doch gar nicht! Mir ist egal, was andere denken! Ich will am Ende des Camino Francés zu mir selbst sagen können: „Du bist tatsächlich jeden einzelnen Meter gelaufen.“ Ich weiß nicht warum, aber das ist sehr wichtig für mich.
Was ich nicht wusste, ist, dass es vor dem vorhergesagten stressigen Industriegebiet gilt, einen Flughafen zu umrunden. Das steht auch nicht in meinem Wanderführer. Der Weg wurde wahrscheinlich verlegt, denn ich laufe nun seit endlosen Kilometern auf einer ganz frisch geteerten, mittelmäßig befahrenen Landstraße und sehne die Stadt quasi herbei. Der Asphalt hat viel Hitze gespeichert und gibt mir reichlich davon ab. In diesem Moment Vergesse ich ganz, dass sich das in der Stadt bestimmt nicht besser anfühlt.
Endlich befinde ich mich auf der schnurgeraden Straße durch das Industriegebiet. Das Ende ist nicht abzusehen. Auto an Auto, LKW an LKW rauschen an mir vorbei. Es war mir noch nie so klar, wie viel Energie mir der Autolärm nimmt. Ruddi muss natürlich an der Leine laufen. Wir schleppen uns so dahin. Ich versuche, so gut es geht abzuschalten und das für mich Unvermeidliche zu tun. Einfach weitergehen, nicht darüber nachdenken, den Lärm und den Gestank ignorieren. Ich mache mir klar: „Der Weg wächst im Gehen, unter Deinen Füßen, wie durch ein Wunder. Du schaffst das!“
Verzweifelt suche ich eine Möglichkeit, einzukehren. Aber hier ist nichts. Ich erreiche eine Bank an einer Bushaltestelle und setze mich ganz langsam und vorsichtig darauf. Mein Körper reagiert auf den Stress mit Steifheit und Bewegungsschmerz. Zu allem Überfluss ist es auch noch sehr heiß geworden. Ich nehme Ruddi auf meinen Schoß und wir trösten uns gegenseitig. Wie lange noch? Seit einiger Zeit ist zwar das Ende dieses Horrortrips abzusehen, aber ich habe das Gefühl, dass es nicht näher kommt. Nach nur wenigen Minuten laufen wir weiter. Hier zu sitzen, macht die Sache nur noch schlimmer und zögert die Beendigung dieses Ganges nach Canossa heraus.
Mit letzter Kraft erreiche ich die Stadt und die erste Bar gehört mir. Bei einem Fruchtsaft wird mir erst klar, dass ich heute schon mindestens 20 Kilometer gelaufen bin. Ich werfe einen besorgten Blick auf meinen Hund, der sich gemütlich in seine Decke gemummelt hat. Er hat sich wohl fest vorgenommen, dieses große Abenteuer von Anfang bis Ende mit mir zusammen durchzustehen, egal was passiert. Meine Mutter ist schon immer der Meinung gewesen, dass Ruddi, wenn er sprechen könnte, sagen würde: „Mama, mach alles was Du willst, aber nimm mich bitte mit. Ich halte durch. Hauptsache, ich darf dabei sein!“ In der Tat kennt er es, seit er im Alter von elf Wochen zu mir kam, nicht anders. Wenn nur irgend möglich ist er dabei - auch in Situationen, wo andere ihren Hund zu Hause lassen würden. Ich habe durch mein Ansinnen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, in den letzten Jahren sehr viel Fantasie entwickelt. Es ist unglaublich, was dieses kleine Wesen schafft. Ich weiß, dass er eine sehr gute Kondition hat, aber was er in den letzten beiden Wochen geleistet hat, muss ihm erst mal einer nachmachen. Ich habe übrigens noch keinen anderen Pilger getroffen, der mit Hund unterwegs ist.
Wir gönnen uns in diesem „Club“ eine gute Stunde Pause. Ich beobachte derweil ein bisschen die städtischen Spanier, die in diesem Lokal ein- und ausgehen. Burgos hat fast 170.000 Einwohner. Nach über zwei Wochen Pilgertum fühle ich mich wie in einer Millionenstadt. Die Menschen sind zwar anders gekleidet und frisiert als auf dem Land, aber die Gelassenheit und gute Laune haben sie hier anscheinend genauso wie außerhalb.
Ich quäle mich durch die Stadt. Gegen 16 Uhr passiere ich die beeindruckende Kathedrale von Burgos. Sie ist wirklich imposant. Ich habe sogar Lust, sie mir von innen anzusehen. Aber es liegen noch gute sieben Kilometer vor mir. Mit dem heutigen körperlichen Zustand brauche ich ein bisschen länger, deshalb setze ich also besser meinen Weg fort.
