Die Rheinschilds
»Sie haben unterschrieben. Der Heartland-Krieg ist vorbei.«
Janson Rheinschild zieht die Tür zu, wirft seinen Mantel auf die Couch und sinkt kraftlos in einen Sessel, als hätte sein Körper keine Gelenke mehr. Als wäre er von innen nach außen umgewandelt worden.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagt Sonia. »Niemand, der bei Verstand ist, würde seine Unterschrift unter dieses abscheuliche Umwandlungsabkommen setzen.«
In seinem Blick liegt eine Bitterkeit, die nicht ihr gilt, aber kein anderes Ziel findet. »War in den letzten neun Jahren überhaupt jemand bei Verstand?«
Sie setzt sich auf die Armlehne der Couch, ganz dicht neben ihn, und nimmt seine Hand. Er greift so verzweifelt danach, als könnte nur diese Hand ihn vor dem Sturz in den Abgrund bewahren.
»Der neue Vorsitzende vom Proaktiven Bürgerforum, dieser narzisstische Betrüger Dandrich, hat mich angerufen, bevor sie eine offizielle Erklärung abgegeben haben. Er wollte mich informieren, dass das Abkommen unterzeichnet ist. ›Aus Respekt‹ sollte ich es als Erster erfahren, hat er gesagt. Aber du weißt so gut wie ich, dass er es nur aus Schadenfreude getan hat.«
»Quäl dich nicht, Janson. Das hat keinen Sinn. Du trägst keine Schuld, und du kannst es nicht ändern.«
Er zieht die Hand weg und schaut sie finster an. »Du hast recht, es ist nicht meine Schuld. Es ist unsere Schuld. Wir haben das zusammen getan, Sonia.«
Sie reagiert, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Sie wendet sich nicht nur ab, sondern steht auf und geht im Zimmer auf und ab. Gut, denkt Janson. Soll sie ruhig ein bisschen von dem spüren, was ich spüre.
»Ich habe nichts Falsches getan«, beharrt sie, »und du auch nicht!«
»Wir haben es überhaupt erst möglich gemacht! Das Umwandeln basiert auf unserer Technologie! Auf unserer Forschung!«
»Aber man hat sie uns gestohlen!«
Janson steht auf. Er kann es nicht ertragen, nur einen Moment länger sitzen zu bleiben. Sitzen fühlt sich an wie Zustimmung. Wie das Eingeständnis seines Scheiterns. Als Nächstes sinkt er womöglich noch mit einem Drink in der Hand in den Sessel zurück, schwenkt das Glas, dass das Eis klirrt, und spürt, wie der Alkohol ihn betäubt und er aufgibt.
Nein, so ist er nicht. So wird er nie sein.
Auf der Straße ertönt Geschrei. Er schaut aus dem Wohnzimmerfenster und sieht ein paar randalierende Jugendliche aus der Nachbarschaft. »Streuner« werden sie heutzutage in den Nachrichten genannt. Brutale Teenager. »Man muss etwas gegen die brutalen Jugendlichen unternehmen, die dieser Krieg hervorgebracht hat«, blöken die Politiker in ihren parlamentarischen Pferchen. Aber was hatten sie erwartet, wenn alles Geld für den Krieg ausgegeben wurde statt für die Bildung? Wussten sie nicht, dass das öffentliche Bildungssystem scheitern würde? Was hatten sie erwartet? Dass diese Kids etwas anderes mit ihrer freien Zeit anfangen würden, als Ärger zu machen, so ganz ohne Schule und Arbeit?
Der Mob auf der Straße – wenn man die vier oder fünf Jugendlichen überhaupt schon als Mob bezeichnen kann – passiert das Haus ohne Zwischenfall. Sie hatten noch nie Ärger vor ihrem Haus gehabt, obwohl es als einziges in der Straße weder Gitter vor den Fenstern noch ein eisernes Sicherheitstor hat. Andererseits sind schon viele Sicherheitstore in der Straße beschädigt worden. Diesen Kids mangelt es seit den Schulschließungen vielleicht an Bildung, aber dumm sind sie nicht. Sie sehen das Misstrauen, das ihnen überall entgegenschlägt. Und das treibt sie nur noch mehr dazu an, ihrem Zorn freien Lauf zu lassen. »Was fällt euch ein, uns zu misstrauen?«, signalisiert ihre Gewalttätigkeit. »Ihr kennt uns doch gar nicht.« Aber die Menschen sind so in ihre ängstlichen Sicherheitsvorkehrungen vertieft, dass sie es nicht hören.
Sonia tritt jetzt von hinten an ihn heran und schlingt die Arme um ihn. Er möchte ihren Trost annehmen, aber er kann es nicht. Er ist untröstlich und wird erst Frieden finden, wenn er seinen schrecklichen Fehler wiedergutgemacht hat.
»Vielleicht ist es wie damals im Kalten Krieg«, sagt Sonia.
»Wie meinst du das?«
»Sie haben eine neue Waffe«, erklärt sie. »Die Umwandlung. Vielleicht reicht schon die Drohung damit aus. Vielleicht werden sie sie nie wirklich einsetzen.«
»Bei einem Kalten Krieg sind wenigstens die Kräfte gleichmäßig verteilt. Aber was haben diese Kids den Behörden, die sie umwandeln, entgegenzusetzen?«
Sonia seufzt, weil sie ihn endlich versteht. »Nichts. Nicht das Geringste.«
Jetzt kann er sich ein bisschen damit trösten, dass sie ihn versteht. Dass nicht er allein die finsteren Abgründe sieht, die sich durch das neue Gesetz auftun könnten.
»Noch ist es nicht geschehen«, erinnert sie ihn. »Noch wurde kein einziger Streuner umgewandelt.«
»Klar«, antwortet Janson. »Weil das Gesetz erst um Mitternacht in Kraft tritt.«
Und so verbringen sie den restlichen Abend zusammen und halten einander fest, als wäre es der letzte Abend der Zivilisation. Denn genaugenommen ist er es auch.