16. Risa

AUS DEM LEBEN GEGRIFFEN

Heute beschäftigt sich »Kunst im Fokus« mit den provokativen Skulpturen von Paulo Ribeiro, einem brasilianischen Künstler, der mit einem radikalen Medium arbeitet. Wie Sie an diesen Bildern sehen, ist seine Arbeit verblüffend, faszinierend und zuweilen verstörend. Er bezeichnet sich selbst als einen »Künstler des Lebens«, denn seine Arbeiten sind allesamt aus Wandlern hergestellt.

Wir haben Ribeiro jüngst auf einer Ausstellung in New York getroffen.

»Ich tue nichts Ungewöhnliches. Europa steht voller Kathedralen, die mit menschlichen Gebeinen verziert sind, und im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert waren Künstler wie Andrew Krasnow und Gunther von Hagens bekannt für ihre Arbeiten mit menschlichen Körpern. Ich habe diese Tradition einfach einen logischen Schritt weitergeführt. Hoffentlich nicht nur, um zu inspirieren, sondern um aufzuwiegeln, um Mäzene in einen ästhetischen Zustand der Unruhe zu versetzen. Meine Verwendung der Wandler ist ein Protest gegen das Umwandeln.«

Das hier abgebildete Kunstwerk betrachtet Ribeiro als seine beste Arbeit. Das zugleich verblüffende und tiefbewegende Werk ist ein funktionierendes Musikinstrument, das er Orgão Orgânico nennt. Es steht in einer privaten Sammlung.

»Es ist eine Schande, dass mein großartigstes Werk in Privatbesitz ist, denn es sollte von der Welt gesehen und gehört werden. Aber wie es bei so vielen ist, die umgewandelt werden, wird jetzt weder das eine noch das andere geschehen.«

Risa träumt von den versteinerten Gesichtern. Bleich und ausgemergelt, vorwurfsvoll und seelenlos schauen sie sie an, diesmal allerdings nicht aus der Entfernung, sondern zum Greifen nah. Aber sie kann sie nicht berühren. Sie sitzt an einem Klavier, doch es erklingt keine Musik, denn Risa hat keine Arme und keine Hände, um zu spielen. Die Gesichter warten auf eine Sonate, die niemals ertönen wird, und erst jetzt erkennt Risa, dass die Gesichter so dicht nebeneinander sind, dass sie unmöglich Körper haben können. Sie sind wahrhaftig körperlos. Sie sind neben- und hintereinander aufgereiht, aber es sind so unzählbar viele. Sie ist entsetzt, aber sie kann nicht wegschauen.

Risa ist sich nicht sicher, ob sie träumt oder wach ist. Vielleicht hat sie mit offenen Augen geschlafen. Direkt in ihrem Blickfeld läuft leise ein Fernseher, in dem gerade ein Werbespot mit einer lächelnden Frau gesendet wird, die offensichtlich in ihren Toilettenreiniger verliebt ist.

Risa liegt in einer behaglichen Umgebung in einem bequemen Bett. Sie war noch nie zuvor an diesem Ort, aber das ist gut, denn es kann nur besser sein als an den Orten, wo sie in letzter Zeit gewesen ist.

Außer ihr befindet sich noch ein schlaksiger, umbrafarbener Junge im Zimmer, der jetzt seinen Blick vom Fernsehapparat abwendet und sie anschaut. Sie hat den Jungen nie persönlich kennengelernt, aber sie kennt sein Gesicht aus ernsthafteren TV-Spots als dem, der gerade läuft.

»Du bist es echt, Mann«, sagt er, als er sieht, dass sie wach ist. »Und ich dachte, das wär ein Scherzanruf von so ’nem Bekloppten.« Er sieht älter aus als in den Spots. Oder vielleicht einfach erschöpfter. Sie schätzt ihn auf ungefähr achtzehn, nicht älter als sie selbst.

»Du wirst überleben. Das ist die gute Nachricht«, sagt der dunkelhäutige Junge. »Die schlechte Nachricht ist, dass dein rechtes Handgelenk, das in dieser Falle gesteckt hat, entzündet ist.«

Sie betrachtet ihr geschwollenes, blaurotes rechtes Handgelenk und fürchtet, dass sie die Hand verlieren könnte. Vielleicht hatte sie wegen der Schmerzen in ihrem Traum keine Arme gehabt. Sofort muss sie an Connors Arm denken, oder genauer, an Rolands Arm an Connors Körper.

»Wenn du mir die Hand von jemand anderem verpasst, schlag ich dir den Schädel ein«, sagt sie.

Er lacht und tippt sich auf die rechte Schläfe, wo verblasste Operationsnarben verlaufen. »Hab ich schon hinter mir, danke, Mann.«

Risa betrachtet ihren anderen Arm, der ebenfalls verbunden ist, aber sie kann sich nicht erinnern, warum.

»Wegen dieser Bisswunde mussten wir dich auch noch auf Tollwut testen. Was war das, ein Hund?«

Genau. Jetzt erinnert sie sich. »Ein Kojote.«

»Nicht gerade der beste Freund des Menschen.«

Das Schlafzimmer ist ziemlich kitschig eingerichtet. Es gibt einen Spiegel in einem falschen Goldrahmen und Lampen, die an schimmernden Ketten hängen. Lauter glänzende Dinge. Sehr viele glänzende Dinge.

