15. Starkey
»Halt still«, sagt Bam. »Wenn du das Zeug in die Augen kriegst, brennt es wie Hölle.«
Auf dem Campingplatz ist es längst dunkel. Im kollektiven Lichtkegel von vier Taschenlampen, gehalten von vier Jugendlichen, sitzt Starkey auf einem Gartenstuhl und hat den Kopf in den Nacken gelegt. Ein Junge hält einen Eimer mit Wasser, ein anderer die Handtücher. Bam trägt Gummihandschuhe und schmiert eine scharfriechende Lösung in Starkeys Haare, die sie dann gründlich einmassiert.
»Ist das zu fassen? Der Typ wollte uns wirklich erpressen!« Starkey schließt die Augen.
»Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als du den Spieß umgedreht hast.«
»Das war ein Klassiker. Und er beweist, dass unser Notfallplan funktioniert.«
»Jeevan verdient einen Orden«, schlägt einer der Taschenlampenhalter vor.
»Aber Whitney hat das Foto gemacht«, wendet der Junge mit dem Wassereimer ein.
»Aber Jeevan hatte die Idee.«
»Hey«, sagt Starkey. »Euch hab ich nicht gefragt.«
Starkey hat Jeevan die Verantwortung für die Spionage übertragen. Er ist ein schlauer Kerl mit Computerkenntnissen, der gut vorausdenken kann. Es war tatsächlich Jeevans Idee gewesen, Informationen über die Menschen zusammenzutragen, mit denen sie zu tun haben. Was jedoch mit diesen Informationen geschieht, liegt allein in Starkeys Ermessen. In diesem Fall war Erpressung die richtige Maßnahme gegen Erpressung, und der Mann hatte klein beigegeben, wie Starkey vorhergesehen hatte. Schon die vage Andeutung, dass seinen geliebten Kindern etwas zustoßen könnte, hatte ausgereicht. Unglaublich. Starkey ist immer wieder erstaunt, wie weit die Gesellschaft geht, um die Kinder zu schützen, die sie liebt, und diejenigen auszumustern, die sie nicht liebt.
»Wohin gehen wir als Nächstes?«, fragt der Junge mit dem Handtuch. Starkey öffnet ein Auge, denn das andere fängt schon an zu brennen. »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Du wirst es erfahren, wenn wir dort angekommen sind.«
Als Anführer des Storch-Clubs auf dem Friedhof hatte Starkey die Kunst der Kontrolle von Informationen gelernt. Im Gegensatz zu Connor, der alle Informationen bereitwillig teilte, als er den Friedhof führte, gibt Starkey Informationen nur in mundgerechten Häppchen weiter, und auch nur dann, wenn es unbedingt notwendig ist.
Seit ihr Flugzeug vor fast drei Wochen in den Saltonsee gestürzt ist, hat es der Storch-Club nicht leicht gehabt. Zumindest nicht am Anfang. In jenen ersten Tagen versteckten sie sich in den kahlen Bergen oberhalb des Sees. Sie drängten sich in niedrigen Höhlen und Spalten zusammen, damit die Aufklärungsflugzeuge sie nicht entdeckten. Aber bald würde auch am Boden nach ihnen gesucht werden, und deshalb mussten sie möglichst rasch weit weg von hier. Aber sie kamen nur nachts und zu Fuß weiter.
Starkey hatte im Vorfeld nicht darüber nachgedacht, wie er an Nahrung oder Unterkunft oder Erste Hilfe für die Jugendlichen kommen würde, die beim Absturz verletzt worden waren. Deshalb verlegten sie sich darauf, die Supermärkte direkt an der Straße zu plündern. Dadurch konnten aber die Behörden nach den Überfällen immer ihren Standort bestimmen.
Es war eine Feuerprobe für Starkey, aber er überwand die Flammen, und dank ihm blieben sie am Leben und wurden nicht gefasst. Er regierte diese Kids mit eiserner Faust, obwohl seine Hand zertrümmert war. Diese Hand ist jetzt die Art von Kriegsverletzung, aus der Legenden geboren werden. Sie hat ihm noch mehr Respekt verschafft, denn wer so hart ist, dass er sich selbst die Hand zertrümmert, um seinen Trupp zu retten, der ist zu allem fähig.
In Palm Springs waren sie auf ein geschlossenes Hotel gestoßen, das noch nicht abgerissen worden war, und hier wendete sich ihr Schicksal. Der Ort lag so einsam, dass sie sich dort verkriechen und einen Überlebensplan ausdenken konnten, der effektiver war, als 7-Eleven-Supermärkte auszurauben.
