Epilog: Die Witwe Rheinschild

Jahre bevor Connor, Risa oder Lev geboren wurden, trägt Sonia in der bitteren Kälte eines Februartages einen schweren Karton vom Auto in ein Zwischenlager, eins unter vielen anonymen Abteilen in einem großen Lagerkomplex.

Die Beerdigung ihres Mannes ist erst eine Woche her, doch Sonia gehört nicht zu den Frauen, die sich lange dem Selbstmitleid hingeben.

Das Lager ist das größte, das ihr angeboten wurde. Groß genug für alle ihre Möbel, den Nippes und die vielen Sachen, die sie und ihr verstorbener Mann über die Jahre gesammelt haben. Eigentlich ist es überwiegend ihre Sammlung. Janson war kein materialistischer Mensch. Er wünschte sich lediglich einen bequemen Sessel und einen Platz in der Geschichte. Nachdem er des einen beraubt wurde, starb er im anderen.

Das Schloss zum Lager ist mit Raureif überzogen. Obwohl es erst eine Woche her ist, dass die Umzugsleute alles hier eingelagsert haben, sieht es uralt aus. Sonia versucht, den Schlüssel in das Schloss zu stecken, doch ihre Handschuhe sind zu dick. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sie auszuziehen und mit kalten Fingern aufzuschließen.

Das Haus ist leer, wird es allerdings nicht lange bleiben. Es wurde an eine reizende Familie verkauft, das sagt jedenfalls der Immobilienmakler. Sonia hat es weit unter Marktwert angeboten, damit sie es schnell loswird.

Das Geld, das Janson für die Rechte des Organdruckers erhalten hat, hat Sonia überwiegend an Austins Freunde verschenkt. Sie wollen eine Geheimorganisation gegen die Umwandlung gründen, die Anti-Umwandlungs-Liga oder so ähnlich. Wenn sie mit dem Geld auch nur einen Wandler vor dem Messer bewahren, ist es das schon wert.

Ächzend öffnet Sonia das Schiebetor und steht vor ihrem materiellen Hab und Gut, das präzise wie ein Puzzle in den Raum eingepasst wurde – Zeugnis eines ganzen Lebens, verdichtet wie in einem Neutronenstern.

Bei dem Anblick wird sie kurz von Verzweiflung gepackt, die aber wie der Schnee, der draußen durch die Luft wirbelt, nicht haften bleibt. Wenn es eine Lektion gibt, die sie von ihrem verstorbenen Mann gelernt hat, dann die, dass sie sich die Zukunft nicht durch die Vergangenheit zerstören lassen darf. Die Zukunft ist alles, was Sonia hat, nun, da ihre Vergangenheit wirkungsvoll ausradiert wurde. Sie musste sich sogar einen Ausweis und einen Führerschein fälschen lassen, weil ihre echten ungültig sind. Ihren Vornamen hat sie behalten, einen Fetzen Identität, jenen zum Trotz, die sie dem namenlosen Vergessen ausliefern wollen.

Sonia fügt sich nicht in dieses Vergessen, doch erst einmal muss sie hier weg. Ihr ist es egal, wohin, doch wer ein Flugticket kauft, muss ein Ziel angeben. Daher befragte sie, ehe die Umzugsleute kamen, den Globus in Jansons Arbeitszimmer. Sie drehte ihn, schloss die Augen und hielt ihn mit dem Zeigefinger an. Da ihr Finger auf das Mittelmeer deutete, die Insel Kreta, wird sie dort hingehen. Sie spricht kein Griechisch, wird es aber lernen. Die Insel wird eine ganze Weile ihr Alpha und ihr Omega sein.

In dem vollgepackten Lager sucht sie nach einem sicheren Platz für den schweren Karton, den sie dabeihat. Der Inhalt ist zu wertvoll, als dass sie ihn den Umzugsleuten überlassen hätte. Den wollte sie schon selber verstauen. Janson würde das gutheißen. Sie spürt ihn lächeln, wie damals in der wunderbaren Nacht der schwindelerregenden Phantasien, als sie im teuersten Restaurant der Stadt aßen, Champagner tranken und von dem Weg träumten, der von der Dunkelheit zurück ins Licht führt.

Sonia ist sich sehr wohl bewusst, dass sie ihr Leben lang mal durch Licht und mal durch Dunkelheit gegangen ist. Nun folgt eine Zeit intensiver Dunkelheit, von der sie sich aber nicht verzehren lassen darf, wie Janson es tat. Wenn genügend Zeit vergangen ist, wird sie vielleicht wieder ins Licht treten, wird mit Mut und Entschlossenheit Stellung beziehen. Wird sich erheben und den Weg in die Hölle zerstören, den sie und Janson mit ihren guten Absichten – nein, den andere für sie gepflastert haben. Aber das ist ferne Zukunft. Im Moment ist sie nur erschöpft und muss fliehen.

Endlich findet sie einen passenden Platz für den Karton und stellt ihn vorsichtig ab, einen Platz, an dem er sicher steht und an dem nicht etwa ein anderer Karton darauffällt. Dann blickt sie sich noch einmal um und betrachtet ihre Habseligkeiten.

»So viel Kram«, sagt sie laut. Mit dem Ramsch, den sie gesammelt hat, könnte sie glatt einen Antiquitätenladen eröffnen! Wenn sie je in die Staaten zurückkommt, wird sie das vielleicht machen.

Zufrieden geht sie zurück zum Eingang, schließt die Schiebetür und macht für die nächsten zehn, vielleicht zwanzig Jahre ein Schloss vor ihr altes Leben.

Als sie wegfährt, muss sie trotz allem unwillkürlich lächeln. Ja, die Organisation, die Janson einst gründete, hat sich gegen sie gewandt, ihr Leben zerstört und sich nach Kräften bemüht, auch den letzten Hoffnungsschimmer zu zerstören.

Aber das ist ihr nicht gelungen.

Hoffnung kann man zerschmettern und zerschlagen. Man kann sie in den Untergrund drängen, sie sogar bewusstlos machen, aber man kann sie nicht töten. Die Pläne für den Organdrucker sind weg. Dasselbe gilt für die großen Prototypen. Zertrümmert, eingeschmolzen und verscharrt in einem anonymen Grab demolierter Technik.

Aber von dem kleineren Prototypen wusste niemand. Das Gerät, das Austin seine fehlenden Finger wiedergab und das Janson in einem Karton in seinem Arbeitszimmer versteckte.

Auf der Autobahn in Richtung Flughafen macht Sonia das Radio an und findet einen Sender, der Classic Rock aus ihrer Jugend spielt. Sie singt mit, ohne auf die eisigen Winde zu achten, die an dem Auto rütteln.

Es gibt keinen Zweifel: Jansons Traum ist tot … aber wenn die Zeit reif ist und der Wind sich zu drehen beginnt, lässt sich selbst ein toter Traum wieder zum Leben erwecken.