14. Manager
Der Campingplatz Redwood Bluff im Norden Kaliforniens ist ausgebucht.
Der Manager sollte froh sein, aber er macht sich Sorgen, denn es geht um seine empfindlichste Stelle, nämlich sein Portemonnaie.
Ein Großteil des Zeltplatzes ist vom Camp »Red Heron« belegt, einem Sommerlager für benachteiligte Kinder. Die hellroten Camp-T-Shirts sind überall.
Am Nachmittag, bevor sie abreisen sollen, kommt der Manager in das Lager der Teens, die zugegebenermaßen wirklich alle benachteiligt aussehen. Es sind mindestens hundert. Sie wirken ein bisschen angespannt, als sie ihn sehen, gehen aber rasch wieder ihren jeweiligen Beschäftigungen nach. Die meisten verhalten sich wie ganz normale Jugendliche in den Ferien: Sie spielen Ball, klettern auf Bäume – aber aus ihren Blicken spricht Angst, und in ihren Bewegungen schwingt Misstrauen mit. Das verrät etwas, das ihre Camp-T-Shirts verbergen sollen.
»Entschuldigung, wer hat hier das Sagen?«
Ein Mädchen, das in einem vorigen Leben Türsteher gewesen sein könnte, tritt vor. »Er ist beschäftigt«, lässt sie ihn wissen. »Sie können mit mir reden.«
»Ich möchte mit der Person sprechen, die das Sagen hat«, beharrt der Manager. »Und zwar unter vier Augen.«
Das große Mädchen grinst. »Unter vier Augen wird bei den vielen Campern hier aber schwierig.« Ohne seine Bitte zu beachten, verschränkt sie die Arme. »Ich sag ihm, dass Sie da waren.«
»Ich warte.«
Dann hört er hinter dem Mädchen eine Stimme: »Ist schon okay, Bam. Ich red mit ihm.«
Aus einer Schar von Kindern taucht ein Teenager auf, kaum älter als sechzehn. Er ist klein, aber gut gebaut. Rote Haare mit sehr langem braunen Ansatz. Wie das Mädchen trägt er ein rotes Poloshirt mit einem Logo, das ihn als Lagerpersonal ausweist. Außerdem steckt eine Hand in einem ledernen Handschuh. Allem Anschein nach ein ordentlicher junger Mann, aber oft trügt ja der Schein.
Der junge Mann macht eine einladende Handbewegung: »Gehen wir ein Stück.«
Sie verlassen die Lichtung und schlagen einen Pfad zwischen den Mammutbäumen hindurch ein. Die gewaltigen alten Bäume versetzen den Manager immer noch in Staunen. Auch das war ein Grund, warum er die Stelle annahm, obwohl sie so schlecht bezahlt ist. Heute ist er jedoch zuversichtlich, dass sich sein Schicksal wenden wird.
Er kennt den Pfad gut und geht nur bis zum nächsten Zeltplatz, der nicht von Red Herons belegt ist. Eine große Familie mit vielen Kleinkindern, die in Windeln herumlaufen, hat sich dort eingerichtet. Er versichert sich, dass er in Sichtweite des Zeltplatzes und der Menschen dort bleibt, denn er hat den Verdacht, dass es keine gute Idee ist, allein mit diesem jungen Mann tiefer in den Wald hineinzugehen.
»Falls Sie sich Sorgen machen, dass wir nicht ordentlich aufräumen …«, beginnt der Junge. »Ich verspreche, dass alles erledigt wird.«
»Ich habe deinen Namen nicht verstanden«, sagt der Manager.
»Anson.« So unverfroren und breit wie der Junge grinst, kann das nicht sein richtiger Name sein.
»Du bist verdammt jung, um die Verantwortung für all diese Kids zu übernehmen, oder?«
»Oft trügt der Schein«, antwortet der Junge. »Ich hab den Job bekommen, gerade weil ich so jung aussehe. Ähnlich wie die Kids.«
»Ach so.« Er betrachtet die linke Hand des jungen Mannes. »Und was hat es mit dem Handschuh auf sich?«
Der Junge hebt die Hand. »Wieso? Haben Sie ein Problem mit Louis Vuitton?«
Offenbar kann er die Finger dieser Hand nicht bewegen. »Keineswegs. Kommt mir auf einem Campingplatz nur ein bisschen deplatziert vor.«
Der Junge lässt die Hand sinken. »Ich habe viel zu tun, Mr Proctor. Sie heißen doch Proctor, oder? Mark Proctor?«
Erstaunlich, dass dieser Junge seinen Namen kennt. Die meisten Leute, die in Redwood Bluff einen Zeltplatz buchen, wissen kaum, dass es ihn gibt, geschweige denn, dass sie seinen Namen kennen.
»Wenn es um die Bezahlung geht«, sagt der junge Mann, »wir haben schon alles bezahlt, und zwar in bar. Das ist vermutlich besser als bei den meisten anderen Gästen.«
Der Manager will gleich zur Sache kommen, denn je länger sich das hier noch hinzieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Junge sich doch noch vom Haken windet.
