66. Connor

Connor öffnet die Augen auf derselben Liege, auf der er betäubt wurde. Da stimmt doch etwas nicht. Sie wollten ihn doch holen, oder nicht? Nein, denkt er. Grace wusste es besser. Sie wollten Cam holen.

»Willkommen aus Betäubistan.«

Als er den Kopf dreht, sieht er Sonia auf einem Stuhl neben sich sitzen. Er versucht, sich aufzurichten, doch ihm ist schwindlig, der Ellbogen rutscht ihm wieder weg, und sein Kopf fällt ins Kissen. In seinem Gehirn dröhnt ein Läuten von der Lautstärke einer Kirchenglocke.

»Ganz ruhig. Du bist schon so oft betäubt worden, du weißt doch, dass du es ruhig angehen musst.«

Er will gerade fragen, wo Risa ist, da taucht sie in der Tür auf. »Ist er wach?«

»So eben.« Sonia schnappt sich ihren Stock, steht ächzend auf und räumt den Stuhl für Risa. »Es ist fast Mittag. Ich muss den Laden aufmachen, sonst rennen mir die Leute noch die Tür ein.« Doch ehe sie den Raum verlässt, tätschelt sie Connor tröstend das Bein. »Wir unterhalten uns später. Ich erzähle dir alles, was du über meinen Mann wissen willst. Oder zumindest das, was dieses schrumpelige Gehirn hier noch hergibt.«

Connor muss lächeln. »Sie erinnern sich bestimmt an die Steinzeit.«

»Du Klugscheißer.«

Mit diesen Worten humpelt sie aus dem Zimmer, und Risa setzt sich auf den Stuhl. Sie nimmt Connors Hand. Er erwidert den Händedruck, und anders als am Vortag tut er es aus ganzem Herzen.

»Ich bin froh, dass wir dich nicht wecken mussten. Du hattest den Schlaf nötig.«

»Der Betäubungsschlaf bringt keine Erholung. Man ist einfach nur weg.« Er räuspert sich, um den hartnäckigen Frosch im Hals loszuwerden. »Was ist passiert?«

Risa erzählt, dass die Männer sie und Grace unter dem Bett nicht gefunden, Cam aber gefesselt und mitgenommen haben. Für Connor ist es unfassbar, wie viel Glück sie hatten, aber vielleicht war es auch gar keins. Wenn die Leute nur den Auftrag hatten, Cam wieder einzufangen, waren ihnen seine Reisegefährten herzlich egal. Rein ins Haus, raus aus dem Haus, Mission erfüllt. Sie haben keine Ahnung, dass sie vor dem Baum standen und den Wald übersahen.

»Cam hätte uns alle verraten können, hat er aber nicht«, sagt Risa. »Er hat sich für uns geopfert.«

»Sie hatten ihn so oder so«, wendet Connor ein. »Ein Opfer war das nicht wirklich.«

»Ich finde, man muss es ihm hoch anrechnen. Wenn er uns verpfiffen hätte, hätte er damit seine Position stärken können.« Sie denkt einen Augenblick nach und lockert unwillkürlich den Griff um Connors Hand. »Er ist nicht das Monster, für das du ihn hältst.«

Sie wartet auf eine Reaktion, aber Connor ist noch zu müde, um ihr zuzustimmen. Und zustimmen würde er ihr wahrscheinlich sogar, denn immerhin hat Cam ihnen wichtige Informationen über das Proaktive Bürgerforum verschafft. Allerdings sind seine Motive so vielschichtig, dass man den Durchblick verliert.

»Cam hat uns gerettet, Connor – das kannst du ihm ruhig zugestehen.«

Er antwortet mit einer Kopfbewegung, die als vages Nicken gedeutet werden könnte. »Was machen sie wohl mit ihm?«

»Er ist ihr Goldjunge«, sagt Risa. »Sie polieren die angelaufene Goldschicht, bis er wieder glänzt.« Dann lächelt sie, ihre Gedanken sind abgeschweift. »Cam würde allerdings darauf hinweisen, dass Gold nicht anläuft.«

Ihr Lächeln ist Connor ein wenig zu warm, und obwohl er weiß, dass er mit dem Feuer spielt, sagt er: »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist in ihn verliebt.«

Sie erwidert seinen Blick kühl. »Sollen wir das jetzt wirklich ausdiskutieren?«

»Nein«, sagt Connor.

Risa tut es trotzdem. »Ich bin verliebt in das, was er für uns getan hat. Ich bin verliebt in sein Herz, das reiner ist, als alle glauben. Ich bin verliebt in seine Unschuld, die viel größer ist als seine Abgebrühtheit, obwohl er es selber gar nicht weiß.«

»Und du bist verliebt in seine Bewunderung für dich.«

Risa lächelt und wirft die Haare zurück wie ein Shampoomodel. »Das versteht sich von selbst.« Die Geste passt so wenig zu ihr, dass beide lachen müssen.

