56. Hayden
Die Vorräte kommen wie Manna aus dem Himmel. Die Nahrungsmittel sind besser als alles, wovon sie bisher gelebt haben. Vakuumverpackter Braten, der nicht gekühlt werden muss. Gemüse in solchen Mengen, dass sie es nicht rationieren brauchen. Haydens Inventur wird unversehens zu einem Vollzeitjob. Aber was die neuen »Partner« noch so bringen, beunruhigt Hayden zutiefst. Es treffen Waffen ein, die er noch nie gesehen hat: Panzerfäuste, die schwerer sind als die Kids, die sie bedienen sollen. Starkey hat nicht gesagt, wer die neuen Wohltäter sind, aber Hayden fragt sich, wer so verrückt ist, eine Horde wütender Teenager mit Waffen zu versorgen, die für eine Armee gemacht sind. Noch beunruhigender ist allerdings der Gedanke, wofür Starkey sie womöglich einsetzt.
Starkey gibt sich nicht mehr mit Hayden ab. Für ihn ist Hayden gar nicht da, er ist zu unbedeutend, als dass er sich mit ihm befassen würde, aber zu gefährlich, um ihn gehen zu lassen.
»Warum bist du nicht längst geflohen?«, fragt Bam Hayden. »Du hättest dieser unfähigen Wache schon so oft entkommen können.«
»Und euch einfach im Stich lassen?«, sagt Hayden. »Würde mir im Traum nicht einfallen.«
Er würde liebend gern aus diesem Albtraum abhauen und sich in Sicherheit bringen, kann aber tatsächlich die Kids nicht einfach der zerstörerischen Glut von Starkeys Ego überlassen. Natürlich verehren viele Storche den Boden, auf dem Starkey wandelt, doch das liegt daran, dass sie sich verzweifelt an einen Helden klammern. Hayden hat nicht das Bedürfnis, ein Held zu sein. Er will nur, dass er und möglichst viele um ihn herum überleben.
Wie Hayden es befürchtet hat, findet Starkey schnell das nächste Ziel der Storchenbrigade. Jeevan hat eingelenkt und seine Fähigkeiten dazu genutzt, die Firewalls zu durchbrechen. Nun haben sie sämtliche Informationen, die sie für einen Angriff brauchen. Diesmal wird es kein raffinierter, geheimer Angriff und nicht einmal ein wilder Sturm auf das Haupttor. Nein, diesmal werden die Storche das Ernte-Camp mit eiserner Faust überfallen. Hayden ist klug, ja, gerissen, aber ihm fällt nichts ein, wie er Starkey aufhalten könnte, es sei denn, er jagte ihm eine Kugel in den Kopf. Doch das bringt er einfach nicht fertig.
Bam hat Hayden gebeten, ihr zu sagen, was er denkt und was er weiß. Als Starkey seine Storche auf den nächsten Angriff vorbereitet, geht Hayden daher mit Bam in den Computerraum und zeigt ihr einige der Dinge, die er über die Welt da draußen herausgefunden hat.
Zunächst zieht er einen Werbespot nach dem anderen auf den Bildschirm. »Davon gibt es online und im Fernsehen immer mehr. Sie fluten die Medien regelrecht damit.« Er zeigt ihr leidenschaftliche Appelle, das U-17-Gesetz zurückzunehmen, damit ältere Jugendliche wieder umgewandelt werden können.
In Werbespots für rechtliche Maßnahmen, Gesetzentwürfe und Volksabstimmungen wird die verpflichtende Umwandlung »unerwünschter« Teenager gefordert, die weitere Verkleinerung staatlicher Waisenhäuser durch Umwandlung, der Bau neuer Ernte-Camps mittels staatlicher Förderung und so weiter.
Bam beeindruckt das nicht sonderlich. »Na und? Es hat doch immer schon massenhaft Anzeigen gegeben. Das ist doch nichts Neues.«
»Ja, aber sieh dir mal das an.« Er zeigt ihr ein Schaubild, das die Häufigkeit darstellt, in der die Anzeigen laufen. »Schau mal, wie die Spots direkt nach der Befreiung von Cold Springs zugenommen haben. Und nach MoonCrater wurden sie fast doppelt so oft gezeigt.« Hayden sieht sich kurz um, ob sie wirklich unbeobachtet sind, spricht aber dennoch im Flüsterton weiter. »Seit die Storchenbrigade Jugendliche aus den Ernte-Camps befreit, kriegen die Leute da draußen Angst, Bam. Gesetze, die vor ein paar Monaten noch keine Chance hatten, erhalten jetzt immer mehr Unterstützung. Starkey will einen Krieg, stimmt’s? Aber sobald die Leute es als Krieg betrachten, müssen sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Und je mehr Angst sie haben, desto eher sind sie auf der Seite der Jugendbehörde. Was bedeutet: Wenn sich das alles zu einem Krieg auswächst … verlieren wir.«
Hayden kann sich recht gut vorstellen, wie das ausgeht: Das Kriegsrecht wird ausgerufen, genau wie damals bei den Jugendrevolten. Kids werden schon wegen der kleinsten Verstöße aus ihrem Haus gezerrt und umgewandelt, und das Volk wird alles dulden, weil es Angst hat.
»Für jedes Ernte-Camp, das wir überfallen, werden zwei neue gebaut.« Er beugt sich nah zu ihr heran und sagt eindringlich: »Starkey schafft die Umwandlung nicht ab, Bam. Er sorgt dafür, dass sie niemals aufhört!«
Bam wird blass. Sie hat endlich kapiert. Er fährt fort: »Die Leute, die Starkeys Krieg finanzieren, wollen vielleicht das System erschüttern, aber in Wahrheit machen sie es nur stärker und geben der Jugendbehörde mehr Macht.«
Da sagt Bam etwas, das Hayden noch gar nicht in den Sinn gekommen ist. »Und wenn sie genau das vorhaben? Wenn die Leute, die Starkey finanzieren, der Jugendbehörde mehr Macht geben wollen?«
Hayden bekommt eine Gänsehaut. Ihm wird klar, dass Bam in diesem Bergwerk womöglich genau die Ader gefunden hat, die zum Goldschatz führt.