21. Cam
Cams und Robertas Stadthaus in Washington wird die Adresse für Einladungen. Auf den Abendgesellschaften wimmelt es von internationalen Honoratioren, politischen Strippenziehern und Ikonen der Popkultur, die alle Anteil nehmen am Schicksal von Camus Comprix. Zuweilen ist ihre Zuwendung so aggressiv, dass Cam sich fragt, ob sie tatsächlich einen Teil von ihm als Andenken mitnehmen wollen. Er isst mit den gekrönten Häuptern eines kleinen Fürstentums zu Abend, von dem er nicht mal wusste, dass es existierte, bis das Gefolge vor seiner Tür stand. Nach dem Essen macht er eine Jamsession mit keinem Geringeren als dem Superstar Brick McDaniel, dem Künstler, der einem sofort einfällt, wenn man das Wort »Rockstar« hört. Cam ist eigentlich total fasziniert von ihm und ein großer Fan, aber wenn sie nebeneinander auf der Gitarre improvisieren, dann sind sie einander ebenbürtig.
Der berauschende Lebensstil macht süchtig und ist allumfassend. Cam muss sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass dies nicht das Ziel ist und auch nicht der Weg dorthin. Der ganze Glamour lenkt ihn nur von seinen eigentlichen Plänen ab.
Wie kannst du die Menschen verraten, die dir dieses außergewöhnliche Leben ermöglichen?, fragt er sich gelegentlich in schwachen Augenblicken. Zum Beispiel in dem Augenblick, als Brick McDaniel ihn tatsächlich um ein Autogramm bittet. Er muss aufpassen, dass er die Welle reitet und nicht von ihr verschlungen wird.
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Eines Tages nehmen Sie an der Schulabschlussfeier Ihrer Urururenkelin teil. Eines Tages leben Sie in einem fünfhundert Jahre alten denkmalgeschützten Haus …, das drei Jahre nach Ihrer Geburt gebaut wurde. Eines Tages beneiden die Mammutbäume Sie um Ihr Alter. Nehmen Sie sich heute Abend einen Augenblick Zeit, um über all die wundervollen Dinge nachzudenken, die Ihr Leben nicht nur verlängern, sondern lebenswert machen. Wir vom Proaktiven Bürgerforum denken täglich über diese Dinge nach. So tragen wir dazu bei, dass aus ›eines Tages‹ heute wird!
Wir vom Proaktiven Bürgerforum wissen, dass der erste Mensch, der ewig lebt, heute schon auf der Welt ist. Sie!
»Ich werde auf Molokai gebraucht«, teilt Roberta ihm eines Abends mit. Sie ist in den Keller heruntergekommen, wo sie ein komplettes Fitnessstudio für ihn eingerichtet haben. Sein Physiotherapeut aus der Zeit, als er gerade zusammengefügt worden war, hatte immer bemängelt, dass seine Muskelgruppen nicht gut funktionieren und zusammenspielen würden. Wenn er Cam nur jetzt sehen könnte.
»In zwei Tagen bin ich wieder da. Wenn wir mit General Bodeker und Senator Cobb zu Mittag essen.«
Cam lässt sich von ihrer Ankündigung nicht beim Bankdrücken unterbrechen. »Ich will mit«, sagt er und stellt fest, dass er das nicht nur vorgibt. Er will tatsächlich zurück zu dem Haus auf Molokai, das für ihn einem Zuhause näher kommt als alles, was er kennt.
»Nein, das Letzte, was du nach all deiner harten Arbeit brauchst, ist ein Jetlag von Hawaii. Ruh dich hier aus. Konzentriere dich auf deine Sprachstudien, damit du General Bodeker mit deinem Niederländisch beeindrucken kannst.«
Niederländisch gehört nicht zu den neun Sprachen, die er mitbrachte, so dass er es auf die altmodische Weise lernen muss. Dass er Deutsch kann, hilft, aber es ist dennoch eine lästige Arbeit. Ihm ist es lieber, wenn ihm die Dinge zufliegen.
»Dass Bodeker niederländische Vorfahren hat, heißt noch lange nicht, dass er die Sprache spricht«, betont Cam.
»Umso mehr Grund für ihn, beeindruckt zu sein.«
»Geht es in meinem Leben jetzt nur noch darum, den General und den Senator zu beeindrucken?«
»Du hast die Aufmerksamkeit von Menschen, die Dinge beeinflussen. Wenn du willst, dass sie Dinge in deinem Sinne beeinflussen, dann ist die Antwort Ja: Sie zu beeindrucken, sollte dein oberstes Ziel sein.«
Cam lässt die Gewichte geräuschvoll fallen.