Connor setzt sich auf, und diesmal wird ihm nicht schwindelig. »Ich bin froh, dass du dich für mich entschieden hast, ehe sie ihn geholt haben.«

»Ich habe mich für gar nichts entschieden«, sagt Risa mit einem Anflug von Verärgerung.

»Trotzdem, ich bin froh«, sagt Connor sanft. »Das ist alles.« Er berührt ihr Gesicht mit Rolands Hand. Der Hai ist nur Zentimeter von ihr entfernt, doch Connor weiß mittlerweile: Er wird nie so nah an sie herankommen, dass er sie beißen könnte.

 

Sonia, die noch im Haus ist, findet, eine Betäubungsdosis ist mehr, als man Hannah zumuten kann. Nach dem nächtlichen Überfall kann sie nicht von Hannah erwarten, dass sie die Flüchtlinge weiter beherbergt.

»Es tut mir leid, aber ich muss an Dierdre denken«, sagt Hannah mit Tränen in den Augen. Sie hält das Kleinkind auf den Armen und wünscht den dreien alles Gute. Connor hat einen Kloß im Hals bei dem Gedanken, dass er das gestorchte Baby, das er einst gerettet hat, nie wiedersehen wird.

Sonia fährt Risa, Grace und Connor in dem SUV mit den verdunkelten Scheiben zu ihrem Geschäft. Sie beschließt, den Laden heute doch nicht zu öffnen. Im Hinterzimmer wenden sich die vier nun Themen zu, die so gewichtig sind, dass sie das Gefühl haben, der Boden könnte unter ihnen einbrechen. Connor besteht darauf, dass Grace dabei ist. Zwar wippt sie ungeduldig mit den Knien und interessiert sich scheinbar nicht für die Unterhaltung, aber der Schein trügt bei Grace immer.

»Eine verlässliche Quelle im Proaktiven Bürgerforum hat mir eine sehr interessante Geschichte erzählt«, beginnt Connor. Er hat keine Ahnung, ob Trace Neuhauser den Absturz in den Saltonsee überlebt hat. Wahrscheinlich nicht, denn Trace würde die Massaker, die Starkey mittlerweile im Namen der Freiheit veranstaltet, nie zulassen. Aber zum Glück konnte Trace Connor berichten, was er wusste, ehe er von Starkey gezwungen wurde, das Flugzeug zu fliegen. »Diese Quelle hat erzählt, dass der Name Janson Rheinschild im inneren Zirkel des Proaktiven Bürgerforums bis heute für Angst und Schrecken sorgt.«

Sonia lacht mit einer grimmigen Zufriedenheit. »Das höre ich gern. Ich hoffe, er verfolgt sie bis ins Grab.«

»Stimmt es also, dass sie …«, Connor sucht nach den richtigen Worten, merkt aber, dass sich das nicht dezenter ausdrücken lässt, »dass sie ihn liquidiert haben?«

»Das war nicht nötig«, sagt Sonia. »Wenn du einem Menschen alles nimmst, dann bleibt nicht mehr viel von ihm übrig. Janson starb an gebrochenem Herzen. Er wollte mit seinen Träumen sterben, und ich konnte ihn nicht daran hindern.«

Risa, die das zum ersten Mal hört, fragt: »Wer war er?«

»Mein Mann, Liebes.« Sonia stößt einen tiefen, traurigen Seufzer aus. »Und mein Komplize.«

Da wird auch Grace aufmerksam, sie sagt jedoch nichts dazu.

»Das Proaktive Bürgerforum hat ihn aus seiner Geschichte gelöscht«, sagt Connor.

»Seiner Geschichte? Die haben ihn aus der Weltgeschichte gelöscht! Wusstest du, dass wir mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden?«

Risa starrt sie entgeistert an, was Sonia zum Lachen bringt.

»Biowissenschaften, Liebes. Damals waren die Antiquitäten nur mein Hobby.«

»War das vor dem Heartland-Krieg?«, fragt Risa.

Sonia nickt. »Kriege haben die Tendenz, Menschen neu zu erfinden. Und vieles verschwinden zu lassen.«

Als Connor seinen Stuhl nach vorn zieht, kratzen die Stuhlbeine über den Holzboden. »Lev und ich haben im Internet nach ihm gesucht. Er war nicht mehr da. Aber es gab einen Artikel, in dem sein Name falsch geschrieben war – so haben wir ihn gefunden.« Dann fügte er hinzu: »Auf dem Foto warst du auch zu sehen. Deshalb wussten wir, dass du mit ihm zu tun hattest.«

Sonia dreht sich um und spuckt auf den Boden. »Uns aus der Geschichte zu löschen, war die größte Beleidigung. Aber so konnte ich wenigstens leichter untertauchen.«

»Wir wissen, dass Sie das Proaktive Bürgerforum gegründet haben«, sagt Connor. Risa sieht ihn wieder entgeistert an.