»Wo sind wir?«, fragt sie. »Las Vegas?«

»Fast«, sagt ihr Gastgeber. »Nebraska.« Dann lacht er wieder.

Risa schließt kurz die Augen und versucht, gedanklich die Ereignisse zu sortieren, die sie hierher geführt haben.

Nachdem sie angerufen hatte, waren zwei Männer zu ihr in den Stall gekommen. Sie trafen ein, als die Kojoten gerade verschwunden waren. Risa war nur halb bei Bewusstsein gewesen und erinnert sich deshalb nur schemenhaft an Einzelheiten. Die Männer sprachen mit ihr, aber sie weiß nicht mehr, worüber. Sie gaben ihr Wasser, das sie gleich wieder erbrach. Dann gaben sie ihr lauwarme Suppe aus einer Thermoskanne, die sie bei sich behielt. Daraufhin setzten sie sie auf den Rücksitz eines bequemen Wagens und fuhren mit ihr weg, so dass die Kojoten ihr nächstes Mahl woanders suchen mussten. Einer der Männer setzte sich zu ihr nach hinten, und sie durfte sich an ihn lehnen, während er beruhigend auf sie einredete. Risa wusste nicht, wer die Männer waren, aber sie glaubte ihnen, als sie ihr sagten, sie sei in Sicherheit.

»Wir ham hier zwei Lungenflügel mit ’nem Doktor dran, wenn du weißt, was ich meine«, sagt der dunkelhäutige Junge. »Er sagt, deine Hand is’ nicht so schlimm, wie sie aussieht. Vielleicht wirst du ein, zwei Finger los. Keine große Sache, dann kommt die Maniküre billiger.«

Risa muss lachen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben eine Maniküre, findet aber den Gedanken, nach Fingern zu bezahlen, auf makabere Weise lustig.

»Nach allem, was ich höre, hast du diesen Teilepiraten übel reingelegt, Mann.«

Risa stützt sich auf die Ellbogen. »Ich habe ihn nur ausgeschaltet. Verschlungen hat ihn die Natur.«

»Ja, die Natur is’ ein Miststück.« Er streckt ihr die Hand hin. »Cyrus Finch«, sagt er, »genannt CyFi.«

»Ich weiß, wer du bist.« Sie schüttelt seine Hand unbeholfen mit ihrer Linken.

Auf einmal verändert sich seine Miene ein bisschen und seine Stimme ebenfalls. Sie wird rauer und verliert ihre ganze Geschmeidigkeit. »Du kennst mich nicht, also tu nicht so, als ob.«

Risa gerät ein bisschen aus dem Konzept und will sich schon entschuldigen, da hebt CyFi die Hand und stoppt sie.

»Hör nicht auf mein Geschwätz, Mann, das ist nur Tyler«, sagt er. »Tyler traut keinem übern Weg. Kann er auch nicht, Mann, für ihn gibt’s nämlich keine Wege mehr, kapiert?«

Das ist ein bisschen viel für Risa, aber der Rhythmus seiner gekünstelten alten Umbra-Sprache ist beruhigend. Sie muss unwillkürlich lächeln. »Redest du immer so?«

»Wenn ich ich bin und nicht er«, antwortet CyFi achselzuckend. »Ich red gern, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Aus Respekt vor meiner Herkunft, Mann, verstehst du, damals, als wir ›schwarz‹ waren und nicht ›umbra‹.«

Abgesehen von den TV-Spots kennt sie Cyrus Finch nur von einem kleinen Ausschnitt aus seiner Zeugenaussage vor dem Kongress, als es damals darum ging, die Altersgrenze für die Umwandlung von 18 auf 17 herabzusetzen. Cyrus half dabei, das U-17-Gesetz durchzubringen. Zu seiner schaurigen Zeugenaussage gehörte auch, wie Tyler Walker seine eigene Umwandlung beschreibt. Das heißt, der Teil von Tyler Walker, der in Cyrus’ Kopf transplantiert wurde.

»Ich war echt überrascht, als du angerufen hast, Mann«, erzählt CyFi. »Die hohen Tiere von der Anti-Umwandlungs-Front zeigen uns sonst immer die kalte Schulter. Wir haben ja normalerweise mit Leuten zu tun, nachdem sie umgewandelt wurden.«

»Die von der AUF zeigen inzwischen allen die kalte Schulter«, berichtet Risa. »Ich habe seit Monaten keinen Kontakt mehr. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, ob es die AUF überhaupt noch gibt. Jedenfalls nicht so wie früher.«

»Hmmm. Tut mir leid, Mann.«

»Ich hoffe noch, dass sie sich wieder neu organisieren, aber in den Nachrichten sehe ich nur, wie immer mehr Mitarbeiter des Widerstands wegen ›Behinderung der Justiz‹ verhaftet werden.«

CyFi schüttelt traurig den Kopf. »Wenn die Justiz nicht gerecht ist, müsste sie selbst verhaftet werden, Mann.«

»Und wo genau in Nebraska sind wir, Cyrus?«

»In einem privaten Wohnhaus«, antwortet er. »Eigentlich eher eine Wohnanlage.«

Sie versteht nicht genau, was er damit meint, findet sich aber damit ab. Ihre Lider sind schwer, und sie ist gerade noch nicht in der Lage, allzu viel zu sprechen. Sie dankt CyFi und fragt, ob er ihr etwas zu essen bringt.

