42. Nelson
Nelsons größtes Problem sind derzeit nicht die entzündeten Verbrennungen auf der rechten Gesichtshälfte. Es sind auch nicht die infizierten Bisse an Armen und Beinen, die von diversen ihm unbekannten Wüstentieren stammen. Vielmehr ist es der dürre Supermarktkassierer, der seit ein paar Wochen auf seinem Beifahrersitz hockt.
»Wie weit noch, was glaubst du?«, fragt Argent. »Brauchen wir noch einen Tag? Oder zwei?«
»Am Morgen sind wir da, wenn wir die Nacht durchfahren.«
»Machen wir das? Fahren wir die Nacht durch?«
»Mal sehen.« Die Sonne hinter ihnen steht schon tief am Himmel. Seit sie New Orleans verlassen haben, bietet Argent immer wieder an zu fahren, doch Nelson gibt das Steuer nicht ab. Er ist hundemüde, er kämpft gegen das Fieber, aber er lässt sich nicht unterkriegen.
Nach mehr als einwöchiger Suche stellte sich heraus, dass New Orleans ein Flop war. Wenn Connor Lassiter im Marie Laveau’s etwas zu erledigen hatte, dann hat er das gemacht – aber niemand dort ließ sich überreden, Nelson etwas über seinen Aufenthaltsort zu sagen. New Orleans scheint zwar ein Brennpunkt illegaler Aktivitäten zu sein, aber das Verstecken flüchtiger Wandler gehört offenbar nicht dazu. Weitere drei Tage vergeudeten Nelson und Argent, als sie gen Norden nach Baton Rouge fuhren, um dort nach Spuren Lassiters und der Anti-Umwandlungs-Front zu suchen, die ihm womöglich Unterschlupf gewährte.
Nachdem sie also eineinhalb Wochen lang durch die Gegend geirrt waren und im tiefen Süden des Landes Gespenster gejagt hatten, sagte der verfluchte Kassierer: »Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach nach New York fahren.«
»Warum sollten wir das tun?«, fragte Nelson.
Der Kassierer sah ihn mit dem hirnlosen Gesichtsausdruck eines Hamsters an. »Das habe ich dir doch neulich gesagt.«
»Nichts hast du mir gesagt.«
»Doch, hab ich. Na ja, da warst du natürlich schon total zugedröhnt von dem Zeug, das du da getrunken hast. Und den Pillen.«
»Du hast mir gar nichts gesagt!«
»Na gut, wie du willst«, erwiderte Argent selbstzufrieden. »Ich hab dir nichts gesagt.«
Am Ende musste Nelson mitspielen, wie bei diesen verdammten Witzen, die immer mit »Klopf, klopf« anfangen. »Was hast du mir gesagt?«
»Da war doch der Bericht über die Freiheitsstatue. Dass sie den Arm durch einen neuen aus Alu ersetzen, weil das Kupfer zu schwer ist.«
Nelson verliert langsam die Geduld. »Was ist damit?«
»Da ist mir wieder eingefallen, dass Connor von einer Verabredung mit einer Dame in Grün geredet hat. Weißt du das echt nicht mehr?«
Nelson hatte keine Erinnerung daran, aber das wollte er vor diesem Hamster natürlich nicht zugeben. »Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte er.
Das war nicht gerade die heiße Spur, die Nelson suchte. Die »Lady in Grün« konnte alles Mögliche bedeuten. Aber demonstrierten die Sympathisanten der flüchtigen Wandler nicht besonders gern unter der Freiheitsstatue? Was hatte Lassiter vor?
Dass Nelson schließlich gen Norden aufbrach, lag an dem Bericht in den Nachrichten, von dem er wusste, dass er eines Tages kommen würde: Darin war Argents Bild mit seinem Helden zu sehen, dem Flüchtling aus Akron. Argent war schon seit Tagen für alle sichtbar unterwegs gewesen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihn jemand erkannte und verriet.
Nelson hätte wohl allein losfahren und Argent den Raubtieren zum Fraß überlassen können, wurde aber von einem Funken Mitleid, vielleicht sogar Sentimentalität daran gehindert. Immerhin hatte ihm Argent zwei flüchtige Wandler gefangen. Eine hilflose Geste, aber ein netter Gedanke, und als Nelson die beiden widerlichen Kids gefesselt, geknebelt und praktisch als Geschenk für ihn verpackt gefunden hatte, hatte das ein wenig Licht in seinen grauen Tag gebracht. Vielleicht könnte sich Argent ja als Maulwurf nützlich machen, indem er Gruppen flüchtiger Wandler für Nelson infiltrierte. Und so ließ er ihn eben doch nicht zurück, sondern folgt nun gemeinsam mit ihm der dürftigen Spur nach New York.
Als sie die Grenze von West Virginia nach Pennsylvania überqueren, sind Nelsons Zweifel so groß wie die Straßensperren vor ihnen, und Argent kann einfach den Mund nicht halten.
»Am besten halten wir in Hershey«, schlägt Argent vor. »Es heißt, die ganze Stadt riecht nach Schokolade. Da gibt’s auch eine Achterbahn. Fährst du gern Achterbahn?«
Auf einem Schild steht: PITTSBURGH 70 KILOMETER. Nelson spürt, dass sein Fieber wieder steigt. Die Gelenke schmerzen, und sein Gesicht juckt vom eigenen Schweiß. Er beschließt, in Pittsburgh zu übernachten. Er ist einfach nicht fit genug, um die Nacht durchzufahren. Er hat ja nicht einmal die Kraft, Argent zum Schweigen zu bringen.
»Ja, New Orleans, das war schon was. Da würde ich gern mal richtig abhängen«, schwadroniert Argent. »Ich wette, der Voodooladen war auch ganz toll. Hab da schon mal was im Fernsehen drüber gesehen. Hättest uns mal so ’ne Voodoopuppe von dem Flüchtling aus Akron besorgen sollen. Damit er unseren Schmerz auch spürt.«
Jetzt lässt Nelson Argent erst recht reden, weil er ja ach so viel zu sagen hat. »Stimmt. Damit er unseren Schmerz auch spürt.« Nelson ist fest entschlossen, es sich heute Abend gutgehen zu lassen und seine Situation genau zu analysieren.
Marie Laveaus Haus des Voodoo. Das hat Argent nicht aus Connor Lassiters Mund gehört, sondern im Fernsehen gesehen. Der Hamster hat keine Ahnung, dass er sich gerade selbst ans Kreuz genagelt hat.