43. Argent

Seine Mutter hat mal zu ihm gesagt: »Wenn das Leben dir Zitronen gibt, spritz sie jemandem in die Augen.« Der Spruch geht natürlich eigentlich anders, aber sie hatte schon recht. Das eigene Unglück in eine Waffe zu verwandeln, ist viel besser, als Limonade daraus zu machen. Er ist stolz darauf, wie er den Teilepiraten geblendet hat.

»Ich wette, in New York warten wohl jede Menge flüchtige Wandler auf uns, was?«, sagt Argent, als das ländliche Pennsylvania den Vororten von Pittsburgh weicht.

»Wie die Ratten«, erwidert Nelson.

»Vielleicht können wir ein paar einfangen«, schlägt Argent vor. »Du zeigst mir, wie das geht. Ich meine, wenn ich so was wie dein Lehrling bin, muss ich solche Sachen ja können.«

Den Gedanken, mit einem echten Teilepiraten durchs Land zu fahren und seine Tricks zu erlernen, findet Argent ziemlich aufregend. Das ist mal ein Beruf, der ihm gefallen würde. Allerdings muss er Nelson noch ein bisschen an der Nase herumführen. Er soll glauben, dass er Argent braucht, bis Argent ihm beweisen kann, was für ein guter Lehrling er ist. Er muss sich nützlich machen. Ja, genau das muss er tun. Aber erst mal wird er Nelson zappeln lassen.

Ein paar einfache Sachen hat Nelson ihm schon beigebracht, nur so im Gespräch.

»Die meisten Wandler sind klüger, als die Jugendbehörde es sich eingesteht«, sagt Nelson. »Wenn du eine dumme Falle stellst, kriegst du auch nur dumme Wandler. Die sind auf dem Schwarzmarkt viel weniger wert. Wenn der Gehirnscan für die Hirnrinde einen guten Wert anzeigt, kannst du doppelt so viel Geld machen.«

Es gibt so viel zu lernen über die Kunst des Fallenstellens!

Nachdem sie die letzte Nacht in einem billigen Motel verbracht haben, spendiert ihnen Nelson heute in Pittsburgh eine Zweizimmersuite in einem schicken Hotel mit Portier und einem halben Dutzend Flaggen über dem Eingang.

»Heute lassen wir es uns gutgehen«, erklärt Nelson. »Das haben wir uns verdient.«

Wenn das Leben eines Teilepiraten so aussieht, ist Argent gern dabei.

Die Suite ist riesengroß und duftet nach frischen Blumen statt nach Schimmel. Als Argent etwas Teures beim Zimmerservice bestellt, zuckt Nelson nicht einmal mit der Wimper.

»Für meinen Lehrling ist nichts gut genug«, sagt er und erhebt feierlich das Weinglas. Argents Vater war nie so großzügig, weder mit Geld noch im Geiste. Nelson atmet schwer, und die gesunde Gesichtshälfte schimmert blass wie Wachs. Argent denkt sich nichts dabei, denn im Moment hat er nur Augen für sein T-Bone-Steak.

Als das Essen kommt, entspannt sich Argent, und Nelson spricht beiläufig über die Tage, die vor ihnen liegen.

»New York ist eine tolle Stadt«, sagt er. »Warst du schon mal da?«

Argent schüttelt den Kopf und schluckt erst den Bissen hinunter, den er noch im Mund hat. Er will sich schließlich dem Standard des Hotels entsprechend benehmen. »Noch nie. Wollte aber schon mal hin. Als unsere Eltern noch am Leben waren, haben sie immer gesagt, sie fahren mal mit uns nach New York. Das Empire State Building anschauen. Am Broadway ins Theater. Die haben uns das Blaue vom Himmel herunter versprochen, aber über Branson, Missouri, sind wir nie rausgekommen.« Er nimmt wieder einen Happen Steak und stellt sich vor, dass das Essen im Big Apple bestimmt noch besser ist. »Ich hab mir geschworen, dass ich mal da hinkomme. Das hab ich mir echt geschworen.«

»Aha.« Nelson wischt sich den Mund mit der edlen Serviette ab. »Wir müssen uns ein bisschen Zeit für Sightseeing nehmen, wenn wir da sind.«

Argent grinst. »Das wär super.«

»Klar doch.« Nelson lächelt ihn freundlich an. »Times Square, Central Park …«

»Hab da mal von einem Club in einer alten Fabrik gehört«, sagt Argent, dem vor Aufregung fast Schaum vor dem Mund steht. »Da spielt jeden Abend eine andere berühmte Band, aber man weiß nie, wer.«

»Hast du das aus dem Fernsehen?«, fragt Nelson. »Wie das mit dem Voodoo-Haus?«

Es dauert einen Moment, bis sich die Worte setzen. Sie springen in Argents Hirn hin und her wie der Ball in einem Flipper, treffen dann aber ins Schwarze. Das Spiel ist aus.