»Die Dads bringen dir was«, sagt er. »Sie freuen sich bestimmt, wenn du wieder Hunger hast. Ich frag mal, Mann.«

ES FOLGT EIN BEZAHLTER POLITISCHER WERBESPOT

»Hallo, hier ist Vanessa Valbon, Sie kennen mich aus dem Tagesprogramm, aber was Sie wahrscheinlich nicht wissen: Mein Bruder sitzt eine lebenslange Haftstrafe für ein Gewaltverbrechen ab. Er hat sich freiwillig auf eine Liste für das Aushülsen des Schädels setzen lassen, was aber nur durchgeführt werden kann, wenn die Gesetzesinitiative 11 im November durchgeht.

Es ist viel über das Aushülsen geredet worden – darüber, was es bedeutet und was nicht –, deshalb musste ich mich schlau machen. Folgendes habe ich in Erfahrung gebracht: Aushülsen ist vollkommen schmerzlos. Es wäre eine Option für jeden Gewaltstraftäter. Darüber hinaus wäre es eine Entschädigung für die Familie des Opfers und für die Familie des Täters, da die den vollen Marktwert für jeden einzelnen Körperteil bekommen, der beim Aushülsen nicht verworfen wird.

Ich möchte meinen Bruder nicht verlieren, aber ich verstehe seine Entscheidung. Die Frage ist doch, wie unsere Gewaltstraftäter ihre Schuld bei der Gesellschaft begleichen sollen. Indem sie auf Kosten der Steuerzahler alt werden oder indem sie sich reinwaschen dürfen, weil sie der Gesellschaft dringend benötigtes Gewebe zur Verfügung stellen und den Opfern ihrer Verbrechen dringend benötigte finanzielle Unterstützung?

Ich bitte Sie sehr, für die Gesetzesinitiative 11 zu stimmen und so aus einer lebenslangen Strafe … ein lebenslanges Geschenk zu machen.«

Finanziert von Opfer für eine bessere Menschheit

Risa schläft und schläft und schläft. Obwohl sie Trägheit normalerweise verabscheut, hat sie sich ihrer Ansicht nach jetzt ein bisschen Faulheit verdient. Sie kann es kaum glauben, dass seit der Razzia auf dem Friedhof und dem Abend, als sie die üblen Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums im Staatsfernsehen öffentlich gemacht hat, kaum drei Wochen vergangen sind. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein. Aus einem Leben im Rampenlicht der Medien war ein Leben geworden, in dem sie sich vor Suchscheinwerfern verstecken musste.

Die Drahtzieher des Proaktiven Bürgerforums hatten dafür gesorgt, dass alle Anklagen gegen sie fallengelassen wurden, damit sie sich überhaupt aus ihrem Versteck wagen konnte. Aber – Überraschung! – nach dem Abend, als sie sich zu ihrer Feindin gemacht hatte, wurden plötzlich neue Anklagen erhoben. So hat sie angeblich große Geldsummen bei der Organisation unterschlagen – was sie natürlich nicht getan hat. Außerdem habe sie geholfen, die flüchtigen Wandler auf dem Friedhof zu bewaffnen – was einfach nicht stimmt. Auf dem Friedhof hatte sie nur Erste Hilfe geleistet und Erkältungen behandelt. Doch die Wahrheit interessiert nur sie selbst.

CyFis Väter, die so siena-hell sind wie CyFi dunkel ist, haben beide gleichermaßen einen Narren an ihr gefressen und bringen ihr das Essen ans Bett. Sie waren auch bis nach Cheyenne hinausgefahren, um sie zu holen, und haben deshalb ein persönliches Interesse an ihrer Genesung. Doch wie eine empfindliche Blume behandelt zu werden, langweilt Risa bald. Sie geht im Zimmer auf und ab, ist aber jedes Mal wieder überrascht, dass sie die Beine aus dem Bett schwingen und allein gehen kann. Ihr Handgelenk ist steif und schmerzt, deshalb hält sie es vorsichtig, auch nachdem der Hausarzt festgestellt hat, dass ihre Finger in Ordnung sind und sie auch in Zukunft für jede Maniküre den vollen Preis bezahlen muss. Und Tollwut hat sie zum Glück auch nicht.

Durch das Fenster sieht sie einen Garten, aber sonst nicht viel, so dass sie keine Ahnung hat, wie groß das Anwesen ist und wie viele Menschen hier leben. Gelegentlich arbeiten ein paar Leute im Garten. Sie würde gern zu ihnen hinausgehen, aber ihre Tür ist verschlossen.

»Bin ich eine Gefangene?«, fragt Risa den größeren, freundlicher aussehenden Vater von CyFi.

»Wenn eine Tür verschlossen ist, geht es nicht immer um Gefangenschaft, meine Liebe«, antwortet er. »Manchmal geht es nur um den richtigen Zeitpunkt.«

Am folgenden Nachmittag scheint der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, denn CyFi bietet ihr die große Besichtigungstour an.

