37. Una

Sie träumt wieder von Wil. Sie träumt viel zu oft von ihm. Manchmal wünschte sie, er würde sie in Ruhe lassen, weil das Aufwachen immer so schmerzhaft ist. Diesmal allerdings geht die Musik aus ihrem Traum weiter, als sie erwacht. Sie ist nur schwach zu hören, aber sie ist da.

Zuerst denkt sie, dass sie eine seiner Aufnahmen im Wohnzimmer angelassen hat. Vielleicht hat auch Grace, die offenbar gern in anderer Leute Schränken kramt, sie gefunden und aufgelegt. Doch als Una ins Wohnzimmer kommt, liegt Grace schnarchend auf dem Sofa. Connor und Lev schlafen im Gästezimmer.

Die Musik kommt von unten, und als Una die Wohnungstür öffnet, wird sie lauter. Sie hört, wie es durchs Treppenhaus hallt, geisterhaft, aber doch sehr echt. Es ist keine Aufnahme, sondern live, ein Lied von Wil, das nur er spielen kann. Ihr Herz rast, dass es ihr fast die Brust zerreißt. Er lebt! Er lebt, er ist nach Hause gekommen, und er begrüßt sie mit einer Serenade!

Mit wehendem Morgenmantel stürzt sie die Treppe hinunter. Es kann nicht sein, das weiß sie, aber sie wünscht es sich so verzweifelt, dass sie alle Logik fahren lässt.

Als Una in den Laden stürzt, sitzt eine Gestalt auf einem Hocker und spielt auf der Gitarre, die ein Kunde am nächsten Morgen abholen will. Sie kann zwar sein Gesicht nicht sehen, doch an seiner Haltung erkennt sie gleich, dass es nicht Wil ist.

»Wer bist du?« Sie kann ihre Wut kaum zügeln. Es ist nicht Wil. »Was hast du hier zu suchen?« Er hört auf zu spielen, sieht sie kurz an und steht auf. Ehe er sich abwendet, erhascht sie einen kurzen Blick auf sein Gesicht, das ihr seltsam vorkommt. Er legt die Gitarre auf die Ladentheke. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass jemand hier ist.«

»Und deshalb hast du gedacht, du kannst einfach einbrechen?«

»Es war nicht abgeschlossen.«

Das ist gelogen. Seit Lev und die anderen vor ein paar Tagen zu ihr gekommen sind, kontrolliert sie das Schloss jeden Abend. Da sieht sie auf der Ladentheke neben der Gitarre den Schlüssel liegen. Von dem Schlüssel weiß niemand, sogar sie hatte ihn völlig vergessen. Wie konnte dieser Eindringling ihn finden?

»Ich wollte nicht stören.«

»Warte!«

Una sollte ihn besser gehen lassen. Wenn sie sich an diese Hoffnung klammert, kann vieles ins Wanken geraten. Alles kann ins Wanken geraten. Aber sie muss es wissen. »Das Lied, das du gespielt hast … wo hast du das gehört?«

»Ich habe es von einem Arápache-Jungen gehört«, erwidert er. »Und ich habe es mir gemerkt.«

Natürlich ist auch das eine Lüge. Selbst jemand, der nach Gehör spielen kann, könnte niemals alle Nuancen und Gefühle so treffen. Die gehörten Wil … und doch …

»Komm ein bisschen näher.«

Er zögert, folgt aber dann ihrer Aufforderung. Als er ins Licht tritt, merkt sie, was an seinem Gesicht so seltsam ist. Es ist mit einer dicken Schicht Make-up überzogen, wie bei einer eitlen alten Frau, die ihre Falten verbergen will.

»Ich habe Hautprobleme«, erklärt er. Seine Augen sind sympathisch, überzeugend.

