44. Nelson

Als er zu Bewusstsein kommt, braucht er einen Augenblick, bis ihm wieder einfällt, wo er ist. Das Omni William Penn in Pittsburgh, Präsidentensuite. Ein Umweg auf einer sinnlosen Schnitzeljagd, die er sich lieber erspart hätte.

Im Fernsehen läuft leise ein Actionfilm. Der nichtsnutzige Kassierer sitzt davor und mampft Pommes, die er sich wohl vom Zimmerservice hat kommen lassen. Als er sich zu Nelson umdreht, sieht er, dass er wach ist, und zieht den Stuhl zu ihm hinüber.

»Geht’s besser?«

Nelson würdigt ihn keiner Antwort.

»Das Hotel ist so schick, die haben sogar einen Arzt«, sagt Argent. »Hab ihn kommen lassen, dass er mal nach dir sieht. Keine Angst. Die Sauerei hab ich vorher saubergemacht, und bevor er gekommen ist, hab ich dich schön ins Bett gelegt. Du hast sogar mit ihm geredet. Weißt du noch, dass du mit dem geredet hast?«

Nelson weigert sich noch immer, ihm zu antworten.

»Nee, hab ich mir schon gedacht. Du hast so wirres Zeug geredet, von einem Friedhof und einem Tornado. Der Arzt hat gesagt, die komischen Bisse da an deinem Arm, die sind entzündet. Hat dir eine Spritze mit Antibiotika gegeben. Wollte mir einreden, dass du in die Notaufnahme gehörst, aber ich hab ihn bar bezahlt, da hat er die Klappe gehalten. Ich hab’s aus deiner Brieftasche genommen. Hoffe, das macht dir nichts. Hab dich nicht betrogen oder so. Er hat mir sogar eine Quittung gegeben. Von der Apotheke habe ich auch eine, da habe ich das Rezept eingelöst, für mehr Antibiotika. Dreimal am Tag musst du die nehmen, zum Essen.«

Nelson steht wie ein Fels in der Brandung der Worte. Ein paar versteht er, der Rest fließt an ihm vorbei.

»Was machst du noch hier?«, fragt er schließlich.

»Konnte dich ja wohl nicht einfach sterben lassen, oder? Wir sind doch ein Team. Einer für alle und so, du weißt schon.«

»Geh mir aus den Augen.«

Als Argent sich nicht rührt, wendet Nelson den Kopf ab. Schon bei der kleinsten Kopfbewegung hat er das Gefühl, auf einem Karussell zu sitzen.

»Versteh schon, dass du sauer auf mich bist«, sagt Argent. »Vielleicht hättest du mich sogar umgebracht, vielleicht auch nicht. Aber wenn ich dein Lehrling sein will, muss ich auch einstecken können, das ist mir schon klar.«

Nelson zwingt sich, Argent wieder anzusehen. »In was für einem Universum lebst du eigentlich?«

»Demselben wie du«, sagt Argent.

Er betrachtet das Etikett des Tablettenfläschchens und stellt es absichtlich so auf den Nachttisch, dass Nelson nicht drankommt. »Ob es dir gefällt oder nicht, im Moment brauchst du mich. Solange du mich brauchst, schaffst du mich nicht aus dem Weg. Vielleicht bringst du mir sogar bei, was ein Teilepirat so macht. Eine Hand wäscht die andere, sagt man doch so. Und deine Hände sind sozusagen schmutzig. Also bleibe ich, da haben wir beide was davon.«

Nelson würde wahrscheinlich darüber lachen, dass er jetzt völlig von Argent Skinner abhängig ist, wenn es nicht so weh tun würde. »Dann bist du jetzt wohl meine Krankenschwester?«

»Ich bin immer das, was du gerade brauchst«, erwidert Argent. »Heute brauchst du eine Krankenschwester, also bin ich eben eine. Morgen brauchst du vielleicht einen, der eine Wandlerfalle aufstellt, und dann mach ich das. Und wenn du Connor Lassiter suchst und Hilfe brauchst, bist du bestimmt froh, dass du mich hast.« Er öffnet die Karte vom Zimmerservice. »Also, ich glaube, für dich am besten eine Suppe. Und wenn du brav bist, gibt’s hinterher ein Eis.«

 

Es dauert noch einen weiteren Tag, bis Nelson stark genug ist, aufzustehen. Er hat es aufgegeben, sich gegen Argent zu wehren. Der Junge mag ein Idiot sein, aber er ist auch raffiniert. Er weiß, wie er sich unentbehrlich machen kann, zumindest für den Moment.