»Weißt du, Mann, nicht alle hier sind auf deiner Seite«, warnt CyFi. »Ich meine, die Leute hier wissen schon, dass die beschissenen Werbespots, die du für das Umwandeln gemacht hast, nicht echt waren. Alle wissen, dass du erpresst worden bist. Trotzdem … dieses Interview, in dem du sagst, dass Umwandeln das geringste aller Übel ist«, er schneidet eine Grimasse, »Mann, das ist ein Gericht, das direkt auf die Hüften geht, wenn du weißt, was ich meine.«

Risa weicht seinem Blick aus. »Ja, ich verstehe.«

»Am besten erinnerst du die Leute dran, dass du um dein neues Rückgrat nicht gebeten hast, Mann. Sag ihnen, du bedauerst, dass du es hast. Wie sich das anfühlt, können wir alle nachvollziehen.«

Wie CyFi gesagt hatte, ist das Anwesen mehr als nur ein Haus, es ist eine ausgewachsene Wohnanlage. Risas Zimmer liegt im Hauptgebäude, aber das Haus hat große Flügel, die offensichtlich erst vor kurzem angebaut wurden, und auf der andern Seite des großen Gartens steht ein halbes Dutzend ziemlich geräumiger Hütten, die Risa von ihrem Fenster aus nicht sehen konnte.

»In Nebraska ist Land billig«, erklärt CyFi. »Deshalb sind wir hier. Omaha ist nah genug für Leute, die sich um ihre Geschäfte kümmern müssen, aber so weit weg, dass Fremde uns in Ruhe lassen.«

Ein paar Leute werfen ihr einen Blick zu, als sie vorbeigeht, und schauen dann weg, ohne zu grüßen. Andere nicken ihr ernst zu. Einige wenige lächeln, aber ihr Lächeln wirkt gezwungen. Sie alle wissen, wer sie ist, aber niemand weiß, was er von ihr halten soll. Und Risa geht es kaum anders.

An diesem Nachmittag arbeiten ein paar Leute im Garten, als Risa und CyFi hindurchschlendern. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es sich nicht nur um einen Ziergarten handelt. Gemüse wächst in dichten Reihen, und zur Linken sind Gehege mit Hühnern und vielleicht auch anderen Tieren, die Risa von hier aus nicht sehen kann.

CyFi beantwortet ihre Frage, bevor sie sie stellt. »Wir versorgen uns selbst. Schlachten tun wir allerdings nicht, nur die Hühner.«

»Und wer ist ›wir‹, wenn ich fragen darf?«

»Die Leute«, sagt CyFi einfach.

»Glücksmenschen?«, fragt Risa, aber hier sieht eigentlich niemand indianisch aus.

»Nein«, erklärt CyFi. »Tyler-Sippe.«

Risa kapiert noch nicht ganz, was das bedeuten soll. Offenbar haben viele hier transplantierte Körperteile. Mal eine Wange, mal ein Arm. Erst als sie ein leuchtend blaues Auge sieht, das genau zu dem Auge eines anderen passt, dämmert ihr langsam, was das hier für ein Ort ist.

»Du lebst in einer Revival-Kommune?«, fragt Risa ein bisschen ehrfürchtig und vielleicht auch ein bisschen ängstlich. Sie hatte Gerüchte über solche Orte gehört, aber nie geglaubt, dass es sie wirklich gibt.

CyFi grinst. »Die Dads haben sie als Erste ›Revival-Kommune‹ genannt, ganz am Anfang. Ich finde das irgendwie gut, und du? Klingt so … spirituell.« Er deutet auf die Hütten und das Land um ihn herum. »Fast alle hier hab’n ’nen Teil von Tyler Walker gekriegt«, erklärt er. »Und genau darum geht’s der Tyler-Walker-Stiftung. Solche Orte zu schaffen, für Leute, die den Wandler wiedervereinigen wollen, von dem sie Teile gekriegt haben.«

»Das ist doch pervers, Cyrus.«

CyFi ist von ihrem Urteil nicht sonderlich beeindruckt. »Auch nich’ perverser als viele andere Dinge, Mann. Is’ eine Art, damit fertig zu werden, Risa. Mit was fertig werden, was nicht passieren dürfte.«

Dann spannt sich sein Kiefer an, sein Blick wird unstet, und sie weiß, dass wieder Tyler spricht.

»Geh zusammen mit den Armen, den Beinen und den Gedanken, die zu deinem Rückgrat gehören, in einen Raum, und du wirst diesen Ort mit anderen Augen sehen.«

Risa wartet einen Augenblick, bis Tyler sich wieder hinter CyFi zurückgezogen hat, denn die Unterhaltung mit CyFi ist sehr viel angenehmer.

»Jedenfalls«, sagt CyFi ohne zu zögern, »war diese Kommune die erste. Aber jetzt gibt’s im ganzen Land schon über dreißig, und es werden immer mehr, Mann.« Er verschränkt die Arme und lächelt stolz. »Ganz schön cool, was?«

Vor einer der Hütten entdeckt Risa den Arzt, der ihr Handgelenk behandelt hat. Dass CyFi ihn »zwei Lungenflügel« genannt hat, ergibt auf einmal mehr Sinn für sie. Der Mann spielt Ball mit einem Jungen, der offensichtlich sein Sohn ist.

