10. Connor

»Verdammt, ausgerechnet heute eine Baustelle!« Connor war sicher gewesen, dass sie auffliegen würden. Dass einer der anderen Fahrer, die im Baustellenverkehr feststeckten, in das Auto hineinschauen und sehen würde, dass er keineswegs der Polizist Joey ist.

»Nicht nur heute«, erklärt Grace. »Sie graben seit Wochen die Kanalisation auf. Stinkt zum Himmel.«

Connor war vorsichtig den Leitkegeln ausgewichen und hatte jeden Augenkontakt mit den Bauarbeitern vermieden. Nachdem er den Umleitungsschildern gefolgt ist, gibt er jetzt auf der Cypress Street Vollgas. Zum Teufel mit der Geschwindigkeitsbegrenzung. Wer hält schon einen Streifenwagen an, weil er zu schnell ist?

Da springt auf einmal ein Junge direkt vor ihm auf die Straße, und sofort hat Connor den verdammten Strauß wieder vor Augen. Aber wenn es heute einen Verkehrstoten gibt, dann wird das sehr viel schlimmer sein als ein toter Vogel. Connor steigt in die Eisen. Er und Grace werden nach vorn geschleudert. Er hört den Aufprall, als der leichtsinnige Junge von der Stoßstange erfasst wird. Endlich steht der Wagen. Zum Glück gab es kein verräterisches Holpern, mit dem der Wagen den Körper des Jungen womöglich überrollt hätte. Der Junge wurde nur angefahren. Aber das Auto hat ihn ziemlich schlimm erwischt.

»O je, das ist übel, Argie!« Grace merkt wahrscheinlich nicht einmal, dass sie Connor gerade Argie genannt hat.

Connor zieht in Betracht, einfach Gas zu geben und wegzufahren, allerdings nur den Bruchteil einer Sekunde lang, dann verwirft er diesen Gedanken. So was tut er nicht. Nicht mehr. Inzwischen treibt ihn mehr an als nur ein fundamentaler Selbsterhaltungstrieb. Er steigt aus, um die Lage abzuchecken, und schließt dabei einen Pakt mit seinem Überlebensinstinkt: Wenn der Junge tot ist, fährt er einfach weg und fügt Fahrerflucht der Liste seiner Vergehen hinzu. Dableiben hilft einem toten Jungen nicht. Aber wenn er lebt, bleibt er und tut, was getan werden muss, bis Hilfe kommt. Und wenn das bedeutet, dass er gefasst wird, dann ist das eben so.

Die Gestalt, die ausgestreckt auf der Straße liegt, stöhnt. Connor ist erleichtert, wird aber gleichzeitig von Angst gepackt. Was wird jetzt geschehen? Als er jedoch sieht, wer da liegt, machen sich Schreck und absolute Fassungslosigkeit in ihm breit.

Levs Gesicht ist schmerzverzerrt. »Du bist es wirklich«, sagt er. »Ich hab’s gewusst.«

Connor ist mehr als einfach nur sprachlos.

»Ist er tot?« Grace steigt aus und hält sich die Augen zu. »Ich mag gar nicht hinschauen – ist er tot?«

»Nein, aber …« Er bricht ab und hebt Lev hoch, der dabei hilflos aufheult. Erst jetzt bemerkt Connor, dass Levs Schulter unnatürlich weit vorsteht. Aber darüber darf er jetzt nicht nachdenken.

»Er ist das?«, Grace hat die Hände von den Augen gelöst. »Was macht der denn hier? Hast du das geplant? Das war dann aber kein guter Plan.«

Die Menschen in den umliegenden Häusern sind auf ihre Veranden getreten und beobachten das kleine Drama. Auch darüber darf Connor jetzt nicht nachdenken. Er legt Lev vorsichtig auf den Rücksitz und bittet Grace, sich zu ihm zu setzen. Dann steigt er mit vorgetäuschter Ruhe selbst wieder ein und fährt weg.

»Zum Krankenhaus geht’s die Baxter hoch«, sagt Grace.

»Geht nicht«, erwidert Connor. »Nicht hier.« Aber eigentlich meint er: nirgendwo. Wenn sie Lev in ein Krankenhaus bringen, weiß man dort innerhalb weniger Minuten, wer er ist. Und Lev hat nicht nur gegen die Hausarrestauflagen verstoßen, sondern ist auch vor den Leuten weggelaufen, die ihn vor der Jugendbehörde beschützt haben. Zwischen hier und Sonia gibt es keinen sicheren Ort für ihn.

Grace beugt sich zu Lev hinüber und schaut sich seine Schulter an. »Ausgekugelt«, stellt sie fest. »Ist Argent auch mal passiert. Wir haben Pingpong gespielt. Ist mit der Schulter gegen eine Wand geprallt. Hat natürlich mir die Schuld dafür gegeben, weil ich den Ball so geschlagen hab, dass er hinterherhechten musste. Aber den Punkt hatte ich.« Sie legt beide Hände auf Levs Schulter. »Das wird jetzt höllisch weh tun.« Dann drückt sie mit ihrem ganzen Gewicht darauf.