»Das war Janson. Damals war ich schon raus aus der Sache. Ich sah die Wolken aufziehen und wusste, dass sie nur Sturm bedeuten konnten. Aber Janson war ein Idealist. Das war sein bester Charakterzug und auch sein größter Fehler.« Ihre Augen werden feucht, und sie deutet auf die Taschentücher, die mitten im Chaos auf dem Tisch liegen. Grace reicht sie ihr. Sonia tupft sich die Augen ab und lässt dann keine Tränen mehr zu.

»Das Proaktive Bürgerforum war als Überwachungsinstanz geplant«, sagt Connor, »die die Welt gegen den Missbrauch der Biotechnologie schützen sollte. Was ist schiefgegangen?«

»Wir haben den Geist aus der Flasche gelassen«, erwidert Sonia traurig. »Und ein Flaschengeist ist keinem Meister treu.«

Von unten hören sie gedämpft einen Streit zwischen den versteckten Wandlern. Sonia klopft dreimal mit dem Stock auf den Holzboden, und schon ist es ruhig. Geheimnisse unten, Geheimnisse oben. Connor beugt sich unwillkürlich zu ihr vor, als sie mit ihrer Geschichte beginnt.

»Janson und ich haben die Neurotransplantationstechnik so revolutioniert, dass es möglich war, einen Spenderkörper komplett für Transplantationen zu verwenden: jedes Organ, jedes Körperglied, jede Gehirnzelle. Ziel war es, Leben zu retten, die Welt zu verbessern. Aber jede gute Absicht kann auch direkt in die Hölle führen.«

»Das Umwandlungsabkommen?«, fragt Connor.

Sonia nickt. »Als wir unsere Technik perfektionierten, dachte an so etwas noch niemand, doch der Heartland-Krieg tobte, und Massen wildgewordener Teenager füllten die Straßen. Die Menschen hatten Angst, sie waren verzweifelt.« Sonias Blick schweift bei der Erinnerung in die Ferne. »Das Umwandlungsabkommen kaperte unsere lebensrettende Technik und verwandelte sie in eine Waffe gegen diese Jugendlichen, mit denen sich niemand abgeben wollte. Der Vorstand des Proaktiven Bürgerforums machte mit, weil er erkannte, dass da mehr als nur ein paar Dollar drin waren, und setzte Janson vor die Tür. Man sah, dass die Geburt einer ganzen Industrie unmittelbar bevorstand.«

Bei dem Wort Geburt im Zusammenhang mit der Umwandlung schaudert Connor.

»Es geschah schnell und unbemerkt«, fährt Sonia fort. »Die Jugendbehörde wurde gegründet, ohne öffentlichen Aufschrei und fast ohne Widerstand. Alle waren einfach nur froh, den Heartland-Krieg zu beenden und die Streuner von der Straße zu bringen – aus den Augen, aus dem Sinn. Niemand wollte genau wissen, was mit ihnen geschah. Plötzlich gab es ein reiches Angebot anonymer menschlicher Teile für alle, die welche wollten. Und die, die keine jüngeren Hände, keine neuen leuchtenden Augen haben wollten, bombardierte man mit Werbespots. ›Ein neues Ich, von innen heraus!‹, hieß es auf den Plakatwänden. ›Verlängern Sie Ihr Leben um fünfzig Jahre.‹« Sonia schüttelt verbittert den Kopf. »Sie schufen eine Nachfrage … bald waren die Teile nicht mehr nur erwünscht, sondern notwendig … und die Umwandlung war plötzlich mit allen gesellschaftlichen Bereichen eng verwoben.«

Niemand sagt ein Wort. Die Stille wirkt wie eine Schweigeminute für die vielen Jugendlichen, die dieser gewaltigen Umwandlungsmaschinerie schon zum Opfer fielen. Dieser Industrie, wie Sonia es nannte. Ein Geschäftszweig, der mit Fleisch handelt, abseits jeder Ethik und doch im Rahmen der Gesetze und mit vollem Einverständnis der Gesellschaft.