Im Zentrum der Stadt fällt mir ein, dass meine Freunde hier gestern Abend eine Abschiedsparty gefeiert haben und ich will herausfinden, wo sich die Herberge am Fluss, in der sie übernachtet haben, befindet. Ich betrete aus diesem Grund noch einmal ein Lokal und frage den Wirt. Der ist unerwartet unfreundlich und mag meinen treuen vierbeinigen Begleiter gar nicht. Mit einem grimmigen Gesicht und einer abwinkenden Handbewegung Richtung Straße, macht er mir deutlich, dass ich wieder gehen soll. Wahrscheinlich strahle ich aus, dass ich den Gang durch die Stadt nicht mag und sowieso nur noch schnellstens hier weg will. Also benimmt er sich meinen Gedanken entsprechend und zwar so mies, dass mich hier rein gar nichts mehr hält. Ich erfahre aber, wenn auch kurz und knapp, dass ich nur über die gegenüberliegende Brücke gehen muss, um zu der schönsten Herberge in Burgos, die direkt an dem Fluss Arlanzón steht, zu gelangen.
Diese Pilger-Unterkunft ist wirklich beeindruckend. Das Haus ist sehr groß und das Grundstück drum herum noch umfangreicher und mit uraltem Baumbestand dekoriert. Hier sind also alle anderen Pilger. Endlich, nach so langer Zeit, zeigen sie sich mir mal wieder. Sofort frage ich nach meinen Freunden, beschreibe sie und erzähle von der Party gestern Abend. Ich höre, dass sie alle schon weg sind. Ich halte Ausschau nach Ina. Wer weiß, vielleicht ist sie ja zufällig noch hier. Unter den vielen netten Leuten ist niemand den ich kenne. Auf einer gemütlichen Holzbank nehme ich Platz und schau mich begeistert um. Ruddi liegt lang ausgestreckt im kühlen saftig grünen Gras. An dieser Stelle nehme ich den Stress und Lärm der Stadt überhaupt nicht wahr, ich sehe auf den Fluss, betrachte die großzügigen Grünflächen und bemerkenswerten Bäume. Die Pilger strahlen Ruhe und Frieden aus. Manche liegen im Schatten auf dem Rasen, andere sitzen an den Holztischen und erzählen sich was, essen, schreiben oder lesen.
Ich traue meinen Augen nicht, als ich den Hund erkenne, der mich gestern den ganzen Tag begleitet hat. Der ist doch tatsächlich mit jemand anderem mitgelaufen und lässt sich gerade von seinem „neuen Herrchen“ mit Wurstbroten futtern. Ruddi und er begrüßen sich kurz. Ich werde auch eines Blickes gewürdigt, aber damit ist die Sache für ihn auch erledigt. Es beruhigt mich, zu sehen, wie gut es ihm geht - so fern seiner vermeintlichen Heimat.
Mit neuer Energie, aber Schmerzen im ganzen Körper, trete ich die letzten zirka sechs Kilometer der heutigen Etappe an. Beim Verlassen der Stadt atme ich auf und tief durch. Es geht auf sehr angenehmen Landwirtschaftswegen weiter bis Villalbilla de Burgos. Etwa hundert Meter vor mir geht eine Frau, die ein Fahrrad mit einem Anhänger schiebt. Ich wundere mich, warum sie nicht fährt. Der Weg ist ideal zum Radfahren. Sie ist wahrscheinlich speziell nur für mich zu Fuß unterwegs. Sie wirkt wie ein Magnet, der mich mitzieht. So beschleunige ich, von Neugier und der Lust mit ihr zu reden, getrieben, meinen Schritt ein wenig, um sie einzuholen.
Als ich mich ihr nähere fällt mir auf, dass sie auch aus dem letzten Loch pfeift. Sie freut sich, mich zu sehen und klärt mich darüber auf, dass sie einen Plattfuß am Anhänger hat. Das macht das Fahren unmenschlich schwer. Sie ist als Fahrradpilgerin unterwegs und hat alles, inklusive Zelt dabei. Das von zu Hause mitgebrachte Flickzeug ist bereits verbraucht und somit ist sie nun ziemlich verzweifelt, angesichts der Tatsache, dass sich ein so schwer beladener Anhänger auch nur mit sehr viel Kraft schieben lässt. Sie bezweifelt, im nächsten Ort das Benötigte kaufen zu können. Bei all ihren Problemen übersieht sie Ruddi nicht und bietet ihm an, dass er sich in ihrem Anhänger auf einer Decke ein bisschen ausruhen darf. Sie meint, die paar Kilo mehr würden auch nicht mehr auffallen. Mein Hund zieht es allerdings vor, zu laufen. Ja, ja: „Wie der Herr so’s Gscherr!“ Um sie abzulösen, mache ich den Vorschlag, ein Stück das Fahrrad zu schieben. Das lehnt sie entschieden ab. Das will sie nicht zulassen, das gehöre zu ihrem Jakobsweg dazu. Ich verstehe: Es ist für sie das gleiche, wie für mich, meinen Rucksack selbst zu tragen, egal wie kaputt ich bin.
Nach ein paar Kilometern setzt sich meine neue Pilgerbekanntschaft auf ihr Fahrrad und tritt schwer in die Pedale. Sie kann nicht mehr schieben. Ihr tut der Rücken davon weh. Das Etappenziel Villalbilla de Burgos ist jetzt zu sehen und nicht mehr weit entfernt. Es mag noch ein guter Kilometer sein. Ganz langsam entfernt sie sich von mir.