»Bist du auf der Flucht? Wenn ja, findest du bei mir keinen Unterschlupf. Du musst dir jemand anders suchen, der dich unterstützt.«

»Ich suche nach Freunden«, sagt er. »Sie haben diesen Gitarrenladen erwähnt.«

»Wie heißen sie?«

Er zögert, ehe er antwortet. »Das kann ich dir nicht sagen, sonst bringe ich sie womöglich in Gefahr. Aber wenn du sie kennst, weißt du, von wem ich spreche. Sie sind Flüchtlinge. Berühmte Flüchtlinge.«

Er ist also wegen Lev und Connor hier. Vielleicht ist er auch wegen Grace hier und will sie zurückbringen in das Leben, aus dem sie gerissen wurde. Seine Augen wirken aufrichtig, aber vieles an diesem Besucher kommt Una falsch vor. Vielleicht arbeitet er ja für die Jugendbehörde, oder, noch schlimmer, er ist Kopfgeldjäger und will Connor und Lev gegen eine saftige Belohnung eintauschen. Una behält ihren Verdacht lieber für sich, bis sie mehr weiß.

»Wenn du mir ihre Namen nicht sagen kannst, dann sag mir doch deinen.«

»Mac«, sagt er. »Ich heiße Mac.« Und er streckt ihr die Hand entgegen.

Es ist seine Hand, die ihn verrät. Wie sie zudrückt, wie sie sich anfühlt. Ihre Sinne erkennen diese Hand, ehe sie sich bewusst daran erinnert. Als Una sie anblickt, bleibt ihr fast die Luft weg. Sie dreht die Hand leicht zur Seite und entdeckt auf dem dritten Knöchel des Zeigefingers eine winzige Narbe – da hat sich Wil als kleiner Junge geschnitten. Das ist der Beweis. Sie zwingt sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie muss erst noch herausfinden, was das zu bedeuten hat.

Una lässt seine Hand los und wendet sich ab, aus Furcht, ihr Gesicht könnte sie verraten. »Ich erzähle dir alles über deine Freunde, Mac«, sagte sie. »Unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

Sie nimmt die Gitarre von der Theke und hält sie ihm hin. »Dass du noch mal für mich spielst.«

Er lächelt, nimmt die Gitarre und setzt sich wieder. »Sehr gern!«

Als er spielt, facht seine Musik Unas Hoffnung wieder an, reißt sie mit sich fort und berührt ihr tiefstes Inneres. Das Lied ist unheimlich. Es ist schön. Es ist Wils Musik, die lebt, allerdings in jemand anderem. Una lässt sich von den Harmonien, von der Melodie liebkosen. Dann schleicht sie sich von hinten an den Spieler heran und schlägt ihm mit einer schweren Gitarre so heftig auf den Kopf, dass sie zerbricht und er bewusstlos zu Boden sinkt.

Sie horcht, ob von oben Geräusche kommen. Sie darf die anderen nicht wecken. Als sie sicher ist, dass niemand aufgewacht ist, hievt sie »Mac« über ihre Schultern wie einen Sack Mehl. So klein sie auch ist, das Drechseln, Hobeln und Schleifen hat sie stark gemacht. Sein Gewicht bringt sie zwar an den Rand ihrer Kraft, doch es gelingt ihr, den Körper durch die dunklen Straßen und schließlich in den Wald zu schleppen.

Una kennt sich gut aus im Wald, denn Wil war dort zu Hause. Im fahlen Mondlicht schleppt sie ihr Opfer ein paar hundert Meter zwischen den Bäumen hindurch, bis sie an die alte Schwitzhütte kommt. Früher, ehe die neue Hütte gebaut wurde, begann dort die traditionelle Visionssuche der jungen Arápache an der Schwelle zum Erwachsenwerden.

In der Hütte legt sie ihn ab, zerreißt ihm die Jacke und das Hemd und bindet die Hände oben an zwei Holzpfosten, die zwei Meter voneinander entfernt stehen. Sie verknotet den Stoff so fest, dass nur ein Messer ihn lösen könnte. Der bewusstlose Körper hängt am Boden, doch die ausgestreckten Arme bilden ein Y, wie in einer Geste flehender Demut.

So lässt sie ihn in dieser Nacht zurück.

Als sie am nächsten Morgen wiederkommt, hat sie eine Kettensäge dabei.