Starkey schickte zunächst kleine Teams los, für die er Jugendliche auswählte, die nicht gleich verdächtig aussahen. Sie stahlen Kleider aus unbeaufsichtigten Wäschekammern und Lebensmittel direkt von den Laderampen der Supermärkte.
Sie blieben fast eine Woche, bis ein paar ortsansässige Jugendliche sie entdeckten. »Ich bin auch ein Storch«, sagte einer von ihnen. »Wir verraten euch nicht, Ehrenwort.«
Aber Kindern, die aus liebenden Familien kommen, hatte Starkey noch nie getraut. Und gegen Storche, die von ihren Adoptiveltern wie das eigene Fleisch und Blut geliebt werden, hat er eine besondere Abneigung. Er kennt die wichtigsten statistischen Fakten im Zusammenhang mit der Umwandlung. Er weiß, dass neunundneunzig Prozent aller gestorchten Kinder in freundlichen, liebevollen Familien leben, wo Umwandlung einfach kein Thema ist. Aber wenn man zu dem verbliebenen Prozent gehört und von anderen verlassenen Kids umgeben ist, sind diese liebevollen Familien einfach zu weit weg, um einen Unterschied zu machen.
Und dann hatte Jeevan einen genialen Einfall. Er zapfte die Bankkonten der Storch-Club-Eltern an, denn ziemlich viele Kids kannten die Passwörter ihrer Adoptiveltern oder konnten sie erschließen. Alle Transaktionen wurden mit wenigen Klicks sofort durchgeführt, und im Handumdrehen hatte der Storch-Club mehr als siebzehntausend Dollar auf einem Konto in Übersee angehäuft. Um auf das Konto zuzugreifen, musste es nur mit einer gefälschten Geldkarte verlinkt werden.
»Irgendwo wird irgendwer mal genauer hinschauen«, hatte Jeevan zu Starkey gesagt, »aber der landet am Ende nicht bei uns, sondern bei Raymond Harwood.«
»Wer ist Raymond Harwood?«
»Ein Typ, der mich in der Mittelstufe immer geärgert hat.«
Das hatte Starkey zum Lachen gebracht. »Hab ich dir schon mal gesagt, dass du ein Kriminalgenie bist, Jeevan?«
Aber Jeevan schien dieser Gedanke unangenehm zu sein. »Na ja, man hat mir schon gesagt, dass ich ein Genie bin …«
Starkey hat sich oft gefragt, warum Jeevans Eltern einen so intelligenten Jungen umwandeln lassen wollten, aber es ist eine unausgesprochene Regel, dass man diese Frage nicht stellt.
Das Geld gab den Storchen ein bisschen Freiheit, denn mit Geld kann man Legitimität kaufen. Sie brauchten nur eine einfache Tarnung, eine Täuschung, die niemand anzweifeln würde, und wenn Starkey als Amateurzauberer eines beherrscht, dann die Kunst der Täuschung. Der Irreführung. Wie jeder Zauberer weiß, folgt das Publikum immer der Hand, die sich bewegt, und glaubt so lange, was dem Auge vorgeführt wird, bis es einen triftigen Grund gibt, das nicht zu tun.
Camp »Red Heron« war ein Geistesblitz von Starkey. Um die Täuschung perfekt zu machen, bedurfte es nur hundertdreißig Camp-T-Shirts, Poloshirts fürs »Personal« und ein paar passender Kappen als i-Tüpfelchen. Als Camp »Red Heron« konnten sie in Zügen und sogar in Charterbussen reisen, denn die Täuschung funktionierte, weil sie den anderen Menschen etwas vorgaukelten: Alle sahen nur ein Camp auf einem Ausflug, und das verleibten sie ihrer Wirklichkeit ein, ohne weiter darüber nachzudenken. Ironischerweise war ihre Tarnung umso besser, je lauter und sichtbarer sie waren. Selbst wenn die Leute in den Nachrichten einen Bericht über die Bande flüchtiger Wandler sahen, konnte Camp »Red Heron« ausgelassen und rotzfrech direkt an ihnen vorbeimarschieren, und niemand, nicht einmal die Polizei, zuckte auch nur mit der Wimper. Wer hätte gedacht, dass es so befriedigend sein könnte, sich mitten in der Öffentlichkeit zu verstecken?