»Ich weiß schon, du setzt mich vor die Tür, wenn dir danach ist«, sagt Argent. »Ich muss also dafür sorgen, dass dir nicht danach ist.«

Sie reden nicht über ihre Mission. Nelson fragt Argent nicht nach dem Code für den Chip, weil ihm klar ist, dass er seinen einzigen Trumpf erst in letzter Sekunde ausspielen wird. Außerdem ist Nelson, so gern er weiterfahren würde, nicht in der Verfassung dazu. Es bleibt ihm nichts anderen übrig, als sich in der Präsidentensuite zu erholen.

»Teilepirat zu sein, bringt wohl ziemlich viel Geld, wenn du dir so was leisten kannst«, sagt Argent mehr als einmal in dem Versuch, Nelson Informationen aus der Nase zu ziehen. Nelson kann sich zwar Angenehmeres vorstellen, als mit Argent zu plaudern, ergibt sich aber in sein Schicksal, zumal Argent ein dankbarer Zuhörer ist. Er verrät ihm ein paar seiner Tricks und erklärt ihm den Aufbau seiner besten Fallen: die mit Leim ausgeschmierte Betonröhre, die Zigarettenschachtel auf einer Matratze, die über einer Grube liegt. Argent hängt ihm dermaßen an den Lippen, dass Nelson sogar Spaß daran findet, mit seinen Coups zu prahlen.

»Einmal habe ich einen flüchtigen Wandler eine Minigiftgranate schlucken lassen und ihm gesagt, ich würde sie per Fernsteuerung zünden, wenn er mir seine Freunde nicht ausliefert. Er hat mir fünf Kids gebracht, allesamt qualitativ hochwertiger als er.«

»Hast du die Granate gezündet?«

»Das war keine Granate«, erwidert Nelson. »Es war eine Brombeere.«

Argent muss lachen, und Nelson lacht aus vollem Hals mit.

Er kann nicht behaupten, dass er Argent mag – sonderlich liebenswert ist der Knabe wirklich nicht. Aber Nelson sieht ein, dass er Argent braucht. Wie der Wandler, der ihm seine Freunde ausgeliefert hat, hat Argent Skinner für Nelson einen Wert. Den Wandler mit der Brombeere ließ Nelson damals laufen, weil das nur fair war und er sich als rechtschaffenen Menschen betrachtet. Nelson wird dafür sorgen, dass auch Argent seine gerechte Belohnung bekommt.

 

Am nächsten Morgen fahren sie weiter. Nelson ist schon kräftiger, wenn auch noch nicht völlig auf dem Damm. Die Bisse sind noch rot und geschwollen, die verbrannte Gesichtshälfte ist immer noch entzündet und schält sich, aber zumindest hat das Fieber nachgelassen. Beim Auschecken erträgt er die beunruhigten Blicke der anderen Hotelgäste, wie er sie schon beim Einchecken ertrug.

»Sagst du mir, wo wir hinfahren?«, fragt Argent. Jetzt, da Nelson wieder zu Kräften kommt, wird Argent zunehmend unsicher.

»Nicht nach New York«, ist alles, was Nelson ihm mitteilt.

Das veranlasst Argent dazu, ihm wortreich zu erläutern, wo er noch nicht gewesen ist, aber schon immer gern mal hinwollte. Offenbar setzt er alles daran, das nächste Ziel aus Nelson herauszukitzeln. »Es hat doch keinen Sinn, unterwegs zu sein, wenn man nicht weiß, wo man hinfährt.«

»Ich weiß, wo wir hinfahren.« Nelson genießt es, Argent zappeln zu lassen.

