Donnerstag, 8. Mai 2008

Virgen del Camino (2676 Einwohner), 906 m ÜdM, Provinz León

24. Etappe bis Hospital de Órbigo, 25,2 km

Ruddi hebt kurz den Kopf aus seinem Taschenbett und erinnert mich daran, dass er hier in geheimer Mission unterwegs ist. Nachdem ich mich ausgiebig gereckt und gestreckt habe, lege ich einen Zahn zu und sitze schon bald beim Frühstück. Ich bin einmal mehr der einzige Pilger weit und breit. Perrito liegt immer noch in seinem Bett und verhält sich ganz ruhig neben meinem Stuhl. Ich freue mich von Herzen, dass ich noch die Gelegenheit habe, mich von der mutigen jungen Frau zu verabschieden, die dafür gesorgt hatte, dass mein Hund und ich in diesem Hause über Nacht bleiben durften. “Gracias por todo, señora. Lo siento por die Umstände.” Sie schaut beeindruckt lächelnd auf die ihr bekannte Hunde-Tasche und umarmt mich herzlich. Nachdem ich die heutige Etappe auf gute 25 Kilometer bis nach Hospital de Órbigo festgelegt habe, machen wir uns besser direkt auf den Weg.

Nach ein paar hundert Metern stehe ich ratlos vor einer Kreuzung. An dieser Stelle gibt es gelbe Pfeile, die in alle Richtungen zeigen. Ich habe keine Ahnung, welchem ich folgen soll. Der Jakobsweg bietet nämlich ganz frech eine Nebenvariante an. Es stellt sich mir die Frage, ob ich den Camino um vier Kilometer verlängern will und schön gemütlich durch die Felder wandere oder bis zum Ziel die Hauptroute nehme und an der Nationalstraße N-120 entlangkrieche. Wähle ich die reizvollere Variante komme ich heute auf fast 30 Kilometer. Ich weiß aus Erfahrung, dass das für mich eigentlich zu viel ist. Andererseits macht mir die N-120 nervlich - und folglich auch körperlich - sehr zu schaffen. Was mach ich denn bloß?

Entscheidungshilfe ist eine junge Frau, die mich fragt, wie es denn hier weiter geht. Sie hat schon die Entscheidung getroffen, die Hauptroute zu gehen. Es gilt nur noch, den richtigen Einstieg zu finden. Wir blättern beide in unseren Reiseführern und kommen dann ganz langsam dahinter. Die Pilgerkollegin macht einen ruhigen und ausgeglichenen Eindruck auf mich. Sie erzählt mir, dass sie heute Morgen ganz früh in León losgelaufen ist und noch bis Villadangos del Páramo laufen will. Das sind noch dreizehn Kilometer. “Gehst Du auch über die Hauptroute?” fragt sie ganz nebenbei. “Ja!” sage ich wie aus der Pistole geschossen und freue mich, dass ich endlich die Antwort gefunden habe. Wir gehen ein paar Kilometer zusammen. Sie heißt Susanne, ist so um die dreißig und kommt aus Leipzig. Sie ist Erzieherin für Kinder und Jugendliche aus Problemfamilien. Das interessiert mich insofern, als dass ich zu Hause eine Bekannte habe, die gerade mitten in der umfangreichen Ausbildung zu diesem aufregenden Beruf steht. Sie erzählt mir ein paar interessante Geschichten über ihre Arbeit.

Wir müssen uns aber auch sehr stark darauf konzentrieren, keinen gelben Pfeil zu übersehen. Es bleibt noch ein bisschen verzwickt. Wir befinden uns auf einem Weg, der unter verschiedene Viadukte hindurchführt. Momentan müssen wir immer wieder abbiegen. Im Normalfall - Großstädte ausgenommen - ist der Jakobsweg gar nicht zu verfehlen und verläuft, ganz grob gesehen, immer schön geradeaus. Zur Absicherung, sieht Susanne immer wieder in ihren Reiseführer.

Na endlich! Da ist sie ja! Die Nationalstraße! Juchhu! Jetzt können wir uns entspannen und locker machen. Susanne hat ein ganz anderes Tempo als ich und wir beschließen, dass es besser ist, wenn jeder seinem eigenen Rhythmus folgt. Schnell wird der Abstand zwischen uns größer und Susanne immer kleiner. Nach vier Kilometern, kurz vor Valverde de la Virgen, treffen wir wieder aufeinander. Sie hat auf mich gewartet: „Sollen wir zusammen einen Kaffee trinken gehen?” Vor einer Bar und direkt an der Hauptstraße lassen wir uns häuslich nieder. Wir bleiben draußen sitzen. Die Terrasse ist überdacht. Diesmal bin ich mit erzählen dran. Sie will wissen, wie sich der Jakobsweg mit Hund anfühlt. Es tut mir gut, gerade mit jemandem zusammen zu sitzen, der ebenso gut erzählen wie auch zuhören kann.