Ganz oben auf der Tagesordnung stand, Südkalifornien zu verlassen und zu einem Ort zu gehen, wo die Behörden nicht nach ihnen suchten. Starkey hatte von der Wüste für den Rest seines Lebens die Nase voll und befand, dass sie mit dem Zug nach Norden zu grüneren und saftigeren Weiden aufbrechen sollten. Auf ihrem ersten Campingplatz in der Nähe von Monterey hatten sie keinerlei Probleme. Dann reisten sie weiter nach Norden und reservierten einen Platz auf dem Redwood- Bluff-Campingplatz. Bis jetzt war alles gutgegangen, aber auch die heutige Krise wurde gemeistert.
Bam hat das Bleichmittel inzwischen aus Starkeys Haaren ausgespült, und der Handtuchjunge beeilt sich, die Haare trockenzurubbeln.
»Und wenn der Campingplatzmanager petzt? Tust du seinen Kindern dann wirklich was?«, fragt Bam.
Starkey ist sauer, dass sie eine solche Frage in Gegenwart der Taschenlampen, des Handtuchs und des Wassereimers stellt.
»Er wird nicht petzen.« Starkey wuschelt durch seine Haare.
»Und wenn doch?«
Starkey dreht sich zu dem Handtuchjungen um. Er gehört zu den jüngeren Groupies, die immer um Starkeys Gunst buhlen. »Was sage ich immer?«
Der Junge schaut ihn erschrocken an, weil er unerwartet examiniert wird: »Äh … Schall und Rauch?«
»Genau! Alles Schall und Rauch.«
Das ist seine einzige Antwort für Bam, und auch diese Antwort ist nur ein diffuses Ausweichen, eine Nichtantwort, ohne auf die Frage einzugehen. Würde er ihnen etwas antun? Auch wenn Starkey lieber nicht darüber nachdenkt – er würde alles Nötige tun, um seine Storche zu beschützen. Selbst wenn das bedeutet, an jemandem ein Exempel zu statuieren.
»Apropos Schall und Rauch – schau mal in den Spiegel.« Bam hält ihm einen Spiegel hin, den sie von einem Auto abgerissen hat.
Um sich ganz zu sehen, muss er den Spiegel hin und her kippen. »Gefällt mir«, sagt er.
»Platinblond steht dir gut. Ziemlich surfermäßig.«
»Aber so ein Surfer-Typ wirkt auf Erwachsene nicht gerade vertrauenerweckend«, überlegt Starkey. »Schneid sie kurz. Kurz und ordentlich. Ich will aussehen wie ein Eagle Scout.«
»Du wirst nie ein Eagle Scout sein, Starkey.« Sie grinst, und ein paar andere lachen. Er fühlt sich verletzt, aber er zeigt es nicht. Als Kind interessierte er sich zunächst vor allem deshalb für Zauberei, weil sie als Verdienstabzeichen der Pfadfinder wertvoll war. Komisch, wie sich die Dinge manchmal ändern.
»Mach es einfach, Bambi.« Wie erwartet verfinstert sich ihre Miene. Die andern lachen lieber nicht über ihren richtigen Namen, weil sie nicht ihren gefürchteten Zorn auf sich ziehen wollen.
Als Bam fertig ist, könnte Starkey als netter Junge von nebenan durchgehen, wenn er lächelt. Oder als Hitlerjunge, wenn er nicht lächelt. Seine Kopfhaut brennt immer noch von dem Bleichmittel, aber das ist kein schlechtes Gefühl. »Übrigens bin ich nicht der Einzige, der seine Identität verändern muss«, sagt er zu Bam, als die andern weg sind.
Sie lacht. »Meine Haare fasst niemand an.«
Bams Haare sind so kurz, dass sie nicht viel Pflege benötigen. Sie trägt Männerkleidung, weil sie Zimperlichkeit verachtet. Ein einziges Mal machte sie sich an Starkey ran, der sie aber gleich abblitzen ließ. Ein anderes Mädchen wäre vielleicht eingeknickt und hätte sich in seiner Gegenwart sehr unbehaglich gefühlt, aber Bam ging locker damit um und machte einfach weiter wie vorher. Selbst wenn Starkey sich zu ihr hingezogen gefühlt hätte, wäre es keine gute Idee gewesen, diesem Gefühl nachzugeben. Er ist nicht so blöd zu denken, eine Beziehung hier in der »Wildnis« könnte von Dauer sein. Außerdem wäre es leichtsinnig, das Verhältnis zu seinem Zweiten Offizier auf diese Art und Weise zu verkomplizieren. Was andere Mädchen betrifft, ist die Tatsache, dass er jede haben kann, die er will, ein Vorteil seiner Position, den er aber nur bewusst vorsichtig und diskret ausnutzt. Allen Mädchen – und allen Jungen, die offensichtlich Interesse haben – schenkt er dasselbe Maß an Blickkontakt und Lächeln. Dies alles ist Teil seiner raffinierten Kontrolle. Lass sie alle denken, sie wären etwas Besonderes. Lass sie denken, sie könnten mehr sein als nur ein Gesicht in der Menge. Diese kleinen Berührungen sind von enormer Bedeutung. Die Illusion der Hoffnung in Verbindung mit einer gesunden Angst vor ihm sorgt dafür, dass kein Storch aus der Reihe tanzt.