Lev heult vor Schmerz so laut auf, dass Connor erschrocken aus seiner Spur ausschert. Dann holt Lev Luft und schreit wieder. Der dritte Schrei ist nur noch ein Wimmern. Als Connor nach hinten schaut, ist Levs Schulter wieder in ihr Gelenk zurückgeschnappt.

»Das ist wie ein Sprung ins kalte Wasser«, erklärt Grace. »Du musst es schnell tun. Bevor du darüber nachdenkst.«

Trotz seiner Schmerzen besitzt Lev die Geistesgegenwart, ihr tatsächlich dafür zu danken, dass sie seine Schulter wieder eingerenkt hat. Aber er muss noch andere innere Verletzungen haben, die sie nicht sehen können, denn er verzieht bei jeder Bewegung vor Schmerzen das Gesicht.

Grace’ Plan gemäß biegen sie in den Supermarktparkplatz ein und lassen den Streifenwagen dort mitsamt dem Schlüssel und der Waffe des Polizisten stehen. Eine fehlende Waffe würde zu viele Fragen aufwerfen. Wenn man dem Mann seinen Wagen und seine Waffe ließ, würde er vielleicht allein schon deshalb schweigen, um sich nicht irgendwelchen Demütigungen auszusetzen.

Connor lässt alle Vorsicht fahren und schließt auf dem offenen Parkplatz einen blauen Honda kurz. Innerhalb von zwei Minuten sind sie wieder in Richtung Autobahn unterwegs. In dem neuen Auto riecht es unangenehm nach Arschschweiß und alten Kartoffelchips, außerdem vibriert das Lenkrad, was wohl von einer Unwucht irgendwo im Fahrzeug herrührt. Aber solange der Wagen sie aus Heartsdale rausbringt, ist er für Connor eine Märchenkutsche. Die Stadt selbst dagegen hat sich offenbar gegen sie verschworen. Sie erwischen jedes rachsüchtige Schlagloch und treffen auf jede sinnlos rote Ampel, die Heartsdale zu bieten hat. Bei jedem Stoß stöhnt Lev, verzerrt das Gesicht und zieht hörbar die Luft ein.

»Es wird immer schlechter, bevor es besser wird.« Grace spricht aus, was offensichtlich ist, und Connor muss sich beherrschen, damit er sie nicht anschreit, wie Argent es tun würde. Im Gegensatz zu Argent ist Connor klar, dass nicht Grace ihn nervt, sondern die Situation insgesamt.

An der letzten Ampel vor der Autobahn dreht er sich um und bittet Lev, das Hemd hochzuheben.

»Warum soll er das tun?«, fragt Grace.

»Weil ich was schauen will.«

Lev hebt sein Hemd hoch, und Connor verzieht das Gesicht, als seine schlimmste Befürchtung sich bewahrheitet. Lev hat sich bei dem Unfall nicht nur die Schulter ausgekugelt, sondern seine gesamte Seite schillert in allen Farben des Sonnenuntergangs. Er hat innere Blutungen, aber sie haben keine Möglichkeit, festzustellen, wie schlimm sie sind.

»O Gott, o Gott«, sagt Grace mit zitternder Stimme. »Du hättest ihn nicht anfahren sollen! Du hättest ihn nicht anfahren sollen!«

»Okay.« Connor wird ganz schummrig. »Okay, jetzt wissen wir Bescheid.«

»Was wissen wir?« Grace’ Stimme ist vor Angst ganz schrill. »Gar nichts wissen wir!«

»Ihr kennt jetzt mein dunkles Geheimnis«, sagt Lev träge. »Ich verwandle mich gerade in eine Aubergine.« Er will über seinen Scherz lachen, aber das Lachen bleibt ihm im Hals stecken, weil es zu sehr weh tut.

Risa wüsste, was zu tun ist, denkt Connor. Er spürt in seinem Kopf ihrer Stimme nach. Der Klarheit ihrer Gedanken. Sie hatte auf dem Friedhof die Krankenstation geleitet – besser als jeder Profi. Sag mir, was ich tun soll, Risa. Aber heute ist sie stumm und scheint ihm ferner zu sein als je zuvor. Das verstärkt seine Verzweiflung und seine Sehnsucht nach ihr nur noch mehr. Wenn sie erst bei Sonia sind, wird alles gut, sie hat bestimmt eine ganze Latte von Ärzten an der Hand, die ihre Sache unterstützen. Aber jetzt sind sie noch in Kansas. Ohio scheint noch nie weiter weg gewesen zu sein.

Sein Blick fällt auf das Handschuhfach. Manchmal bewahren Leute Ibuprofen oder Aspirin dort auf, allerdings rechnet er nicht damit, so viel Glück zu haben, wenn man bedenkt, wie es in letzter Zeit um sein Glück bestellt war. Doch das Glück ist zu blöd, um beständig zu sein: Als er sich hinüberlehnt und das Handschuhfach öffnet, fallen ihm klirrend orangefarbene Fläschchen entgegen.