»Und die Leute haben einfach alles stehen und liegen gelassen und sind mit ihren Familien hierhergekommen?«, fragt Risa.

»Manche haben ihre Familien mitgebracht, andere haben sie zurückgelassen.«

»Und alles nur für einen Tyler-Walker-Kult?«

CyFi wartet einen Augenblick, bevor er antwortet. Vielleicht will er Tyler davon abhalten, etwas hinauszubrüllen, was sie beide bedauern könnten. »Vielleicht ist es ein Kult. Vielleicht auch nicht. Aber er befriedigt ein Bedürfnis und tut keinem weh. Warum willst ausgerechnet du darüber urteilen?«

Risa hält den Mund, denn je mehr sie redet, desto mehr beleidigt sie ihren Gastgeber.

CyFi wechselt nur zu gern das Thema. »Sag mal, wie geht’s eigentlich Fry?«

»Wie bitte?«

Er verdreht die Augen, als ob sie das eigentlich wissen müsste. »Unserm gemeinsamen Freund. Wie geht’s ihm, Mann? Hast du Kontakt zu ihm?«

Risa steht immer noch auf der Leitung.

CyFi schaut sie ungläubig an. »Der unvergleichliche Levi Jedediah small fry Würstchen Calder. Hat er dir nicht erzählt, dass er mich kennt?«

Risa beginnt zu ihrem Ärger zu stammeln. »D-Du kennst Lev?«

»Ob ich Lev kenne, Mann? Ob ich Lev kenne? Ich bin wochenlang mit ihm ’rumgezogen. Er hat mir alles über dich und Connor erzählt, wie er gekidnappt wurde und so. Wie er wegen euch kein Zehntopfer wurde.« CyFi wird ein bisschen wehmütig. »Ich hab mich um ihn gekümmert, bis er sich um mich kümmern musste. Und er hat sich verdammt gut um mich gekümmert, Risa. Ohne ihn wär ich heute nicht hier. Das Leben hätte mich überfahren wie ein Zug, wenn er ihn nicht gestoppt hätte.« CyFi bleibt stehen und senkt den Kopf. »Als ich mitbekommen hab, dass er Klatscher geworden ist, hab ich mir fast in die Hose gemacht. Nicht Fry, nicht der brave Junge.«

»Er hat sich nicht in die Luft gesprengt.«

Mit einem Ruck hebt er den Kopf und schaut sie an. Sie hat keine Ahnung, ob es gerade CyFi ist oder Tyler. Vielleicht sind es beide. »Natürlich nicht! Denkst du, ich weiß das nicht?« CyFi braucht einen Augenblick, bis er sich wieder entspannt. »Hast du ’ne Ahnung, wo er jetzt ist?«

Risa schüttelt den Kopf. »Es gab einen Anschlag auf sein Haus. Er ist untergetaucht. Das ist das Letzte, was ich gehört habe.«

CyFi kräuselt die Lippen. »Armer kleiner Fry. Hoffentlich wird er nicht so verkorkst wie der Rest von uns.«

Auch wenn es schrecklich war, dass Lev sich den Klatschern angeschlossen hatte, ist Risa sehr wohl bewusst, dass sie längst umgewandelt wäre, wenn Levs Klatscher-Freunde nicht das Ernte-Camp Happy Jack zerstört hätten. »Die Welt ist klein, was?«, sagt sie zu CyFi. »Lev ist immer noch da – wegen uns. Und wir beide sind noch da – wegen ihm.«

»Siehst du, wir sind alle miteinander verbunden, Mann«, sagt CyFi. »Nicht nur wir in der Tyler-Sippe.«

Als sie an der letzten Hütte vorbeigehen, lächelt eine Frau mittleren Alters ohne sichtbare Operationsnarben Risa von der Veranda her freundlich an, und Risa, die sich langsam mit der Idee angefreundet hat, die hinter diesem Ort steckt, erwidert das Lächeln. CyFi fasst sich an die Brust, um Risa zu zeigen, dass die Frau Tylers Herz hat.

Sie machen sich auf den Rückweg zum Hauptgebäude, und Risas schmerzendes Handgelenk erinnert sie daran, dass sie es noch eine Weile langsam angehen lassen muss. Ihre Flucht vor den Machthabern wird zunächst im Schritttempo stattfinden müssen. Aber sie könnte sich schlimmere Verstecke vorstellen.

ES FOLGT EIN BEZAHLTER POLITISCHER WERBESPOT

»Hier spricht der Schauspieler Kevin Bessinger. Ich bitte Sie, gegen die Gesetzesinitiative 11 zu stimmen. Die Gesetzesinitiative 11 – das Gesetz über ›Ein-Pfund-Fleisch‹ – ist nicht das, was sie zu sein vorgibt. Angeblich erlaubt sie das freiwillige Aushülsen von Häftlingen, also das Entfernen und Veräußern ihres Gehirns und die anschließende Umwandlung ihres restlichen Körpers. Das mag als vernünftige Idee erscheinen, bis Sie lesen, was in der Gesetzesinitiative wirklich steht.