»Ich meine nicht deine Identität, Bam«, sagt Starkey. »Ich meine unsere. Dieser Typ hat herausbekommen, wer wir sind. Wir können nicht mehr als Camp ›Red Heron‹ auftreten. Das ist zu unsicher.«
»Wir wär’s mit einer Schule? Das bringt uns nicht nur durch den restlichen Sommer, sondern funktioniert auch, wenn das Schuljahr wieder losgeht.«
»Phantastische Idee. Lass uns eine Privatschule draus machen. Was Exklusives.« Starkey geht im Kopf alle storchähnlichen Tiere durch. »Wir werden uns ›Egret Academy‹ nennen, die ›Fischreiher-Akademie‹.«
»Wunderbar!«
»Dieses Kunst-Mädel, wie heißt sie nochmal? Die soll wieder das T-Shirt entwerfen, aber nicht so knallige Farben. In der Egret Academy gibt’s nur Beige und Waldgrün.«
»Darf ich mir die Geschichte der Schule ausdenken?«
»Tu dir keinen Zwang an.«
Es ist nur ein schmaler Grat zwischen dem Akt, sich in aller Öffentlichkeit zu verstecken, und andererseits mit ihrem Status als Bande von Flüchtlingen zu protzen. Aber Starkey versteht es, wie ein Drahtseilkünstler immer am Abgrund der Illusion zu balancieren.
»Lass sie so echt klingen, dass die JuPos darauf reinfallen, wenn wir welchen begegnen.«
»Die ganze Jugendbehörde besteht nur aus Idioten.«
»Nein, eben nicht«, widerspricht Starkey. »Genau so eine Denkweise führt dazu, dass wir geschnappt werden. Sie sind schlau, deshalb müssen wir schlauer sein. Und wenn wir zuschlagen, müssen wir hart zuschlagen.«
Seit ihrer unseligen Flucht sind keine Storche mehr befreit worden. Solange sie noch auf dem Flugzeug-Friedhof gewesen waren, hatte Starkey ein paar Storche, die umgewandelt werden sollten, gerettet, aber da hatte Connor eine Liste aller Jugendlichen gehabt, die zur Umwandlung abgeholt werden sollten. Ohne eine solche Liste kann er unmöglich wissen, wer gerettet werden muss. Aber das ist in Ordnung, denn die Rettung Einzelner und das Anzünden ihrer Elternhäuser ist als Warnung schön und gut, aber Starkey ist zu sehr viel wirkungsvolleren Maßnahmen fähig.
In seiner Hosentasche steckt eine Broschüre für ein Ernte-Camp, die er herauszieht, wenn er eine Erinnerung braucht. Wie in allen Ernte-Camp-Broschüren ist eine wunderschöne, ländliche Gegend abgebildet und Teenager, die vielleicht nicht gerade glücklich aussehen, aber offensichtlich zufrieden mit ihrem Schicksal sind.
Eine bittersüße Reise, so die Broschüre, berührt viele Leben.
»Gibst du endlich auf, Starkey?«, fragt Bam, als sie ihn ein bisschen später an diesem Abend bei der Lektüre der Broschüre erwischt. »Endlich bereit, umgewandelt zu werden?«
Er geht nicht auf ihre Anspielung ein. »Dieses Ernte-Camp liegt in Nevada, nördlich von Reno«, erzählt er ihr. »Nevada hat die schwächste Jugendbehörde im ganzen Land. Aber auch die höchste Konzentration von Storchen, die auf die Umwandlung warten. Aber stell dir vor: In diesem speziellen Ernte-Camp gibt es zu wenige Chirurgen. Die Einrichtung ist schon überbelegt, aber sie können sie nicht schnell genug umwandeln.« Dann grinst er sie verschwörerisch an. Er hat das jetzt lange genug für sich behalten. Es ist an der Zeit, den Samen ruhmreicher Ziele auszubringen. Da kann er auch bei Bam anfangen.
»Wir überfallen nicht mehr einzelne Häuser und befreien nur einen Storch«, klärt Starkey sie stolz auf, »sondern wir befreien ein ganzes Ernte-Camp.«
Und Gott stehe jedem bei, der ihm dabei in die Quere kommt.