An Nelsons Lächeln ist nichts Freundliches mehr. Es sieht eher aus wie das eines Raubtiers. Ein Tiger, der gleich Beute machen wird.

»Lassiter hat nichts über Marie Laveau oder ›die Grüne Lady‹ gesagt, stimmt’s?«

»Ich … ich wollte es dir sagen …«

»Wann denn? Vor oder nach deinem Ausflug nach New York auf meine Kosten?« Plötzlich stößt er den Tisch um. Das Geschirr fliegt durch die Luft, ein Teller zerschellt am Kaminsims, Nelson springt auf und drückt Argent gegen die Wand, so hart, dass er den Lichtschalter im Rücken spürt wie ein Messer – allerdings nicht so tödlich wie das Steakmesser, das Nelson ihm an die Kehle hält.

»War irgendwas von dem, was du gesagt hast, nicht gelogen?« Er drückt das Messer fester gegen Argents Hals. »Ich würde es merken, wenn du jetzt nicht die Wahrheit sagst.«

Da Argent weiß, dass ihm die Wahrheit nicht weiterhilft, weicht er der Frage aus. »Wenn du mich umbringst, ist hier alles voller Blut«, sagt er verzweifelt. »Du bestellst mir doch wohl nichts zu essen, um mich dann umzubringen!«

»Eine Henkersmahlzeit steht jedem zu.« Nelson presst das Messer stärker gegen seinen Hals, bis es blutet.

»Warte!«, zischt Argent und zieht das einzige Ass, das er noch im Ärmel hat. »Da ist ja noch der Ortungschip!«

»Was redest du da?«

»Meine Schwester! Als sie noch klein war, ist sie dauernd weggelaufen, da haben ihr meine Eltern den Chip einsetzen lassen, direkt hinters Ohr. Wenn die noch mit Lassiter unterwegs ist, können wir sie finden. Aber ich bin der Einzige, der den Code kennt. Wenn du mich umbringst, stirbt er mit mir.«

»Du Schweinehund. Das mit dem Chip wusstest du schon die ganze Zeit!«

»Wenn ich es dir gesagt hätte, hättest du mich nicht mehr gebraucht!«

»Ich brauche dich auch so nicht!« Nelson lässt das Messer sinken und fasst Argent mit der anderen Hand an die Gurgel. Kein Blut. Keine Sauerei. »Jetzt, wo ich es weiß, kann ich den Code auch ohne dich finden.«

Argent setzt sich zur Wehr, sieht sich aber den Kampf verlieren – das ist dann wohl sein Ende. Doch zu seiner Überraschung ist er stärker als Nelson. Der Mann kommt ihm sogar außergewöhnlich schwach vor. Als Argent ihn zurückstößt, stolpert Nelson und fällt auf die Knie.

»Halt still und lass mich dich umbringen!«, knurrt Nelson.

Argent schnappt sich das Messer vom Boden, bereit, sich zu verteidigen. Aber Nelson greift ihn gar nicht an. Er verdreht die Augen, seine Lider flattern. Als er aufzustehen versucht, fällt er wieder hin, diesmal auf alle viere.

»Verdammt!«

Da geben auch die Arme nach, und er landet mit dem Gesicht auf dem Teppich, so bewusstlos, als hätte ihm einer einen Betäubungspfeil in den Körper gejagt.

Argent wartet einen Augenblick. Und noch einen.

»He! Lebst du noch?«

Keine Antwort. Er fühlt an Nelsons Hals. Ein Puls ist da, schnell und stark, aber Nelson ist heiß. Glühend heiß.

Argent könnte abhauen. Er könnte einfach die Biege machen. Aber er zögert und starrt den bewusstlosen Teilepiraten an. In seinem Kopf springt wieder der Flipperball hin und her. Dann legt er das Messer vorsichtig auf den Kaminsims. Der Ball ist noch im Spiel, und er kann noch jede Menge Punkte machen.