In der Gesetzesinitiative 11 heißt es, das Aushülsen geschehe freiwillig. Allerdings darf sich die Gefängnisverwaltung über diese Regel hinwegsetzen und das Aushülsen jedes beliebigen Häftlings verfügen. Außerdem legalisiert die Gesetzesinitiative 11 die unethische Schwarzmarktpraxis, umgewandelte Teile zu versteigern. Wollen Sie wirklich, dass sich unsere Abgeordneten auf dem Schwarzmarkt tummeln?

Stimmen Sie gegen die Gesetzesinitiative 11. Das Gesetz über ›Ein-Pfund-Fleisch‹ ist keine Lösung, mit der wir leben können.«

Gesponsert von Bündnis für ethische Umwandlungspraktiken

An diesem Abend bekommt Risa ihr Essen nicht vom Zimmerservice, sondern nimmt an einem Festmahl im großen Speisezimmer des Hauptgebäudes teil. Es passen bis zu zwei Dutzend Personen an den Tisch, und Risa sitzt fast in der Mitte, nachdem sie sich geweigert hat, am Kopfende Platz zu nehmen. CyFis Väter, die, wie Risa erfahren hat, eine lukrative Anwaltskanzlei bzw. Zahnarztpraxis aufgegeben haben, um die Tyler-Walker-Stiftung zu leiten, sind nicht anwesend.

»Zweimal in der Woche gibt’s ein besonderes Abendessen«, erklärt CyFi. »Nur für die Tyler-Sippe, keine Ehepartner und auch keine Familienangehörigen. Nur für uns, und heute Abend darfst du dabei sein.«

Risa weiß nicht genau, was sie davon halten soll.

Der Arzt stiehlt CyFi die Schau und übernimmt es, Risa vorzustellen. Er präsentiert sie im bestmöglichen Licht: Als loyales Mitglied der Anti-Umwandlungs-Front, das vom Feind dazu gezwungen wurde, gegen das eigene Gewissen auszusagen. »Sie dachte, wenn sie nach ihrer Pfeife tanzt, bewahrt sie viele hundert Jugendliche vor der Umwandlung«, erklärt der Arzt. »Aber am Ende wurde sie aufs Kreuz gelegt, und die Jugendlichen sind jetzt in Ernte-Camps, wo sie ihre ›Komplettzerteilung‹ erwarten. Risa ist, wie wir alle, ein Opfer des Systems, und ich für meinen Teil heiße sie mit offenen Armen willkommen.«

Die Versammelten applaudieren, auch wenn noch eine gewisse Zurückhaltung spürbar ist. Wahrscheinlich kann Risa zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr erwarten.

Das Mahl besteht aus einem Bruststück und aromatischem, selbst angebautem Gemüse – wie ein Sonntagsessen im Kreis einer großen Familie. Kaum jemand spricht ein Wort, bis CyFi sagt: »Hey, Mann, vielleicht solltet ihr euch alle mal vorstellen.«

»Namen oder Teile?«, fragt jemand.

»Teile«, antwortet jemand anders. »Wir können ihr genauso gut den Tyler zeigen.«

CyFi beginnt. »Rechter Schläfenlappen.« Dann schaut er zu seiner Linken.

Zögernd sagt der Mann neben ihm: »Linker Arm.« Dann hebt er die Hand und winkt.

Die Frau daneben sagt: »Linkes Bein unterhalb des Knies.« Und dann geht es rund um den Tisch herum:

»Rechtes Auge.«

»Linkes Auge.«

»Leber und Bauchspeicheldrüse.«

»Wesentliche Teile des Hinterhauptslappens.«

Teil um Teil wird verkündet, bis alle am Tisch dran waren und die Reihe an Risa kommt: »Rückgrat«, sagt sie verlegen. »Aber ich weiß nicht, von wem.«

»Wir könnten das für dich rausfinden«, bietet die Frau an, die Tylers Herz bekommen hat.

»Nein, das ist schon in Ordnung. Ich will es lieber nicht wissen«, antwortet Risa. »Jedenfalls nicht gleich.«

Die Frau nickt verständnisvoll. »Das ist eine persönliche Entscheidung, niemand drängt dich.«

Risa schaut sich am Tisch um. Alle essen noch, aber jetzt ist die Aufmerksamkeit ganz auf sie gerichtet.

»Dann ist also … jedes einzelne Teil von Tyler Walker an diesem Tisch?«

CyFi seufzt. »Nein. Es fehlen die Milz, die linke Niere, der Darmkanal, die Schilddrüse und der ganze rechte Arm. Außerdem gibt es noch ein paar kleinere Gehirnteile. Die haben zu wenig von ihm enthalten und deshalb den Sog nicht gespürt. Aber ungefähr fünfundsiebzig Prozent von ihm sind hier am Tisch versammelt.«

»Und die restlichen fünfundzwanzig Prozent können bleiben, wo der Pfeffer wächst«, sagt der Mann mit dem linken Gehörzentrum. Alle lachen.

Risa erfährt außerdem, dass die glitzernde Inneneinrichtung der Zimmer auch Tyler geschuldet ist. Glänzende Dinge übten eine große Anziehung auf ihn aus. Dass er sie klaute, war ein Grund für seine Umwandlung.