Wir müssen uns beide einen Ruck geben, um uns aus den bequemen Stühlen zu erheben und weiterzulaufen. Bis zum nächsten Ort sind es nur 1,6 Kilometer, die laufen wir zusammen und genehmigen uns in San Miguel del Camino gleich die nächste Pause bei einem kalten Getränk. Es ist wieder sehr warm heute und bis Villadangos del Páramo sind es noch über sieben Kilometer am Stück. Diesmal bevorzugen wir das Bar-Innere. Die Sonne ist erbarmungslos. Ruddi legt sich auf den kühlen Steinfußboden und ist nach einer knappen halben Stunde auch wieder betriebsbereit.

Nach ein paar hundert Metern läuft wie zuvor jeder in seinem eigenen Tempo. Wir lassen es darauf ankommen, ob wir uns in Villadango del Páramo wiedersehen oder nicht. Und es soll so sein. Meine neue Pilgerbekannte macht wieder eine Rast kurz vor dem Ort und hat - genau wie ich - das unbändige Verlangen, sich auf einen Stuhl zu setzen und etwas zu trinken. Susanne ist nun eigentlich an ihrem Etappenziel angekommen. Im Gegensatz zu mir, ist sie nach ihrem Pensum von mindestens 22 Kilometern aber noch so fit, dass sie beschließt, einen Ort weiterzulaufen. Das sind ja nur schlappe 4,6 Kilometer. Aber es ist ja auch noch relativ früh am Tag. Und: Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!

So kommt es, dass wir bis San Martin del Camino nebeneinander herlaufen. Immer schön an der N-120 entlang. Kurz nach 14 Uhr kommen wir an. Ich bin ganz fasziniert von mir selber! Noch so früh am Tag und schon fast achtzehn Kilometer weiter als heute morgen. Susanne hat bestimmt einen Magneten im Rucksack, der mich heimlich mitzieht und schneller werden lässt, damit sie nicht immer so lange auf mich warten muss. Ich gebe aber auch gerne zu, dass ich ziemlich am Ende bin.

Am liebsten bliebe ich. Dann fehlen mir jedoch sieben Kilometer und die Zeit bis zum endgültigen Ende dieses Urlaubs wird immer knapper. Außerdem habe ich bereits für morgen einen Plan gemacht und der umfasst ebenfalls 25 Kilometer. Da kann ich also nur ganz schwer sieben Nachhol-Kilometer draufpacken. „Wenn Du es bis Santiago de Compostela schaffen willst, musst du Gas geben”, flüstert mir meine innere Stimme zu und ich weiß, was zu tun ist. Auch wenn’s weh tut! Meine Schienbeine melden sich heute immer wieder. Sie brennen. Ich weiß gar nicht, warum sie das tun, wir laufen doch jetzt schon so lange durch Spanien, um genau zu sein fast 500 Kilometer. So langsam sollten sie daran gewöhnt sein.

Susanne findet direkt an der Hauptstraße eine Herberge. Sie übernachtet immer in Herbergen und war bisher meistens zufrieden damit. Bevor wir uns trennen, habe ich das Bedürfnis, zu sehen, ob sie hier auch gut untergebracht ist. Vielleicht gefällt es ihr ja nicht und will doch noch weiterlaufen. Wir betreten den Hof. Er ist so liebevoll angelegt. Es gibt ganz viele bunte Blumen, die wild durcheinander gepflanzt wurden. Unter Sonnenschirmen stehen runde Gartentische mit den dazugehörigen Plastikstühlen. Ein paar Katzen verdünnisieren sich fluchtartig. Eine ist mutig und belegt eine Fensterbank, als wir nähertreten und der müde Ruddi sich über den Hof schleppt. „Er will doch nur mal guten Tag sagen, bleibt entspannt. Kein Grund zur Panik! Wir sind gleich wieder weg”, suggeriere ich den Hof-Tigern.

Wir werden von einer sehr sympathischen Frau empfangen. Sie zeigt Susanne ihr Bett und lässt es sich nicht nehmen, mir vorher noch eine Café con leche zu servieren. Normalerweise ist hier Selbstbedienung. So sitze ich eine Weile alleine mitten in dieser Oase und genieße. Ruddi nehme ich auf meinen Schoß, damit er sich keine Sorgen wegen der Katzen machen muss und sich schön entspannen und erholen kann.