»Warum brauchen sie dich auf Molokai?«
»Es ist mir nicht gestattet, das zu sagen.«
Er setzt sich auf und grinst sie spöttisch an: »›Es ist mir nicht gestattet, das zu sagen.‹ Das sollten sie auf deinen Grabstein schreiben: ›Hier ruht Roberta Griswold. Ob in Frieden oder nicht, ist uns nicht gestattet zu sagen.‹«
Roberta findet das nicht witzig. »Spar dir deinen kranken Sinn für Humor für die Mädchen auf, die um dich herumscharwenzeln.«
Cam reibt sich das Gesicht mit einem Handtuch trocken, nimmt einen Schluck Wasser und fragt so unschuldig wie möglich: »Baust du einen besseren Cam?«
»Es gibt nur einen Camus Comprix, mein Lieber. Du bist einzigartig im Universum.«
Roberta ist gut darin, ihm Dinge zu sagen, von denen sie meint, dass er sie hören möchte … Aber Cam ist noch besser darin, darauf nicht reinzufallen. »Dass du nach Molokai fährst, spricht dagegen.«
Roberta formuliert ihre Antwort sehr sorgfältig. Sie redet, als würde sie durch ein Minenfeld steuern. »Du bist einzigartig, aber meine Arbeit endet nicht mit dir. Eine Hoffnung besteht darin, dass Wesen wie du eine neue Spielart der Menschheit sein werden.«
»Warum?«
Das ist eine einfache Frage, aber Roberta scheint fast verärgert darüber. »Warum bauen wir Beschleuniger, um subatomare Teilchen zu entdecken? Warum haben wir das menschliche Genom entschlüsselt? Die Erforschung des Möglichen war schon immer das Reich der Wissenschaft. Die praktische Anwendung überlässt der wahre Wissenschaftler anderen.«
»Wenn dieser Wissenschaftler nicht für das Proaktive Bürgerforum arbeitet«, gibt Cam zu bedenken. »Ich will wissen, inwiefern es ihnen nützt, dass sie mich erschaffen haben.«
Roberta macht eine wegwerfende Handbewegung. »Solange sie mir erlauben, meine Arbeit zu tun, ist mir ihr Geld bei weitem wichtiger als ihre Motive.«
Zum ersten Mal bezeichnet Roberta das Proaktive Bürgerforum als »sie« und nicht als »wir«. Cam fragt sich langsam, ob Roberta wegen des Debakels mit Risa bei der Organisation in Ungnade gefallen ist. Und wie weit sie gehen würde, um ihr Wohlwollen zurückzugewinnen.
Roberta lässt Cam allein, damit er sein Training abschließen kann, aber er ist nicht mehr voll bei der Sache. Allerdings nimmt er sich einen Augenblick Zeit, um seinen Körper in der verspiegelten Wand zu begutachten.
Kurz nachdem Cam zusammengefügt worden war, hatte es keine Spiegel gegeben, denn damals verliefen die Nähte als dicke Wülste über seinen ganzen Körper und waren schrecklich anzusehen. Jetzt sind nur noch feine Linien übrig, so dass er nicht genug bekommen kann von Spiegeln. Wie gern er sich selbst und den Körper, den sie ihm gegeben haben, betrachtet, ist sein größtes heimliches Vergnügen. Er liebt seinen Körper. Aber sich selbst kann er immer noch nicht lieben.
Wenn Risa mich lieben würde – aufrichtig und ohne Zwang –, dann könnte ich diese Kluft überwinden und mich selbst spüren.
Er weiß, was er tun muss, damit es dazu kommt. Und da Roberta jetzt fünftausend Meilen weit weg sein wird, kann er sich langsam an die dazu notwendige Arbeit machen, ohne Angst zu haben, dass sie ihn dauernd kontrolliert. Er zögert schon viel zu lange.
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Wer sind wir? Wir sind die beiden Schritte nach vorn für jeden Schritt zurück. Die Stille zwischen den Schlägen des neuen Herzens Ihres Vaters und die Brise, die die Tränen eines traurigen Kindes trocknet. Wir sind der Hammer, der die Glasdecke der Lebensdauer zerschmettert, und der Nagel im Sarg der tödlichen Krankheit. In einem Meer der Ungewissheit sind wir die Stimme der Vernunft, und während andere in der Vergangenheit festhängen, bemühen wir uns darum, die Zukunft zu leben. Wir sind das frühe Licht der Morgendämmerung. Wir sind das seidene Blau hinter den Sternen. Wir sind das Proaktive Bürgerforum. Und wenn Sie nie von uns gehört haben, dann ist das genau richtig so. Es bedeutet einfach, dass wir unsere Arbeit tun.
Kaum hat die Limousine Roberta am nächsten Morgen weggebracht, macht Cam sich an dem Computer in seinem Zimmer an die Arbeit. Er bewegt die Hände über den großen Bildschirm, als ob er einen Zauber erwirken wollte. Er schafft sich eine nicht nachverfolgbare Identität in der öffentlichen Cloud, die so dicht ist, dass die Welt in ewiger Dunkelheit versänke, wenn sie nicht virtuell, sondern echt wäre. Weil er weiß, dass alles kontrolliert wird, was er tut, hängt er sich an einen besessenen Spieler irgendwo in Norwegen. Wer immer ihn kontrolliert, wird nun denken, er habe auf einmal ein Interesse an Wikingern entwickelt, die Razzien bei Troll-Drogendealern durchführen.
Dann manipuliert er unerkannt in der Cloud die Firewall des Servers vom Proaktiven Bürgerforum, bis sie sich für ihn öffnet und ihm Zugang zu allen möglichen verschlüsselten Informationen gewährt. Aber das Ungeordnete und das Unverbundene zu verstehen, gehört für Cam zu seinem Leben dazu. Er hat es geschafft, in dem gestückelten Chaos seines recycelten Gehirns Ordnung zu schaffen. In dem schützenden Chaos des Proaktiven Bürgerforums eine Ordnung zu erkennen, ist für ihn der reinste Spaziergang.