»Nach allem, was ich für dich getan habe, könntest du mir wenigstens einen Tipp geben.«

Als sie den Allegheny River überqueren und Pittsburgh hinter ihnen verschwindet, legt Nelson die Karten auf den Tisch. »Wir fahren nach Sarnia.«

»Sarnia? Hab ich noch nie gehört.«

»Das ist in Kanada, an der Grenze bei Port Huron, Michigan. Ich will dich meinem Kontaktmann auf dem Schwarzmarkt vorstellen, vorausgesetzt, er ist nicht gerade unterwegs. Ein feiner Kerl namens Divan.«

Argent verzieht das Gesicht, als hätte er einen ekligen Geruch in die Nase bekommen. »Komischer Name. Im Supermarkt haben wir Chicken Divan verkauft.«

»Es wäre klüger, ihn nicht zu beleidigen. Divan leitet das erfolgreichste Ernte-Camp auf dem Schwarzmarkt diesseits von Burma. Mit allem Schnickschnack. Ich bringe ihm sämtliche Wandler, die ich einfange, und er ist immer fair und ehrlich zu mir. Wenn du Teilepirat werden willst, ist er der Mann, den du kennen musst.«

Argent rutscht unruhig auf seinem Sitz hin und her. »Ich hab schon was über den Schwarzmarkt gehört. Rostige Skalpelle, keine Betäubung.«

»Du meinst das Dah Zey in Burma. Divan macht das Gegenteil. Ein echter Gentleman, und ehrenwert noch dazu. Er war mir gegenüber immer anständig.«

»Okay«, sagt Argent. »Klingt gut.«

»Und jetzt«, fügt Nelson hinzu, »erwarte ich als Gegenleistung für das Vertrauen meinerseits ein bisschen Vertrauen deinerseits. Ich will den Code für den Chip deiner Schwester haben.«

Argent sieht starr vor sich auf die Straße. »Vielleicht später.«

»Vielleicht jetzt.«

Nelson fährt mit dem Auto an den Straßenrand. »Wenn nicht, lasse ich dich einfach hier stehen, sage tschüss, und du kannst dein elendes Leben weiterleben, ohne dass ich mich einmische.«

Autos sausen an ihnen vorbei. Argent sieht aus, als wäre ihm schlecht. »Ohne den Code findest du Lassiter nie.«

»Wir haben sowieso keine Garantie, dass deine Schwester noch bei ihm ist. Wenn sie auch nur halb so nervig ist wie du, hat er sie wahrscheinlich schon eine Stunde hinter Heartsdale sitzenlassen.«

Argent überlegt. Er fummelt unruhig mit den Händen und zupft nervös an den Nähten in seinem Gesicht.

»Du versprichst mir, dass du mich nicht umbringst?«

»Ich verspreche, dass ich dich nicht umbringe.«

»Einer für alle, ja? Wir sind ein Team?«

»Zwangsläufig, nicht freiwillig.«

Argent atmet tief ein. »Wir treffen uns mit diesem Divan. Dann sag ich es dir.«

Nelson schlägt vor Wut aufs Steuer, beherrscht sich aber gleich wieder. »Gut. Wenn du es so willst.« Dann zieht er seine Betäubungswaffe aus der Jackentasche und legt Argent mit einem Schuss in die Brust lahm.

Argents Augen weiten sich vor Entsetzen angesichts dieses Verrats.

»Du glaubst ja gar nicht, wie gut mir das getan hat«, sagt Nelson.

Argent sinkt in seinem Sitz zusammen, und Nelson seufzt zufrieden. Wenn er auf der Suche nach Connor Lassiter und seinem stinkenden Zehntopferfreund die Anwesenheit Argent Skinners ertragen muss, dann wird er es eben tun. Dafür muss Argent aber hin und wieder bewusstlos sein. Nelson lächelt. Am Ende wird er Argent vielleicht genau so von seinem Elend befreien, wie er es für Lev Calder geplant hat, der ihn in Arizona betäubt auf der Straße hat liegen lassen. Vielleicht lässt er Argent auch am Leben. Es liegt alles im Bereich des Möglichen, und es liegt alles in Nelsons Ermessen. Schon als JuPo genoss er es, Macht über Leben und Tod zu haben. Als Teilepirat ist dieses Gefühl roher, primitiver geworden, und er findet es einfach nur großartig. Jetzt geht es erst einmal darum, Argents Schwester aufzutreiben. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Lev Calder tot ist und Nelson sich Connor Lassiters Augen verdient. Und natürlich die satte Belohnung, die Divan ihm für die restlichen Teile zahlt.

Nelson gibt sein Ziel in das Navi ein, das die schnellste Route nach Sarnia errechnet. Dann sieht er in den Rückspiegel und fährt wieder auf die Autobahn, in seliger, zufriedener Ruhe.