»Ja, allerdings gibt es da ein Problem. Ich habe ein bisschen recherchiert und festgestellt, dass es kein Camp ›Red Heron‹ gibt. In diesem Staat nicht und auch in keinem anderen.«
»Nun«, antwortet der Junge in routiniert herablassendem Ton, »dann haben Sie offensichtlich nicht richtig nachgeschaut.«
Mark Proctor lässt sich nicht verarschen. »Wie gesagt, es gibt kein Camp ›Red Heron‹. Allerdings gibt es Berichte über eine Gruppe flüchtiger Wandler. Und einer von ihnen ist ein Polizistenmörder namens Mason Michael Starkey. Der Junge auf dem Bild sieht dir verdammt ähnlich, ›Anson‹. Ohne die roten Haare natürlich.«
Der Junge lächelt nur. »Was kann ich für Sie tun, Mr Proctor?«
Jetzt ist Proctor am Drücker. Er hat diesen Starkey völlig in der Hand und antwortet in demselben spöttischen, herablassenden Ton. »Ich würde mich vor meiner Verantwortung als Bürger drücken, wenn ich dich und deine kleine Menagerie nicht an die Jugendbehörde ausliefern würde.«
»Aber bislang haben Sie es nicht getan.«
Proctor holt tief Luft. »Vielleicht könnte ich überredet werden, es auch weiterhin nicht zu tun.«
Er hat keine Ahnung, wie viel Geld diese Kids haben oder woher es kommt, aber offenbar haben sie genug, um ihre kleine Farce am Laufen zu halten. Proctor hat nichts dagegen, ihnen einen Teil dieses Geldes abzunehmen.
»Okay«, sagt Starkey. »Dann schauen wir mal, ob ich Sie überreden kann.« Er greift in die Tasche, aber statt einer Brieftasche zieht er ein Foto heraus. Geschickt dreht er es zwischen den Fingern seiner unbehandschuhten Hand, wie ein Zauberer, der eine Spielkarte präsentiert.
Das Foto zeigt Proctors halbwüchsige Tochter. Es wurde offenbar erst vor kurzem aufgenommen, und zwar direkt durch ihr Schlafzimmerfenster. Sie macht gerade ihre abendlichen Aerobicübungen.
»Sie heißt Victoria«, sagt Starkey, »wird aber Vicki gerufen – hab ich das richtig verstanden? Scheint ein nettes Mädel zu sein. Ich hoffe sehr, dass ihr niemals etwas Schlimmes zustößt.«
»Willst du mir drohen?«
»Nein, keineswegs.« Das Bild verschwindet auf wundersame Weise vor Proctors Augen, als Starkey die Finger bewegt. »Wir wissen auch, wo Ihr Sohn aufs College geht. Er hat ein Stipendium als Schwimmer, denn mit Ihrem Gehalt können Sie sich Stanford sicher nicht leisten, oder? Es ist traurig, aber es sollen schon sehr gute Schwimmer ertrunken sein. Wenn ich das richtig verstanden habe, fühlen sie sich wohl manchmal ein bisschen zu sicher.« Mehr sagt Starkey nicht. Er lächelt nur mit falscher Freundlichkeit. Hoch oben in den Mammutbäumen krächzt ein Vogel, als wäre er amüsiert, und auf dem nahe gelegenen Zeltplatz fängt ein kleines Kind an zu weinen.
»Was willst du?«, fragt Proctor kühl.
Starkeys Lächeln büßt nichts von seiner Wärme ein. Er legt Proctor den Arm um die Schultern und führt ihn auf dem Weg, auf dem sie gekommen sind, wieder zurück. »Ich will Sie nur dazu überreden, uns nicht auszuliefern – so, wie Sie es selbst vorgeschlagen haben. Solange Sie uns nicht verraten, weder jetzt noch nach unserer Abreise, garantiere ich Ihnen, dass Ihre wunderbare Familie so wunderbar bleibt, wie sie ist.«
Proctor schluckt und erkennt, dass das Gefühl von Macht, das er noch wenige Augenblicke zuvor verspürt hat, nur eine Illusion gewesen ist.
»Gilt die Abmachung?« Starkey streckt Proctor die Hand mit dem Handschuh hin. Proctor ergreift sie und schüttelt sie heftig. Starkey verzieht das Gesicht, aber sogar das ist eher ein Zeichen von Stärke als von Schwäche.
»Wie gesagt, ihr habt alles bezahlt«, sagt Proctor. »Es ist nichts mehr offen. Es war ein Vergnügen, Camp ›Red Heron‹ hier bei uns zu haben. Hoffentlich sehe ich euch im nächsten Sommer wieder.« Aber sie wissen beide, dass er das auf keinen Fall will.
Als Proctor auf wackligen Beinen davonstakst, bemerkt er plötzlich, dass das Foto seiner Tochter jetzt in seiner Hemdtasche steckt. Er schaut es an, und ihm kommen die Tränen. Statt Zorn empfindet er Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass er nicht so töricht war, sie oder ihren Bruder einer Gefahr auszusetzen.