Connor atmet erleichtert auf und wirft die Fläschchen zu Grace nach hinten. »Lies mir vor, was draufsteht«, sagt er, und Grace platzt fast vor Stolz über diese Bitte. Was immer sie für Entwicklungsprobleme haben mag, Schwierigkeiten beim Lesen komplizierter Wörter gehören jedenfalls nicht dazu. Sie rasselt Medikamentennamen herunter, die Connor wahrscheinlich nicht einmal aussprechen könnte. Einige kennt er, von anderen hat er keine Ahnung. Aber eines ist sicher: Der Besitzer dieses Wagens ist entweder sehr krank, ein Hypochonder oder einfach nur ein Junkie.

Unter den Medikamenten in der Armaturenapotheke ist Ibuprofen in einer regelrechten Pferdedosis und fast ebenso große Hydrocodonkapseln.

»Super«, sagt er zu Grace. »Gibt Lev von diesen beiden was. Jeweils eine Tablette.«

»Ohne was zu trinken?«, fragt Grace.

Connor fängt Levs Blick im Rückspiegel auf. »Tut mir leid, Lev. Schluck sie trocken oder kau sie. Wir können jetzt nicht anhalten und was zu trinken kaufen. Und du musst diese Medikamente so schnell wie möglich in deinen Körper kriegen.«

»Zwing ihn nicht dazu!«, jammert Grace. »Das schmeckt bestimmt eklig.«

»Das halt ich schon aus«, sagt Lev, aber Connor gefällt es überhaupt nicht, wie schwach seine Stimme klingt.

Lev sammelt ein bisschen Spucke im Mund, wirft sich beide Pillen auf einmal ein und schafft es, sie fast ohne zu würgen hinunterzuschlucken.

»Okay. Gut«, sagt Connor. »In der nächsten Stadt halten wir an und besorgen Eis gegen die Schwellung.«

Connor redet sich ein, dass Levs Zustand gar nicht so schlimm ist. Es ragt ja kein Knochen durch die Haut oder so. »Alles wird gut«, sagt er zu Lev. »Alles wird gut.«

Aber auch als sie nach zehn Kilometern Eis gekauft haben, klingt Connors Mantra »alles wird gut« einfach nicht glaubhaft. Levs Seite ist dunkellila angeschwollen. Auch seine linke Hand und seine Finger schwellen an und erinnern an ein Schwein in einem Comic. Es wird immer schlechter, bevor es besser wird. Grace’ Worte hallen in Connors Gedanken wider. Er fängt Levs Blick im Rückspiegel auf. Seine Augen sind feucht und trüb. Er kann sie kaum offen halten.

»Bleib wach, Lev!«, sagt Connor ein bisschen zu laut. »Grace, sorg dafür, dass er wach bleibt.«

»Man wird gesund, wenn man schläft«, antwortet Grace.

»Nicht wenn man in einen Schockzustand fällt. Bleib wach, Lev!«

»Ich versuch’s.« Seine Aussprache wird undeutlich. Connor möchte glauben, dass das von den Medikamenten kommt, aber er weiß es besser.

Connor richtet den Blick auf die Straße. Ihre Möglichkeiten sind sehr begrenzt, und die Lage ist ernst. Aber da sagt Lev: »Ich weiß, wohin wir können.«

»Noch ein Witz?«, fragt Connor.

»Hoffentlich nicht.« Lev atmet langsam ein paarmal ein und aus, bevor er die Kraft oder vielleicht auch den Mut hat, es ihnen zu sagen. »Bring mich zum Arápache-Reservat westlich von Pueblo in Colorado.«

Connor ist sich sicher, dass Lev phantasiert. »Ein Glücksmenschen-Reservat? Warum sollten Glücksmenschen was mit uns zu tun haben wollen?«

»Asyl«, zischt Lev. »Die Glücksmenschen haben das Umwandlungsabkommen nie unterzeichnet. Die Arápache haben kein Auslieferungsabkommen. Sie geben flüchtigen Wandlern Asyl. Manchmal wenigstens.«

»Von wegen Asyl!«, sagt Grace. »In ein Reservat von Zocker-Rothäuten geh ich auf keinen Fall!«

»Du hörst dich an wie Argent«, schimpft Connor. Das gibt ihr zu denken.

Connor überlegt, welche Möglichkeiten sie haben. Wenn sie bei den Arápache um Asyl bitten wollen, müssen sie umdrehen und nach Westen fahren. Selbst wenn er richtig Gas gibt, würde er das Reservat frühestens in vier Stunden erreichen. Und für Levs Zustand ist das eine lange Zeit. Aber sie können entweder das tun oder sich im nächsten Krankenhaus stellen. Und das ist keine Option.

»Woher weißt du das alles über die Arápache?«, fragt Connor.

Lev seufzt. »Ich war da.«

»Na ja.« Connor ist mehr als nur ein bisschen nervös. »Dann hoffen wir mal, dass du auch noch ein bisschen länger da bleibst.« Dann wendet er, indem er den Wagen über den unbefestigten Mittelstreifen steuert, und fährt nach Westen Richtung Colorado.