48. Lev
Es hat sich noch mehr geändert, als Connor ahnt, doch Lev will noch warten, bis er es ihm mitteilt.
Er beobachtet, wie Connor Cam etwas zu hart am Arm packt, doch da er Rolands Hand benutzt, ist das nur verständlich. Mit erschreckender Zielstrebigkeit zieht er Cam zur Treppe.
»Was soll das werden?«, fragt Lev.
Connor wirft ihm einen sarkastischen Blick zu. »Eine kleine Unterhaltung unter vier Augen.« Dann zieht er Cam die Treppe hinunter und lässt Lev mit Grace allein, die von Unas Zimmer aus alles gehört hat. Lev vermutet, dass auch sie ein unsicherer Kandidat ist. Da sie sich stets von Lev ferngehalten hat, haben sie bisher kaum ein Wort miteinander gewechselt.
»Dann kommt Cam also mit nach Ohio?«, fragt sie.
»Warum um Himmels willen sollte Connor ihn mitnehmen?«
Grace zuckt die Schultern. »Halte deine Freunde nah bei dir, deine Feinde aber noch näher, du weißt schon«, sagt sie. »Gibt doch anscheinend nur drei Möglichkeiten: ihn hierlassen, ihn mitnehmen oder ihn umbringen. Der weiß zu viel, deshalb bleiben nur die letzten beiden, und Connor kommt mir nicht vor wie ein Mörder. Obwohl er dich mit dem Auto umgenietet hat.«
»Das war ein Unfall«, ruft ihr Lev in Erinnerung.
»Na ja, jedenfalls die beste Strategie ist doch wohl, ihn mitzunehmen. Wirst schon sehen. Connor kommt gleich wieder und erzählt uns, dass er einen neuen Reisegefährten hat.« Sie zögert einen Moment, wirft ihm einen kurzen Blick zu und fügt hinzu: »Wann willst du ihm denn verklickern, dass du nicht mitkommst?«
Lev sieht sie entsetzt, aber auch verärgert an. Er hat es bisher noch keinem erzählt. Niemandem. Woher weiß sie es?
»Guck mich doch nicht so komisch an. Das sieht doch jeder, der auch nur ein halbes Hirn im Kopf hat. Ständig redest du davon, dass Connor nach Ohio geht und er vorhat, Sonia zu finden. Innerlich hast du dich doch schon verabschiedet. Deshalb gehe ich ja auch mit. Damit wir zu zweit sind und Cam in Schach halten können.«
»Du bist wohl erleichtert, dass ich nicht mitkomme, was?«
Grace wendet den Blick ab. »Das habe ich nicht gesagt.« Dann fügt sie hinzu: »Es ist nur, weil du mich nicht magst!«
Lev grinst. »Aber eigentlich bist du es doch, die mich nicht mag.«
»Weil ich dauernd denke, du fliegst gleich in die Luft! Ich weiß ja, du sagst, das passiert nicht, aber wenn doch? Dauernd treten Leute auf Landminen, die eigentlich gar nicht mehr funktionieren dürften, und dann fliegen sie in die Luft. Was ist, wenn es bei dir so ist wie bei so einer Landmine?«
Lev antwortet mit Händeklatschen. Grace zuckt zusammen, doch es passiert nichts – selbst das Klatschen ist nicht einmal sonderlich laut.
»Jetzt machst du dich über mich lustig.«
»Ich bin schon ziemlich vielen Leuten begegnet, die glauben: ›Einmal ein Klatscher, immer ein Klatscher‹. Aber wir sind ja auch nicht in die Luft geflogen, als Connor mich angefahren hat, oder? Wenn ich noch in die Luft fliegen könnte, dann wäre es da passiert.«
Grace schüttelt den Kopf. »Trotzdem, sicher bist du nicht. Vielleicht gehst du nicht in die Luft, aber sicher bist du trotzdem nicht. Ich weiß es einfach.«
Obwohl Lev nicht genau versteht, was sie meint, spürt er, dass sie recht hat. Er ist kein Klatscher mehr, aber er ist auch nicht gerade der Inbegriff der Stabilität. Er weiß nicht genau, zu was er fähig ist, im Guten wie im Bösen. Und das macht ihm Angst.
»Ich bin froh, dass du mit Connor gehst«, sagt Lev. »Er wird sich gut um dich kümmern.«
»Du meinst, ich mich um ihn«, erwidert Grace ein wenig beleidigt. »Connor braucht mich, weil so was wie das hier schaffst du nur mit Grips. Ich weiß ja, die Leute sagen, ich bin schwachsinnig, aber ich hab da so eine Nische in meinem Gehirn, die ist wie ein riesiger Bahnhof. Sachen, die andere nicht checken, hab ich schnell kapiert. Argent hat das immer gewurmt. Der hat immer gesagt, ich bin blöd, aber das war nur, weil er sich selber blöd vorkam.«
Lev lächelt. »Connor hat mir erzählt, wie du ihn vor den JuPos gerettet hast. Es war deine Idee, die Jugendbehörde woanders nach uns suchen zu lassen. Und du hast auch herausgefunden, dass der Schütze uns gar nicht umbringen wollte.«
»Genau!«, sagt Grace stolz. »Und ich weiß sogar, wer es war. Aber meine Mama hat immer gesagt: Wer alles ausspuckt, was er weiß, hat bald nix mehr im Kopf. Na ja, jedenfalls hab ich drüber nachgedacht und mir überlegt, dass ich es besser für mich behalte.«
Zum ersten Mal verspürt Lev so etwas wie Zuneigung für Grace. »Das habe ich mir auch überlegt. Und ich bin deiner Meinung. Niemand muss es wissen.« Aber, denkt Lev, es gibt ein paar Sachen, die Grace wissen sollte. Beim Gedanken an Starkey überlegt er, dass Grace mit ihrem strategischen Talent vielleicht genau die Richtige wäre, sich darum zu kümmern. »Ich hätte da noch einen Zug, den du durch deinen Bahnhof schleusen könntest«, sagt er.
»Immer her damit.«
»Die Frage ist: Wie gewinnt man einen Dreifrontenkrieg?«
Grace runzelte die Stirn. »Das ist schwer. Ich denk mal drüber nach und geb dir dann die Antwort.« Dann verschränkt sie die Arme. »Aber ich kann dir ja gar keine Antwort geben, wenn du nicht mitkommst, oder?«
Lev lächelt sie versöhnlich an. »Dann gib die Antwort nicht mir. Gib sie Connor.«