»Aber hier ist alles gekauft und bezahlt«, erklären die Leute von der Tyler-Sippe ihr rasch.

»Bezahlt die Tyler-Walker-Stiftung Sie alle dafür, dass Sie hier leben?«

»Eher andersherum«, klärt der Arzt sie auf. »Als wir erstmals von der Idee erfuhren, hatten wir natürlich alle unsere Zweifel«, sein Blick wird ein bisschen euphorisch, »aber wenn man dann hier ist, in Gegenwart von Tyler, erkennt man, dass man nirgendwo anders sein möchte.«

»Ich habe mein Haus verkauft und alles der Stiftung überschrieben«, sagt jemand. »Sie haben nicht darum gebeten. Ich wollte es einfach so.«

»Er ist hier bei uns, Risa«, sagt CyFi. »Du musst es nicht glauben, aber wir tun’s. Ist ’ne Sache des Glaubens.«

Das alles ist für Risa zu merkwürdig, zu fremd, als dass sie es sich zu eigen machen könnte. Sie denkt an die vielen anderen »Revival-Kommunen«, die dank der Tyler-Walker-Stiftung aus dem Boden geschossen sind. Ihre Existenz ist ebenfalls eine unerwartete Folge der Umwandlung – eine komplizierte Lösung für ein noch komplizierteres Problem. Sie macht CyFi oder all diesen anderen Menschen keinen Vorwurf. Aus ihrer Sicht liegt die Schuld vielmehr bei der Welt, die diesen Ort notwendig gemacht hat. Mehr denn je spürt sie den Wunsch, das Umwandeln ein für alle Mal zu beenden. Sie ist zwar nur ein Mädchen, aber inzwischen auch eine legendäre Ikone. Die Menschen lieben sie, fürchten sie, hassen sie, verehren sie. Und all das macht sie zu einer Größe, mit der zu rechnen ist, wenn sie ihre Trümpfe richtig ausspielt.

Bevor sie an jenem Abend zu Bett geht, lässt CyFi sie bei einem Ritual zuschauen.

»Wir ham mit verschiedenen Ideen rumexperimentiert, ziemlich verrücktes Zeug. Zum Beispiel ham wir uns in Form eines Körpers auf den Boden gelegt, jeder an ›seine‹ Stelle. Oder uns in einem kleinen Raum zusammengedrängt, damit wir uns besonders nah waren. Aber der ganze Mist hat sich echt verrückt angefühlt. Am Ende haben wir uns für den Kreis entschieden. Einfach ist am besten.«

Der Kreis liegt in der Mitte des Gartens und ist mit Steinen markiert. In jeden Stein ist der Name eines Teils eingemeißelt, sogar die fehlenden Teile haben einen Platz. Jeder sitzt vor seinem Stein, und einer beginnt einfach zu sprechen. Weitere Regeln scheint es nicht zu geben, und dennoch fallen sie sich niemals gegenseitig ins Wort. Risa bemerkt, dass vor allem die Leute, die einen Teil von Tylers Gehirn bekommen haben, das Gespräch vorantreiben, aber dennoch beteiligen sich alle.

»Ich bin stinksauer«, sagt jemand.

»Du bist immer stinksauer«, antwortet jemand anders. »Lass es raus.«

»Ich hätte nicht all die Sachen klauen dürfen.«

»Aber du hast es getan, also vergiss es.«

»Mom und Dad fehlen mir.«

»Sie haben dich umwandeln lassen.«

»Nein! Ich kann sie noch davon abhalten. Es ist nicht zu spät.«

»Hör mir genau zu: Sie … haben … dich … umwandeln … lassen!«

»Mir ist schlecht.«

»Kein Wunder, so wie du den Braten runtergeschlungen hast.«

»Er hat geschmeckt wie bei Großmutter.«

»Tatsache. Ich habe Mom überredet, uns das Rezept zu geben.«

»Du hast mit ihr gesprochen?«

»Na ja, mit ihrem Anwalt.«

»Klar.«

»Ich erinnere mich an Moms Lächeln.«

»Ich mich an ihre Stimme.«

»Weißt du noch, wie kalt sie am Ende war?«

»Tut mir leid, das ist nicht Teil meiner Erinnerung.«

»Es gibt noch so viel, was ich tun will, aber ich erinnere mich nicht daran, was.«

»Ich erinnere mich wenigstens an eine Sache. Fallschirmspringen.«

»Ja, von wegen.«

»Vielleicht kommt das ja noch«, sagt CyFi und fragt dann: »Wer von euch würde für Tyler mit dem Fallschirm springen?«

Ungefähr die Hälfte der Hände geht sofort in die Höhe, dann folgen widerstrebend noch ein paar. Nur zwei verweigern sich ganz.

»Super«, sagt CyFi. »Ist gebongt! Ich bitte die Dads, alles vorzubereiten. Tyler wird mit dem Fallschirm springen!«

Risa kommt sich vor wie die letzte Außenseiterin, und sie hat das deutliche Gefühl, dass diese Leute sich etwas vormachen … aber sie fragt sich auch, ob Tyler nicht vielleicht, nur ganz vielleicht, doch in einer irgendwie realen, aber nicht greifbaren Art und Weise anwesend ist. Sie wird niemals wissen, ob es eine Illusion ist. Wie CyFi gesagt hat: Es ist eine Sache des Glaubens.

