60. Risa

Es ist kein Zufall, dass sich Risas und Connors Schicksal in Akron wieder kreuzt. Es gab schlichtweg keine andere Möglichkeit.

Seit Risa in den Bus zum Ernte-Camp gesetzt wurde und in ihrer Verzweiflung die Flucht ergriff, war Sonias Keller der einzige Ort, von dem sie sich noch Sicherheit erhoffen konnte. Den Friedhof hatten die JuPos überfallen, bei Audrey hatte sie durchatmen können, aber dennoch jeden Tag Angst gehabt, und von den Geheimverstecken, in die sie im Schutz der Dunkelheit gebracht worden waren, war Sonias das einzige, von dem sie wusste, wo es sich befand.

Sie hätte zurückgehen und in CyFis merkwürdiger Kommune Schutz suchen können, doch sie fühlte sich bei der Tyler-Sippe nicht richtig willkommen. Aus offensichtlichen Gründen würde sie niemals ein Teil der Gemeinschaft sein. So wäre ihr also nur ein Leben auf der Straße oder auf der Flucht geblieben. Doch sie hatte genug davon, wie ein flüchtiger Wandler dauernd auf der Hut zu sein und in Müllcontainern zu schlafen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand sie trotz ihres neuen Stylings erkannte, sie bei den Behörden verpfiff, die Belohnung einstrich und sie dem Proaktiven Bürgerforum auslieferte, das ohne Zweifel Pläne für sie hatte.

Damit blieb nur eine sinnvolle Alternative: Sonia.

Als Risa vor ein paar Wochen in den Antiquitätenladen kam, waren Kunden da, die hartnäckig mit Sonia über den Preis eines abgenutzten Beistelltisches feilschten. Risa zog sich vorsichtshalber in die andere Ecke des Ladens zurück. Sie wunderte sich, dass man so viele Gegenstände in Regale stopfen konnte, ohne dass etwas hinausfiel – ein klarer Beweis dafür, dass es in Ohio keine Erdbeben gibt.

Endlich verließ das Ehepaar den Laden mit dem Tisch, ohne dass Sonia ihnen Hilfe angeboten hätte, abgesehen von der Warnung: »Achtung, Stufe. Die ist etwas schief.« Als sich die Tür mit einem Quietschen der rostigen Angeln schloss, trat Risa nach vorn.

Sonia presste die Lippen zusammen. Sie war wohl verärgert, weil sich Risa unbeobachtet in den Laden gestohlen hatte. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie.

Risa amüsierte es ein wenig, dass Sonia sie nicht sofort erkannte. Als es dann doch so weit war, stieß die alte Frau einen überraschten Freudenschrei aus, ließ ihren Stock fallen und schlang die Arme um sie.

Und in diesem Moment wurde Risa klar, dass sie sich noch nirgends so sehr zu Hause gefühlt hatte.

Nun, zwei Wochen später, hat sich Risa in die Rolle der Wendy ergeben, die sich um die Verlorenen Jungs kümmert, denn in letzter Zeit scheinen nur noch Jungen bei Sonia aufzulaufen, wohl auch eine Folge des traurigen Umstands, dass immer mehr weibliche Wandler auf der Flucht Teilepiraten und anderen Widerlingen zum Opfer fallen.

Als Sonia Risa mitteilt, sie habe »Besuch«, geht Risa in banger Erwartung erst langsam die Treppe hinauf, beschleunigt dann aber ihren Schritt, da die Furcht der Vorfreude weicht. Es gibt nur wenige Menschen, für die Sonia Risa nach oben schicken würde.

Sie wagt sich nicht auszumalen, welcher dieser wenigen Menschen es ist, denn sie will nicht, dass man ihr die Enttäuschung ansieht, wenn es zum Beispiel Hayden oder Emby ist – die sie natürlich auch gern sehen würde, hoffte sie nicht auf jemand anderen.

Sie schnellt durch die offene Falltür und schlägt sich fast den Kopf an der Holztäfelung an, da sieht sie ihn auch schon. Sie sagt nichts, denn sie fürchtet, dass sie es sich doch nur einbildet. Dass sie im Geiste womöglich jemand anderem Connors Kopf aufsetzt, weil sie sich so sehr wünscht, dass er es ist. Aber es ist keine Einbildung. Er ist da, und in seinen Augen spiegelt sich ihre Überraschung.

»Risa?«

Die Stimme kommt nicht von Connor. Risas Blick huscht ein Stück nach rechts … Es ist Cam. Sein Erstaunen ist bereits einem breiten Grinsen gewichen.

