7. Grace

Grace Eleanor Skinner fürchtet den Tod wie jeder andere. Und Schmerzen fürchtet sie noch viel mehr. Vor langer Zeit hatte Argie sie in den Ferien einmal gezwungen, auf den Sprungturm zu steigen. Sie hatte ihre ganze Willenskraft bereits für Wasserrutschen und Ähnliches verschleudert. Als sie dann auf den Zehn-Meter-Turm kletterte, war sie schwach. Das Schwimmbecken unter ihr sah klein aus und sehr weit weg. Der Aufprall auf das Wasser würde weh tun. Während sie oben stand und die Zehen um den Betonrand unter ihren Füßen krallte, hatte Argie sie von unten fertiggemacht.

»Sei nicht so ein blöder Feigling«, schrie er, so dass alle es hören konnten. »Denk nicht nach, spring einfach.«

Die anderen hinter ihr wurden ungeduldig.

»Gracie, spring schon! Die anderen sind schon alle sauer auf dich!« Schließlich hatte Grace gekniffen und war beschämt die Leiter wieder hinuntergeklettert.

Und genauso fühlt es sich heute an. Nur dass die Bedrohung sehr viel realer ist. Argies Worte von damals fallen ihr wieder ein. Denk nicht nach, spring einfach. Diesmal folgt sie seinem Rat.

Sie stößt die Kellertür auf und stürmt ins Tageslicht hinaus. Das ist ein Spiel, sagt sie sich. Und Spiele gewinne ich.

Im Garten sind Scharfschützen, aber zunächst sehen sie sie nicht. Ihre Mündungen sind auf das Haus gerichtet, und der Keller befindet sich am hinteren Ende des Gartens. Sie sind noch nicht hineingegangen. Die Kampftruppe bringt sich noch in Stellung.

»Nicht schießen! Nicht schießen!«, ruft Grace und rennt in den verwilderten Garten. Die Scharfschützen richten ihre Gewehre sofort auf sie. Und diese sind wahrscheinlich nicht mit Betäubungspatronen geladen.

»Nicht schießen«, sagt sie noch einmal. »Hier lang. Er ist hier. Nicht schießen!«

»Auf den Boden!«, befiehlt einer der Scharfschützen. »Sofort auf den Boden!«

Aber nein. Regel Nummer eins: Lass nie zu, dass eine deiner Figuren geschlagen wird, wenn es dir keinen Vorteil bringt.

»Hier lang! Mir nach!« Sie dreht sich um und rennt, immer noch mit den Armen fuchtelnd, zurück zum Keller. Fast erwartet sie, erschossen zu werden, aber sie schießen nicht. Sie rennt die Treppe in den Keller hinunter und wartet. Einen Augenblick später sind die Scharfschützen da, geben einander Deckung und zielen auf sie und in das Halbdunkel des Kellers. Wie Soldaten in feindlichem Gelände. Obwohl Grace am liebsten schreien möchte und das Gefühl hat, ihr Herz würde gleich explodieren, sagt sie ganz ruhig: »Sie brauchen keine Gewehre. Er ist nicht bewaffnet.«

Die Scharfschützen weichen immer noch nicht von der Stelle, sondern decken einen Beamten in Zivil, der ihnen die Treppe hinunter folgt.

»Ich wusste, dass es keine gute Idee war«, sagt Grace zu ihm. »Ich hab’s Argie gleich gesagt, aber er wollte nicht hören.«

Der Beamte mustert Grace abschätzig von Kopf bis Fuß, wie alle es tun. Er hält sie sofort für minderbegabt und tätschelt ihre Schulter. »Sie haben alles richtig gemacht, Miss.«

Weitere Polizisten kommen in den Keller, und es wird voll.

Die an den Pfosten gefesselte Gestalt ist schlapp und nur halb bei Bewusstsein. Der leitende Beamte greift in ihre Haare, hebt den Kopf an und schaut ihr ins Gesicht.

»Wer zum Teufel ist das?«

»Mein Bruder, Argent«, erwidert Grace. »Ich habe ihm gesagt, er soll die Sachen nicht im Supermarkt klauen. Ich habe ihm gesagt, dass er gewaltige Schwierigkeiten bekommen wird. Ich habe ihn bewusstlos geschlagen und gefesselt. Ich musste ihn verletzen, verstehen Sie, damit er nicht erschossen wird. Er leistet keinen Widerstand, richtig? Also werden Sie schonend mit ihm umgehen, ja? Tun Sie das? Sagen Sie mir, dass Sie schonend mit ihm umgehen!«

Der Polizist ist jetzt nicht mehr freundlich zu Grace, sondern schaut sie wütend an. »Wo ist Lassiter?«

»Wer?«

»Connor Lassiter!« Dann zieht er das Foto von Argent mit dem Flüchtling aus Akron heraus, das er sich wahrscheinlich aus dem Internet runtergeladen hat.

»Ach, das. Argie hat es am Computer zusammengebastelt. Es war ein Gag für seine Freunde. Sieht echt aus, was?«

Die anderen Polizisten schauen sich an. Der Einsatzleiter ist keineswegs erfreut. »Und das soll ich glauben?«

Grace schüttelt ihren Bruder an der Schulter. »Argie, sag es ihnen.«

Grace wartet. Argie hat zwar viele Fehler, aber wenn es um Selbsterhaltung geht, ist er ziemlich gut. Wie Connor schon sagte: Freihilfe, oder wie das noch mal heißt, ist ein ernsthaftes Verbrechen. Aber nur, wenn man sich erwischen lässt.

Argent funkelt Grace aus seinen blutunterlaufenen Augen finster an. Er strahlt einen Hass auf seine Schwester aus, der tödlich werden könnte, wenn er nicht gefesselt wäre. »Das stimmt«, knurrt er. »Das Foto war ein Gag. Für meine Freunde.«

Das will der Polizist eigentlich nicht hören. Die anderen Männer hinter seinem Rücken lachen leise in sich hinein.

»Also gut.« Er legt das letzte bisschen Autorität in seine Stimme, das ihm noch geblieben ist. »Bindet ihn los und bringt ihn in ein Krankenhaus. Und durchkämmt trotzdem das Haus. Sucht die Originaldatei. Ich will, dass dieses Foto analysiert wird.«

Dann schneiden sie Argies Fesseln durch und zerren ihn aus dem Keller heraus. Er beklagt sich nicht, leistet keinen Widerstand und würdigt Grace keines Blickes.

Einer der ortsansässigen Polizisten bleibt zurück, nachdem die anderen gegangen sind, und betrachtet den Lebensmittelvorrat. »Und das hat er alles gestohlen, hä?«

»Wollen Sie ihn immer noch verhaften?«

Der Polizist fängt an zu lachen. »Nicht heute, Gracie.«

Jetzt erkennt sie ihn. Sie ist mit ihm zur Schule gegangen. Er hat sie immer gehänselt, aber offenbar ist er milder geworden oder hat wenigstens das Böse in sich zum Guten verwandelt.

»Danke, Joey.« Sein Name ist ihr eingefallen – hoffentlich der richtige.

Grace denkt schon, er würde jetzt gehen, aber er wirft einen zweiten Blick auf den Notfallvorrat an Lebensmitteln. »Ganz schön viele Kartoffeln.«

Grace zuckt zögernd mit den Achseln. »Ja? Na ja, Kartoffeln sind Kartoffeln.«

»Manchmal ja und manchmal nein.« Dann zieht er seine Pistole, während er den Blick auf den großen Stapel mit Kartoffelsäcken gerichtet hält. »Aus dem Weg, Gracie.«