Nach zwanzig Minuten kommt Susanne total begeistert zurück. “So gut habe ich es noch nie angetroffen. Jetzt weiß ich, warum ich doch noch weiter gelaufen bin. Ich würde ich am liebsten ein paar Tage bleiben. Ich habe ein Zimmer für mich ganz alleine. Das ist fantastisch. Und die Herbergsmutter ist so lieb. Sie kocht persönlich für die Pilger heute abend. Wie ich sie einschätze, wird das ein Schmaus. Bleib doch auch hier.”

Es ist schon sehr verlockend, als die „liebevolle Mutter der Kompanie” persönlich zu mir sagt: „Ich habe noch ein Bett frei. Mit Deinem Hund kannst Du auch ein Einzelzimmer haben.” Am liebsten würde ich mich ergeben. Sieger ist am Ende die Vernunft. So gegen 15 Uhr verabschiede ich mich zwar schweren Herzens, aber mit der Gewissheit, dass es Susanne richtig gut geht.

Nun liegen also noch einsame 7,6 Kilometer vor mir. Schön einfach an der Nationalstraße entlang. Hospital de Órbigo ist nicht zu verfehlen. Meine Schienbeine tun mir mittlerweile so weh, dass ich bei jedem Schritt aufstöhne und den Tränen sehr nah bin. Ich bleibe immer wieder stehen, weil ich befürchte, dass die Knochen zwischen Fuß und Knie gleich zu Asche verfallen, so sehr brennt es unter der Haut. Wie lang können sieben Kilometer sein!? Mein Hund würde mir so gerne helfen. Er tanzt um mich herum wenn ich aufstöhne, als wollte er sagen: “Komm spring auf. Ich trage Dich das letzte Stück. Aber da würden mir ja die Knie über den Boden schleifen. Schürfwunden sind auch nicht so angenehm. Das lass ich lieber.

Kurz vor 18 Uhr darf ich die gehasste N-120 verlassen und biege rechts in einen Feldweg ein. Kurz vor Puente de Órbigo nehme ich eine Bank in Beschlag, schmeiße meinen Rucksack ab und fange heftig an zu heulen. Ich bin völlig fertig. Verzweifelt reibe ich mir über die Schienbeine. Selbst im Sitzen tut es mittlerweile weh, wenn ich nur die Füße etwas zu mir ziehen will. Plötzlich bekomme ich Panik. Wenn das morgen noch genauso weh tut, kann ich nicht weiterlaufen. Wäre ich zu Hause, suchte ich einen Arzt auf. Was mache ich denn jetzt? Ich will mich durch nichts davon abhalten lassen, „meinen Weg“ komplett zu Ende zu laufen. Ich tröste mich erst mal damit, dass ich ja gleich da bin und mich ausruhen kann. Später im Hotel werde ich mich mit Reiki behandeln. Morgen ist ein neuer Tag - alles wird wieder gut.

Niemand hat mich so am Boden zerstört gesehen. Gott sei Dank! Ich reiße mich schwer am Riemen und bewege mich ganz langsam - Meter für Meter - Richtung Puente de Órbigo. Ich muss nur noch über diese wunderschöne mittelalterliche Brücke. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, sie zu betreten. Sie ist eine der berühmtesten des gesamten Jakobswegs. Naja, dank der Höllenschmerzen werde ich mein Leben lang keinen einzigen der vielen Schritte über diese Brücke vergessen. Ist auch was besonderes, oder?

Mitten auf der Brücke spricht mich ein besonders gut aussehender junger Mann aus Österreich an: „Ich beobachte Dich schon eine ganze Weile. Brauchst Du Hilfe?“ Sofort schießen mir wieder die Tränen in die Augen. „Ach, das wird schon gehen, mir tun nur die Schienbeine so höllisch weh.“ Er begleitet mich bis zum Ortseingang Hospital de Órbigo und zeigt mir den Weg zur nächsten Herberge. „Nach ungefähr 300 Metern bist Du da. Vielleicht hast Du ja Glück und kannst dableiben. Heute sind allerdings besonders viele Pilger hier, weil es ein Fest im Ort gibt.“ Ich interessiere mich gerade nicht dafür, warum gefeiert wird. Dafür bin ich viel zu sehr damit beschäftigt, nicht einfach zusammenzuklappen.

Dieser junge Mann ist so nett und ich bin ihm von Herzen dankbar für seine mentale Unterstützung, aber ich bin momentan keine gute Gesellschafterin. Er schaut mich mitfühlend an, legt seine Hände auf meine Schultern und meint: „Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Glaub mir, ich weiß, wie es Dir gerade geht, aber das hört genauso schnell wieder auf, wie es angefangen hat. Mach Dir keine Sorgen. Glaub an Dich und Deine Selbstheilungskräfte. Buen Camino!“

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