Eines ist jedoch sicher. Wenn Tyler wirklich »anwesend« ist, muss er sich noch sehr viel weiterentwickeln. Risa fragt sich, ob sich Menschen im geteilten Zustand überhaupt entwickeln können oder ob sie in dem Alter feststecken, in dem sie umgewandelt wurden.

Als das Kreisgespräch vorbei ist, begleitet CyFi sie zurück in ihr Zimmer, und Risa muss wenigstens noch ihre Meinung loswerden.

»Es ist ja alles schön und gut, was ihr hier spielt, Cyrus«, sagt sie, »aber etwas wirklich Wichtiges hast du getan, als du vor dem Kongress für das U-17-Gesetz gekämpft hast.«

»Ja, und was ist dabei rausgekommen, Mann? Wir haben das U-17 durchgebracht, aber jetzt machen die JuPos noch mehr Razzien. Und es gibt noch mehr Werbung, die den Leuten sagt, wie toll die Umwandlung ist. Sie verwenden alle unsere guten Vorhaben gegen uns. Das solltest gerade du besser wissen als jeder andere. Ich bin verdammt nochmal ziemlich schlau, aber auf keinen Fall schlau genug, um dagegen anzugehen.«

»Aber das heißt lange nicht, dass du es nicht mehr versuchen könntest. Und was machst du? Du schwelgst in den kindischen Launen eines verstörten umgewandelten Jungen.«

»Vorsicht, Risa«, warnt CyFi. »Die Leute hier haben viel aufgegeben, um diesen verstörten Jungen zu hätscheln.«

»Na ja, dann braucht Tyler vielleicht mal jemanden, der ihm sagt, dass er seinen Mann stehen soll.«

»Und dieser jemand bist du, nehm ich an?«

»Ich sehe sonst niemanden. Ihr seid alle darauf fixiert, wer Tyler war und was er wollte, bevor er umgewandelt wurde. Warum denkt ihr nicht mal darüber nach, was er drei Jahre später vielleicht will?«

Ausnahmsweise hat CyFi keine witzige Antwort parat, dafür aber Tyler.

»Du bist scheiße«, sagt er durch CyFis Mund. »Aber okay, ich denke darüber nach.«

ES FOLGT EIN BEZAHLTER POLITISCHER WERBESPOT

»Mein Name ist Captain Lance Reitano, Feuerwehrmann mit Auszeichnung. Ich will Ihnen erzählen, warum ich für die Gesetzesinitiative 11 bin: Das freiwillige Aushülsen und Umwandeln von Gewaltstraftätern sorgt dafür, dass wichtiges Gewebe und wichtige Organe vorrätig sind. Außerdem regelt die Gesetzesinitiative, dass Brandopfer sie kostenlos bekommen. Wenn Sie so lange in diesem Bereich tätig waren wie ich, wissen Sie, wie wichtig das ist.

Die Gegner der Gesetzesinitiative 11 nehmen eine gewisse ›moralische Überlegenheit‹ für sich in Anspruch, aber wollen Sie die Wahrheit wissen? Die Agenda, die sie vertreten, ist selbst unethisch. Sie und die Jugendbehörde wollen erreichen, dass die Gesetzesinitiative 11 scheitert, um stattdessen das U-17-Gesetz aufzuheben. Und nicht nur das. Diese eigennützigen Milliardäre kämpfen für einen Verfassungszusatz, der die gesetzliche Altersgrenze für die Umwandlung auf 19 anhebt, so dass noch mehr Jugendliche umgewandelt werden können. Denn das würde ihren Gewinn steigern und ihren Würgegriff auf die Organindustrie weiter festigen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir ist es lieber, wenn ein Mörder umgewandelt wird als der Junge von nebenan. Stimmen Sie für die Gesetzesinitiative 11

Finanziert von Patrioten für vernünftiges Aushülsen

Risa wollte eigentlich noch eine zweite Woche bleiben, aber sie ist zu kribbelig, und ihr Wunsch, etwas zu tun, wird übermächtig. Am achten Tag beschließt sie deshalb, abzureisen.

»Wohin willst du?«, fragt CyFi, als er sie auf die Hauptstraße begleitet. »Wenn die Anti-Umwandlungs-Front tatsächlich so ein Scherbenhaufen ist, wie du sagst, kannst du dann überhaupt irgendwohin?«

»Nein«, gibt sie zu, »aber ich werde da draußen mein Glück versuchen. Es muss noch jemanden von der AUF geben. Wenn nicht, baue ich meinen eigenen Widerstand gegen die Umwandlung auf.«

»Hört sich für mich verdammt unsicher an.«

»Mein ganzes Leben war unsicher, warum sollte es jetzt anders sein?«

»Also gut«, sagt CyFi. »Pass auf dich auf, Risa, und wenn du zufällig Lev begegnest, sag ihm, er soll mal vorbeikommen. Dann gehen wir zusammen auf die Jagd, mit einem Dieselmotor als Waffe.« CyFi lächelt. »Er weiß dann schon Bescheid.«