Plötzlich wird Connor etwas klar. »Da ist doch noch etwas, Sonia, oder? Da muss noch etwas sein. Warum sollte das Proaktive Bürgerforum sonst Angst haben vor dem Mann, den es besiegt hat? Warum bringt Janson Rheinschilds Name sie immer noch zum Zittern?«

Nun lächelt Sonia. »Wovor hat jede Industrie eine Heidenangst?« Und als niemand antwortet, flüstert sie die Antwort wie ein unheilvolles Mantra: »Dass sie überflüssig wird …«

 

Im Antiquitätenladen, in einer düsteren Ecke, in die selten jemand kommt, befindet sich ein Haufen staubiger alter Computer, die so wild gestapelt sind, dass die Schwerkraft den Turm jederzeit zum Einsturz bringen könnte. Was jedoch nie geschieht. Sonia führt die drei dorthin. »Ich behalte sie, weil hin und wieder ein Sammler kommt, der alte Maschinen sucht, wenn auch nicht oft. Und wenn einer kommt, zahlt er nicht viel.«

»Warum sind wir dann hier?«, fragt Connor.

Leiser als sonst klopft sie mit ihrem Stock auf den Boden. »Weil ich euch etwas zeigen möchte. Technik altert nicht sonderlich gut – anders als ein hochwertiges Möbelstück.« Sie setzt sich auf eins dieser hochwertigen Möbelstücke, einen geschwungenen Holzsessel mit rotem Samtbezug. Der Sessel ist wahrscheinlich mehr wert als alle Computer zusammen.

»Nach der Unterzeichnung des Umwandlungsabkommens gab ich auf. Ich war angeekelt von der Rolle, die ich ungewollt dabei gespielt hatte. Doch Janson kämpfte, bis zu dem Tag, an dem er starb. Da die Menschen mittlerweile süchtig waren nach Teilen, war Janson klar, dass sich die Umwandlung nur abschaffen ließ, indem man ihnen billigere Teile gab, die nicht erst geerntet werden mussten. Wenn die Umwandlung überflüssig wurde, würden die Menschen plötzlich ihr Gewissen wiederentdecken. Die Umwandlung hätte ein Ende.«

»Die Glücksmenschen nutzen ihre Geisttiere für Transplantate«, sagt Connor. »So kamen sie um die Umwandlung herum.«

»Ich zeige euch etwas viel Besseres«, sagt Sonia. »Was wäre, wenn wir einen endlosen Vorrat an Zellen kultivieren, sie in eine Maschine geben, sagen wir, eine Art Drucker, und uns ein Organ ausdrucken könnten?«

Die anderen sehen einander an. Connor weiß nicht recht, ob das eine rhetorische Frage ist, ob Sonia einen Witz macht oder ob sie einfach nur den Verstand verliert.

»Wie … ein 3-D-Drucker?«, fragt Risa.

»Genau, so etwas Ähnliches«, erwidert Sonia. »Technisch vergleichbar, nur viel fortschrittlicher.«

»Äh … was soll mir denn das Bild einer Leber bringen?«, will Connor wissen.

Da tritt ein seltsamer Ausdruck in Sonias Augen, und die Wissenschaftlerin, die sie einst war, schimmert durch. »Und wenn es nicht nur ein Bild wäre?«, fragt sie. »Wenn man die Zellen Schicht für Schicht drucken könnte, eine nach der anderen, immer dicker und dicker? Wenn man das Problem mit der Durchblutung lösen könnte, indem man Lücken programmiert und diese anschließend mit semipermeablen Membranen füllt, die zu Blutgefäßen ausreifen?«

Sie sieht die drei an, einen nach dem anderen. Die Leidenschaft in ihren Augen wirkt hypnotisch. Plötzlich ist sie keine alte Frau mehr, sondern eine begeisterte Naturwissenschaftlerin, in der das Feuer lodert, dessen Funken sie jahrelang in sich gehütet hat.

»Stellt euch vor, ihr erfindet einen Drucker, der lebende menschliche Organe aufbauen kann.« Sonia steht auf. Sie ist eine kleine Frau, doch in diesem Moment kommt sie Connor riesig vor. »Ihr verkauft das Patent an den landesweit größten Hersteller medizinischer Geräte … und der nimmt eure Arbeit … und begräbt sie. Nimmt eure Pläne und verbrennt sie. Zerstört die Prototypen und verhindert, dass jemals jemand erfährt, dass es diese Technik überhaupt gibt.«

Sonia zittert am ganzen Leib, nicht vor Schwäche, sondern vor Wut. »Die Firma lässt die Lösung zum Problem der Umwandlung verschwinden, weil zu viele Leute zu viel investiert haben. Damit alles … genau so … bleibt … wie es ist.«

Die nun folgende Stille wird von einer bescheidenen unaufdringlichen Stimme durchbrochen.

»Aber stellen wir uns vor, es wäre noch ein Organdrucker übrig«, sagt Grace. »In einem Antiquitätenladen.«

Sonias Wut verfliegt und weicht einem breiten mütterlichen Lächeln.

»Ja, was wäre dann?«