Risa wird von einem Zittern erfasst. »Ca… Co…« Sie weiß nicht, welchen Namen sie zuerst sagen soll. Dass sie beide auf einmal vor sich sieht, haut sie um wie ein Faustschlag, sie taumelt einen Schritt zurück und stolpert gegen die Falltür, die mit einem Krachen zuschlägt. Nur einen Wimpernschlag, nachdem Sonia oben angekommen ist. Wäre sie die Treppe nicht schneller nach oben gegangen als nach unten, hätte sie die schwere Klappe auf den Schädel bekommen.

Risa bringt einfach nicht zusammen, was sie da vor sich sieht: zwei voneinander völlig getrennte Teile ihres Lebens, in trauter Eintracht nebeneinander. Sie meint, das Universum selbst hätte sie verraten, fühlt sich bloßgestellt, allen Angriffen schutzlos ausgeliefert. Sie hat sich weder von Connor noch von Cam im Guten getrennt. Rasch weicht ihre Überraschung einem Misstrauen.

»Wa… was ist hier los?«

Cam, noch immer verwirrt von ihrem Anblick, geht einen Schritt auf sie zu, verschwindet aber sofort hinter Connor, der sich vor ihn stellt, ohne es überhaupt zu merken.

»Willst du nicht hallo sagen?«, fragt Connor vorsichtig.

»Hallo«, sagt sie so schwach, dass sie sich über sich selbst ärgert. Sie räuspert sich und merkt erst jetzt, dass noch jemand da ist. Ein Mädchen, das sie nicht kennt, das sich aber anscheinend damit zufriedengibt, das Schauspiel erst einmal zu beobachten.

Da es so aussieht, als fiele die große Wiedervereinigung wie ein durchnässtes Feuerwerk zischend in sich zusammen, klopft Sonia frustriert mit dem Stock auf den Boden. »Also, jetzt starrt euch doch nicht so an«, sagt sie. »Schenkt uns eine Liebesszene, wie sie im Buche steht, oder tut zumindest so.«

»Sehr gern«, sagt Cam so arrogant, dass Risa ihn am liebsten ohrfeigen würde.

»Dich meinte sie nicht«, sagt Connor mit einer überheblichen Verachtung, die in Risa denselben Wunsch auslöst.

So hat sie sich das Wiedersehen mit Connor nicht vorgestellt! In den vergangenen Monaten hat sie es sich Dutzende Male in den verschiedensten Versionen ausgemalt, aber keine strotzte dermaßen vor eisigem Unbehagen. Was Cam angeht, dachte sie, sie würde ihn nie wiedersehen. Merkwürdigerweise ist sie erfreuter, ihn zu sehen, als sie es erwartet hätte. Das stiehlt Connor die Schau, und das wiederum nimmt Risa beiden übel. Sie dürften den jeweils anderen nicht so in den Schatten stellen. Ein vernünftiges, mitfühlendes Universum würde Risas Gefühle nicht dermaßen durcheinanderwirbeln. Aber wann hat es das Leben schon mal gut mit ihr gemeint?

Cam ist neben Connor wieder zum Vorschein gekommen, und nun stehen sie da und warten auf Risas Wahl. Risa hat keine Ahnung, wie das ausgehen soll. Sie empfindet die Situation fast so beängstigend wie die Falle eines Teilepiraten.

Es ist das Mädchen, die unbekannte Größe im Raum, die zu ihrer Rettung eilt.

»Hi, ich bin Grace.« Sie zwängt sich an Connor und Cam vorbei, schnappt Risas Hand und schüttelt sie heftig. »Sie können mich Grace oder Gracie nennen, geht beides klar, oder sogar Eleonor, das ist nämlich mein zweiter Vorname. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Miss Ward. Darf ich Sie Risa nennen? Ich weiß alles über Sie, weil mein Bruder, der verehrt Sie sozusagen, na ja, Connor verehrt er noch mehr, aber Sie auch. Obwohl, früher haben Sie anders ausgesehen, aber das ist wahrscheinlich Absicht. Schlau, das mit der Augenfarbe. Die Leute denken immer, es sind die Haare, aber die Augen, die können einen Menschen ganz schön verändern.«

»Das hat die Stylistin, die das gemacht hat, auch gesagt«, erwidert Risa, die Grace’ feurige Rede ein wenig verlegen macht. »Wir können uns gern duzen.«

»Gibt es denn da unten im Keller auch was zu essen? Ich bin am Verhungern.«

Erst später wird Risa bewusst, wie gut Grace mit ihrer Aufdringlichkeit die explosive Situation entschärft hat. Fast, als hätte sie es geplant.